
© Carsten Sander
Gesangvereine lösen sich auf – doch andere Chöre boomen
Chorgesang
Immer mehr Gesangvereine lösen sich auf. Dabei haben viele Menschen Lust aufs Singen. Wenn es ums Singen im Chor geht, sieht das aber anders aus. Es sei denn, der Chor geht mit der Zeit.
Gerade in der Vorweihnachtszeit singen viele Menschen gern gemeinsam: zu Hause bei Kerzenschein, aber auch bei Mitsingkonzerten in den großen Stadien auf Schalke oder in Dortmund, wo tausende Fremde zusammen kommen. Das Singen im organisierten Verein mit regelmäßigen Proben und Konzerten tut sich schwerer: Der Kolpingchor Castrop-Rauxel Zentral wurde gerade 120 Jahre alt. Er wird noch einmal auftreten, dann löst er sich auf. Wie passen diese Entwicklungen zusammen?
Männergesangvereine sterben aus
Früher gehörten Männergesangvereine (MGV) zu fast jedem Dorf und jedem Stadtteil. Heute stirbt diese Tradition aus. Jede Woche Lieder üben, die man schon vor 50 Jahren sang, und anschließend in die Kneipe gehen, um Karten zu kloppen: Das passt offensichtlich nicht mehr in die Zeit. Zumal es auch viele Kneipen nicht mehr gibt.
Der MGV Eintracht Ickern ist so ein Fall: „Die Mitglieder werden älter, und mit dem Alter kommen die Krankheiten“, sagt der Vorsitzende Günther Sczyslo. Fünf Männer starben in den vergangenen drei Jahren. Nur einer kam neu dazu. Heute sind noch zehn Mitglieder aktiv. Um Konzerte zu singen, schließt sich der Chor mit dem befreundeten Frauenchor Eintracht zusammen.

Der MGV Eintracht schließt sich für Konzerte mit dem Frauenchor Eintracht zusammen. Allein könnte man nicht mehr auftreten. © Volker Engel
Es mangelt an Ideen
Auf die Frage, wie es weiter gehen soll und wie lange es noch geht, weiß Sczyslo keine Antwort. Es erweckt den Anschein, dass es an Ideen mangelt, wie man den Verein für die Zukunft aufstellen kann. Auf große Resonanz sei beim MGV Eintracht ein Mitsingkonzert gestoßen: Es war gut besucht. Anmeldungen für den Verein danach: keine.
Genau diese Tendenz stellt auch Prof. Michael Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrats, fest: „Die Bindungsfähigkeit an einen Chor für eine lange Zeit mit festen Strukturen – einmal die Woche drei Stunden Probe, anschließend in die Kneipe – nimmt ab“, sagt er. Gleichzeitig steige die Zahl der Projektchöre.
Ein gelungenes Beispiel
Der Chor Gospel-Voices aus dem Castrop-Rauxeler Ortsteil Schwerin schert da eigentlich aus – er ist vielleicht ein Sonderfall: Knapp 40 Personen, vor allem Frauen von Mitte 20 bis 70 Jahre, proben an diesem Mittwochabend Mitte Dezember im Dietrich-Bonhoeffer-Haus am Weißdorn. Die meisten Mitglieder sind schon eine Viertelstunde vor Probenbeginn da. Die Stimmung ist gelöst, auch wenn bald das Konzert ansteht. Das traditionelle, das am 4. Adventssonntag (23. Dezember), wenn sie auf der anderen Straßenseite in der Johanneskirche auf Schwerin zu hören sind: Gospel X-Mas.
Schwarze Kleidung, bunte Schals: So treten sie immer auf. Einige Übergänge sitzen noch nicht hundertprozentig, sie haben also noch Arbeit vor sich. Aber sie sind ja auch nicht schon 120 Jahre dabei, und sie singen nicht seit 50 Jahren dieselben Lieder. Chorleiter Rainer Fercke gründete den Chor 1999 als Kirchenchor der evangelischen Gemeinde. Und er hat mit den Sängern eine Transformation geschafft: Seit 2011 steht er im Vereinsregister, also auf eigenen Beinen. Über Mitgliederschwund kann sich die Vorsitzende Alexandra Dallmann nicht beklagen: „Die Zahl schwankt zwischen 40 und 50. Darunter sind so gut wie keine Karteileichen“, sagt sie.
Fast nur englische Lieder
Zum Repertoire von Gospel-Voices gehören fast ausschließlich englische Lieder. Zwei Konzerte im Jahr sind das Ziel, erklärt Rainer Fercke. Dazu kommen mehrere Projekte, an denen der Chor mitwirkt, zum Beispiel im vergangenen Lutherjahr zum Reformationstag. Zu privaten Veranstaltungen wie Geburtstagen und Hochzeiten wird er auch gebucht. Um das Gemeinschaftgefühl zu stärken, gibt es neben Proben und Konzerten Exkursionen. Oder auch mal einen Grillabend.
Gemeinschaft ist alles. Wie bei den großen Mitsingkonzerten. Wie einst bei den Männergesangvereinen. Nur anders.
Jahrgang 1979. Kind der Metropole Ruhr. Seit 2017 für Sie im Dortmunder Westen vor Ort. Nah an den Menschen und immer neugierig.
