Marta, ihr Mann und sechs Kinder wohnen in einer Dreizimmerwohnung an der Langen Straße. In Rumänien hatten sie nur zwei Zimmer. Dieser Platz reicht aus. Sie sind glücklich, hier zu sein.
Der Eingang des Hauses an der Langen Straße 107 ist dunkel, das Licht funktioniert nur teilweise. Im Schummerlicht sind jede Menge Kinderwagen und Kinderfahrräder zu erkennen, die in eine Ecke gedrängt sind.
Den dunklen Hausflur nach oben, vorbei an kaputten Glastüren, öffnen Marta und Constantin ihre Wohnungstür. Freundlich und etwas unsicher begrüßen sie die Gäste. Marta hat ihr wenige Wochen altes Baby auf dem Arm. Die Zwillingsschwester liegt im Gitterbett und schläft.
Acht Personen wohnen auf 70 Quadratmetern
Die Wohnung der rumänischen Familie ist gemustert. Die Wände tragen auffällige Tapeten und auch die Teppiche ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Jedes der drei Zimmer besticht mit unterschiedlichen Tapeten. Acht Personen wohnen in der 70 Quadratmeter großen Wohnung in drei Zimmern. In Rumänien hatten sie nur zwei Zimmer. Marta spricht davon, dass es hier im Gegensatz zur Heimat wie im Paradies sei. Zurück nach Rumänien möchte die Familie auf keinen Fall.
Eigentlich wären sie zu zehnt, aber die beiden ältesten Jungs sind derzeit in Rumänien. Der 19-Jährige, weil er dort bleiben wollte, und der 14-Jährige, weil er in Deutschland Probleme in der Schule gehabt hat. Er ging gar nicht hin.

Die Wohnung der Großfamilie ist bunt. Wände und Böden konkurrieren um die Aufmerksamkeit der Betrachter. © Victoria Maiwald
In Rumänien gab es keine Perspektive für die Familie
Das Gespräch mit Marta und Constantin geht nur über einen Dolmetscher. Zwar verstehen sie schon einiges, aber sie trauen sich noch nicht so recht, auf Deutsch zu antworten. Die 35-jährige Marta und der 37-jährige Constantin sind vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen. In ihrer Heimat Rumänien in der Stadt Botosani haben sie keine Perspektive für sich und ihre Kinder gesehen. Mehr als 10 Euro am Tag haben sie oft nicht verdient. Und das für eine zehnköpfige Familie. Martas Schwester lebte schon in Deutschland. Auch sie wohnt in Castrop-Rauxel, an der Wittener Straße.
Marta sitzt auf der Couch mit dem Baby auf dem Arm, sie zieht die Augenbrauen zusammen. Die Mutter hört konzentriert zu, versucht die auf Deutsch gestellten Fragen zu verstehen. Der Dolmetscher, Sefer Osmani vom Bereich Migration und Obdachlosenhilfe der Stadt, hilft.
Lesen und Schreiben haben die Eltern nie gelernt
Auch bei Formularen, Anträgen und Briefen müssen Dolmetscher dem Ehepaar helfen. Es sind viele Briefe von der Schule gekommen, bevor die älteren Zwillinge (5) überhaupt schulpflichtig wurden. Das hat das Paar verunsichert.
Lesen und Schreiben haben sie in Rumänien nie gelernt. Sie haben weder eine Schul- noch eine Berufsausbildung. Zwar gibt es dort eine Schulpflicht, wer sich aber nicht daran hält, hat nicht viel zu befürchten. Lesen und Schreiben auf Deutsch zu lernen ist nicht einfach. Vorrang hat die gesprochene Sprache.
Im März wurde ihr 9-jähriger Sohn auf der B235 von einem Auto angefahren. Neben dem Schock des schweren Unfalls wurde die Familie auch mit einer Menge Papierkram und Arztgesprächen konfrontiert. Ein Dolmetscher war in dieser Situation notwendig. Es ging auch darum, wann der Junge wieder zur Schule gehen darf und welche schweren Folgen der Unfall für ihn haben wird.

Martas Söhne (9, 11) schauen gemeinsam Fernsehen in einem der Kinderzimmer. © Victoria Maiwald
Hilfe von der Stadt und der Interkulturellen Kinder- und Jugendhilfe
Zwar darf er wieder die Schule besuchen, aber jetzt passt nicht nur sein Bruder (11) auf ihn auf, sondern die ganze Schule. Denn: Erhält der rumänische Junge noch einmal so einen starken Schlag auf den Kopf wie im März, wird er das nicht überleben. Die Verunsicherung, den Jungen wieder zur Schule zu schicken oder überhaupt alleine auf die Straße gehen zu lassen, ist sehr groß.
Neben der Unterstützung der Stadt und des Bereichs Migration und Obdachlosenhilfe greift auch die Interkulturelle Kinder- und Jugendhilfe der Familie unter die Arme. Alltägliche Dokumente müssen übersetzt und verstanden werden.
Einschüchterungsversuche gegen die Stadt
Doch nicht nur rumänische Familien haben viele Probleme zu bewältigen, auch die Stadt hat es nicht leicht: Es gibt Menschen, die wollen nicht, dass den bedürftigen Familien geholfen wird. Susanne Köhler vom Bereich Migration und Obdachlosenhilfe berichtet von Einschüchterungsversuchen.
„Mit unserer Arbeit machen wir das Geschäft von Menschen kaputt, die sich an den Situationen der Familien bereichern wollen“, sagt sie. So bieten diese Menschen zum Beispiel Dolmetscher-Dienste zu völlig überteuerten Preisen an.
Teilweise übersetzen sie auch falsch, sodass sie wieder engagiert werden müssen. Außerdem haben sie den zugezogenen Familien geraten, sich nicht auf die Angebote der Stadt einzulassen. Es wurden Geschichten darüber erzählt, dass die Stadt versuche, den Familien die Kinder wegzunehmen und dass es gefährlich sei, sich auf die Angebote einzulassen.
„Das ist aber inzwischen bereinigt“, sagt Susanne Köhler. Auch dadurch, dass Familien zwischenzeitlich gute Erfahrungen mit den Angeboten der Stadt gesammelt haben.

Schmetterlinge und Superhelden kämpfen um Aufmerksamkeit. © Victoria Maiwald
Probleme mit den Nachbarn gibt es nicht
Immer wieder gucken die 5-jährigen Zwillinge neugierig in das Wohnzimmer. Kinderlachen, Getrampel und Getuschel sind ständig zu hören. Wirklich ruhig ist es nie. Probleme mit den Nachbarn gibt es aber nicht, erzählt Marta über den Dolmetscher. Auch mit Vorurteilen oder Anfeindungen kam die Familie noch nicht in Kontakt.
Marta kümmert sich den Tag über um die Kinder und meistert den Haushalt, ihr Mann geht einkaufen und erledigt Hausmeistertätigkeiten in der Langen Straße 107.
Bevor die kleinen Zwillinge gekommen sind, war Marta regelmäßig im Café Q, um Deutsch zu lernen. Jetzt ist sie nicht mehr so oft dort. Große Ziele hat Marta nicht für sich. Sie möchte Deutsch lernen. Eine Ausbildung steht bei ihr nicht auf der Liste. Aufgrund der mangelnden Bildung und der Kinderbetreuung sei das schwierig.
Ihr sei wichtig, dass ihre Kinder eine gute Schulbildung bekommen. Wenn sie größer sind, möchte Marta arbeiten gehen. Den Kindern bringt sie bei, dass Bildung wichtig ist und sie gut in der Schule sein müssen.

Eines der Kinderzimmer in der Wohnung in der Langen Straße 107. © Victoria Maiwald
Familie geht über alles - auch wenn 15 Menschen zusammen leben
„Deutsche sind geradlinig, ordentlich und pünktlich“, sagt Marta. Die Mentalität hier sei anders als in ihrer Heimat. Sie versuche, diese Werte an die Kinder weiterzugeben. Das sei nicht immer einfach. Menschen aus Rumänien seien laut, träfen sich gerne draußen und redeten viel. Es sei eine Umgewöhnung, dass das hier in Deutschland nicht immer gern gesehen sei und auch mal Ruhe einkehren müsse.
Die Familie geht in Rumänien über alles. Da ist es auch nicht schlimm, wenn acht Personen in drei Zimmern leben. Es ist auch kein Problem, wenn 13 Personen in drei Zimmern leben: Im Februar 2018 mussten zwei Etagen in der Langen Straße 107 gesperrt werden. Es hatte gebrannt. Martas Schwester musste mit ihrer Familie die Wohnung räumen und zog kurzerhand bei ihr ein. Bis die oberen Etagen wieder nutzbar waren, verging ein halbes Jahr.
„Familie geht über alles und ist das Wichtigste. Wir helfen uns immer gegenseitig“, sagt Marta.
Für die Zukunft wünscht sich Marta, aus dem Umfeld heraus zu kommen. Ihr Mann soll einen besseren Job finden, hoffe sie. Sie möchte Deutsch sprechen können und Kontakt zu Menschen haben - nicht nur zu ihren Landsleuten.
Die Familie ist glücklich mit ihrem Leben in Deutschland.

Familie geht bei Marta über alles und auch unter die Haut. Das sind die Namen ihres Sohnes und ihrer Schwägerin. © Victoria Maiwald
Wann HABEN EU-BÜRGER ANSPRUCH AUF LEISTUNGEN?
- Als Marta und ihr Mann Constantin vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen sind, mussten sie zunächst auf die Unterstützung ihrer Familie setzen, die schon hier lebte. Denn EU-Bürger, die nach Deutschland kommen und auf Arbeitssuche sind, haben keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende.
- Erst wenn sie fünf Jahre in Deutschland leben, können sie Hartz IV beziehen.
- Nachdem Constantin den Job als Hausmeister in der Langen Straße 107 angenommen hat, konnte er sein Gehalt mit Hartz IV aufstocken.
- Sollte Constantin seine Arbeit nach weniger als einem Jahr unfreiwillig verlieren, erhält er noch höchstens sechs Monate Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende.
- Würde er seinen Job nach mehr als einem Jahr unfreiwillig verlieren, gäbe es keine Begrenzung des Anspruchs auf Leistungen.