Wie Jürgen Wischnewski gegen den EUV geklagt hat Und dabei einen „rechtsfreien Raum“ fand

Wie Anwalt Jürgen Wischnewski einen „rechtsfreien Raum“ fand
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Im Frühling 2014 wird in der Moritzstraße – ganz in der Nähe vom Hauptbahnhof – gebaut. Der Bürgersteig soll erneuert werden. In der Zechensiedlung gab es bis dahin nur einen Bürgersteig aus Erde und Schlacke, erinnert sich Anwalt Jürgen Wischnewski, der selbst in der Gegend aufgewachsen ist: „Die Frauen sind mit den Stöckelschuhen immer auf der Straße gelaufen, weil die sonst mit ihren Absätzen auf dem Weg eingesunken sind.“ Dementsprechend groß sei die Freude gewesen, als klar war: Der Bürgersteig wird gemacht, – allerdings nur auf der Seite mit den ungeraden Hausnummern.

Vier Jahre später, im Jahr 2018, bekommen die Anwohner der Moritzstraße dann Post vom EUV. Die Menschen sollen sich an den Kosten für den Gehweg beteiligten, auf beiden Straßenseiten. In der Straße wohnen auch die Eltern von Jürgen Wischnewski und sein Schwager, sie bekommen ebenfalls das Schreiben. „Das ist ja auch erst mal okay, wenn man dafür zahlt“, meint Wischnewski. Aber der Betrag macht ihn stutzig. Etwas mehr als 490 Euro sollen beide bezahlen. „Das schien mir doch ziemlich viel“, erzählt Anwalt Jürgen Wischnewski rückblickend. Vor allem, dass die Moritzstraße als Anliegerstraße bezeichnet wird, stört ihn. Wie viel Anwohner zahlen müssen, wenn die Straße vor ihrer Haustür gemacht wird, hängt unter anderem davon ab, wie viel die Allgemeinheit die Straße benutzt.

Für den EUV ist die Moritzsstraße eine Anliegerstraße. Nach dieser Ansicht profitieren vom neuen Gehweg vor allem Anwohner. Jürgen Wischnewski sieht das ein bisschen anders. Seit die angrenzende Schulstraße teilweise eine Einbahnstraße ist, müssen viele Menschen den Weg durch die Moritzstraße nehmen. Außerdem gibt es in der Moritzstraße eine Bushaltestelle der Linie 481, die natürlich nicht nur von den Anwohnern genutzt werde, argumentiert Wischnewski.

Er legt Widerspruch gegen die zwei Bescheide ein, die seine Verwandten bekommen haben. Der EUV hält nichts von der Erklärung Wischnewskis und besteht auf die 490 Euro und so reicht der Anwalt Klage ein – das war 2018. Während die Klage beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen läuft, zahlen seine Eltern und sein Schwager die 490 Euro trotzdem schon mal. Danach passiert lange nichts.

Termin am Gericht im Mai 2023

Im März 2023 fängt das Gericht an, sich mit der Klage aus Castrop-Rauxel zu beschäftigen. Am 25. Mai trifft man sich dann am Verwaltungsgericht in Gelsenkirchen, neun Jahre nach den Bauarbeiten am Bürgersteig und fünf Jahre nachdem die Klage eingereicht wurde. Doch das Gericht hat neben der Einordnung der Straße etwas ganz anderes und viel Grundlegenderes zu bemängeln. Jetzt geht es ganz tief ins Verwaltungsrecht.

Selbst für Anwalt Jürgen Wischnewski ist Verwaltungsrecht eine komplizierte Geschichte, erzählt er in seiner Kanzlei am Schwerin Kreisel lachend: „Im Grund beschäftigt sich da keiner gerne mit, das ist total langweilig und dröge.“ Um zu verstehen, was für ein Problem das Gericht hat, muss man zurück ins Jahr 2002 gehen.

In diesem Jahr wird der EUV Castrop-Rauxel gegründet. Der Stadtbetrieb übernimmt bestimmte Aufgaben für die Stadt Castrop-Rauxel, zum Beispiel die Müllabfuhr, Straßenreinigung oder den Wertstoffhof. Auch das Erheben von Straßenbaubeiträgen gehört zu diesen Aufgaben. Weil die Stadt all diese Aufgaben 2002 an den EUV übertragen hat, hat sie kein Recht mehr, sich selbst um diese Angelegenheiten zu kümmern.

Stadt hatte Rechte abgegeben

2014 steht am 8. Mai dann im Castrop-Rauxeler Rat der Punkt auf der Tagesordnung, der in diesem Fall das Problem ist: „Erlass einer Satzung der Stadt Castrop-Rauxel über die Erhebung von Beiträgen nach § 8 des Kommunalabgabengesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (KAG NW) für straßenbauliche Maßnahmen“. Der Antrag wird mit 42 Stimmen bei zwei Gegenstimmen angenommen. Das Problem ist: Die Stadt hatte ihre Rechte für den Bereich an den EUV abgegeben, eine eigene Satzung hätte sie nicht beschließen dürfen. In seinen Bescheid an Wischnewskis Eltern und Schwager beruft sich der EUV aber genau auf diese Satzung.

Vor dem Verwaltungsgericht kommt es im Mai 2023 in Sachen Moritzstraße nicht zu einem Urteil, weil der EUV vorher beide Bescheide zurückzieht. Trotzdem gibt es aber eine Erläuterung des Gerichts. Darin heißt es: „Die Stadt Castrop-Rauxel dürfte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr berechtigt gewesen sein, anstelle des Beklagten [EUV Anm.d.Red.] die Straßenausbaubeitragssatzung für das dem Beklagten übertragene Aufgabengebiet zu erlassen.“

Das Gericht kommt deswegen zu folgender Ansicht: „Die den Bescheiden zugrunde liegende Ausbaubeitragssatzung vom 6. Juni 2014 dürfte nichtig sein.“ Ihre 490 Euro bekommen Wischnewskis Eltern und sein Schwager wieder zurück, der EUV hat seine Bescheide schließlich wieder zurückgezogen. Weil dadurch der Grund für Klage weggefallen ist, gab es am Ende auch kein Urteil. Aber natürlich gelte die Einschätzung des Gerichts auch für alle anderen Bescheide, die mit der Satzung von 2014 verschickt wurden, so der Anwalt. Es gibt aber eine besondere Einschränkung, erklärt Jürgen Wischnewski: „Im Verwaltungsrecht ist es so, dass, wenn man keinen Widerspruch einlegt und sich wehrt, ein Bescheid irgendwann rechtens ist, auch wenn er inhaltlich falsch ist.“

Eine Prüfung ist möglich

Aber natürlich gibt es auch hier wieder Ausnahmen. Jürgen Wischnewski: „Es gibt die Möglichkeit, in solchen Fällen zu der Behörde zu gehen und zu sagen: Prüf das noch mal, weil es jetzt eine andere Faktenlage gibt.“ Geregelt wird das in § 48 des Verwaltungsverfahrensgesetzes. Wie viele Menschen in Castrop-Rauxel aufgrund der falschen Satzung einen Bescheid bekommen haben, lasse sich nur schätzen. Jürgen Wischnewski: „Das können Hunderte, vielleicht auch Tausende sein. Manchmal geht es da ja auch um höhere Summen und nicht ‚nur‘ um 500 Euro.“ All diese Menschen könnten laut Wischnewski jetzt beim EUV theoretisch noch mal ihren alten Bescheid prüfen lassen.

Wie viele Menschen Bescheide mit der nichtigen Satzung bekommen haben, wie viel Geld so erhoben wurde und welche aktuellen Verfahren das betrifft, hat der EUV auf Anfrage der Redaktion nicht beantwortet. Der EUV sieht das anders. Im Gegensatz zu Wischnweski interpretiert der EUV die Ausführung des Gerichts nämlich lediglich als Einschätzung zu einem Einzelfall. Sprecherin Sabine Latterner: „Die Auffassung des Gerichtes bezieht sich zunächst nur auf den behandelten Einzelfall. In anderen Verfahren wurde die hier entscheidende Satzungskompetenz nicht angezweifelt.“ Trotzdem sehe man Handlungsbedarf: „Dem Hinweis des Gerichtes folgend, wird die Satzung in Kürze entsprechend angepasst.“

EUV lehnt Rückzahlungen ab

Wer aktuell einen Bescheid mit der nichtigen Satzung auf dem Tisch liegen hat, der hat nach Wischnweskis Einschätzungen gute Chancen bei einem Widerspruch. Was die älteren Fälle angeht, wird es kompliziert. Der EUV macht auf Anfrage klar, dass es viel zu teuer sei, Beträge zurückzuzahlen und im Interesse der Allgemeinheit liege, die alten Verfahren ruhen zu lassen. Im Statement heißt es: „Im fiskalischen Interesse der Allgemeinheit wird eine Rücknahme der nicht beklagten und bereits bestandskräftigen Bescheide nicht befürwortet.“

Für Jürgen Wischnewski ist jetzt die Politik in Castrop-Rauxel gefragt: „Wir haben da gerade einen rechtsfreien Raum, der mit guten politischen Entscheidungen gefüllt werden muss.“ Ihm liege die Stadt am Herzen und wolle natürlich kein Chaos stiften, „aber, wir haben hier ein Problem und da muss für die Zukunft und Vergangenheit Klarheit her.“

Das Gericht hat Jürgen Wischnewski übrigens auch bei seiner ursprünglichen Beschwerde zugestimmt. Laut Gericht ist die Moritzsstraße keine Anliegerstraße, sondern eine „Haupterschließungsstraße“. Auch weitere Punkte bei der Berechnung wurden bemängelt. Die Anwohner an der Moritzstraße, die damals zu viel gezahlt haben, bekommen allerdings, wenn es nach dem EUV geht, kein Geld zurück. Sie fallen laut EUV Statement schließlich unter die nicht beklagten und dadurch bestandskräftigen Bescheide.