Schalla-Mörder untergetaucht: Tiefpunkt eines beispiellosen Justiz-Skandals

© Stephan Schuetze

Schalla-Mörder untergetaucht: Tiefpunkt eines beispiellosen Justiz-Skandals

rnMeinung

Was alle vernünftige Menschen befürchtet haben, ist geschehen. Ein Mörder hat seine Freiheit ausgenutzt, um unterzutauchen. Die Justiz hat versagt. Das muss Konsequenzen haben. Ein Kommentar.

Dortmund, Castrop-Rauxel

, 28.03.2021, 18:11 Uhr / Lesedauer: 2 min

Vielleicht bin ich befangen, weil ich Nicole-Denise Schalla persönlich gekannt habe. Sie war meine Mitschülerin, noch unmittelbar vor den Herbstferien 1993 habe ich mit ihr in einem Klassenzimmer gesessen. In den Herbstferien wurde sie heimtückisch ermordet - von dem Castrop-Rauxeler Ralf H., wie es das Landgericht Dortmund mehr als 27 Jahre nach der Tat im Januar 2021 festgestellt hat.

Doch ich bin sicher, ich würde diesen Kommentar nicht anders schreiben, wäre Nicole Schalla für mich immer nur der Name eines Mordopfers gewesen. Allenfalls vielleicht mit etwas weniger Wut im Bauch.

Versagen bei der Prozess-Organisation

Ralf H. ist untergetaucht. Was alle befürchten mussten seit seiner Entlassung aus der U-Haft durch das Oberlandesgericht (OLG) Hamm vor acht Monaten. Eine Entlassung, die nicht etwa wegen begründeter Zweifel an H.s Täterschaft geschah. Sondern weil das Landgericht Dortmund schlicht bei der Organisation eines Prozesses versagt hatte, bei dem es um nichts weniger ging als die Ermordung einer Minderjährigen aus sexuellen Motiven - eines der übelsten Verbrechen, die es überhaupt gibt.

Jetzt lesen

Das Verfahren gegen Ralf H. war schon Anfang 2020 zu einer Farce geworden: Erst zögerte das Landgericht monatelang, nach der Erkrankung einer Richterin eine Nachfolgerin zu bestimmen. Viel zu spät sollte der Prozess neu aufgerollt werden. Doch das Gericht wartete und wartete. „Weil sich keiner vorstellen konnte, dass Ralf H. jemals freigelassen wird“, wie ein Prozessbeobachter damals hinter vorgehaltener Hand sagte.

Das OLG Hamm hatte genug

Irgendwann, nach sieben Monaten Prozesspause, war es dem OLG Hamm genug. Unmittelbare Folgen hatte das zwar nicht, Ralf H. erschien weiter zum Prozess, doch was die Freilassung für die Eltern der Ermordeten Nicole Schalla bedeutet haben mag, konnte man sich schon da kaum ausmalen.

Jetzt lesen

Doch als man schon glaubte, dass der Skandal nicht mehr zu toppen sei, setzten die Richter noch einen obendrauf: Trotz Mordurteils nahmen sie H. im Januar 2021 nicht wieder in Haft, und wieder half das OLG dem verurteilten Mörder: H. durfte in Freiheit bleiben, sogar ohne Auflagen. Bis der Bundesgerichtshof über seine Revision entschieden hätte. Etwa in zwei Jahren. Und wieder gilt, voller Ironie: Warum hätte man sich auch beeilen sollen?

Die deutsche Justiz hat versagt

Nein, das ganze Verfahren ist in mehreren Instanzen an Bürokratie und Verfahrensfehlern erstickt. Die deutsche Justiz hat versagt, hat Vertrauen zerstört. In jedem anderen Land würden wir hier finstere Kräfte am Werk sehen; in der deutschen Justiz galt das als undenkbar. Bis jetzt. Doch nun ist das Drama komplett: Ralf H. hat sich aus dem Staub gemacht.

Jetzt lesen

Was nun folgen muss, ist klar: Zum einen eine größtmöglich angelegte Fahndung nach Ralf H.. Zum anderen die sofortige Inhaftierung, sofern und sobald man seiner lebend habhaft wird. Das Untertauchen sollte hoffentlich endlich als Haftgrund reichen. Dann hätte das Untertauchen wenigstens ein Gutes gehabt: Das Leben von Ralf H. in Freiheit wäre früher als sonst beendet.

Unvermeidlich ist aber auch: Das Versagen muss personelle Konsequenzen haben: Wer auch immer dafür verantwortlich war, dass im Frühjahr 2020 der Prozess gegen den Mörder von Nicole Schalla nicht schnellstmöglich wieder aufgenommen wurde - es sollte seine letzte wichtige Entscheidung in der Justizverwaltung gewesen sein.

Jetzt lesen

Lesen Sie jetzt