Als Selim Korkutan am 18. Januar vor das auf der Bühne am Forumsplatz aufgestellte Rednerpult tritt, wird der 19-Jährige als Erster von vielen Redenden bei der „Kundgebung gegen rechts“ auch persönlich. Er erzählt von seinem Großvater. Der kam 1970 als Gastarbeiter für ein Bauunternehmen aus der südostanatolischen Stadt Gaziantep nach Castrop-Rauxel. „Er hatte einen Traum: Er wollte die Zukunft seiner Kinder und seiner Familie sichern“, erzählt Selim. Das hieß damals: Möglichst viel Geld verdienen, um es in die Heimat bringen zu können.
Seitdem, fährt Selim da fort, lebe ein Teil seiner Familie in Deutschland. „Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich bin Deutscher, ich bin Türke, ich bin Deutsch-Türke“, sagt er. Betont: „Ja, das geht. Ich besitze die deutsche und türkische Staatsbürgerschaft.“ Spricht davon, dass seine Zuwanderungsgeschichte ein „Schicksal“ sei, das er mit vielen anderen Menschen in Deutschland teile.
„Ich bin es meinem Opa schuldig“
Alleine in Castrop-Rauxel, so hatte es unsere Redaktion kürzlich ausgearbeitet, geht es mehr als jeder und jedem Fünften ähnlich: Sie alle wären von den „Remigrations-Plänen“ von Rechtsextremen betroffen, die Anfang Januar bekanntlich durch eine Recherche von Correctiv öffentlich wurden. Und Selim ist einer von ihnen.

Für ihn sei klar gewesen, dass er bei der „Kundgebung gegen rechts“ sprechen werde, sagt der 19-Jährige beim Treffen mit unserer Redaktion genau drei Wochen später selbstbewusst. Und das nicht, wie sonst vor allem, als Politiker oder als Vorsitzender der Grünen Jugend. Sondern als Mensch. „Ich bin es meinem Opa schuldig. Dank ihm bin ich hier. Und lebe privilegiert“, sagt Selim. Stolz schwingt mit in seinen Worten. Ebenso aber auch Andacht. Genau heute, so erzählt er, jähre sich der Todestag seines Großvaters zum vierten Mal.
Emotionale Erinnerungen
Esat hieß er. Und seine Entscheidung, damals im Jahr 1970 als Gastarbeiter nach Castrop-Rauxel zu kommen, ist Dreh- und Angelpunkt von Selims Familiengeschichte. Über die wollen wir miteinander sprechen. Selim kommt vorbereitet: Er hat vor dem Treffen nochmal mit allen hiesigen Familienmitgliedern über ihre Sicht auf die Dinge gesprochen.
„Meine Oma Fatma hatte Tränen in den Augen, als ich gestern mit ihr darüber sprach“, erzählt er unter anderem. Als sie sich an ihre Anfänge hier an der Bladenhorster Straße zurückerinnert habe, sei sie emotional geworden. „Und sie hat mehrfach dankbar gesagt: Die Deutschen haben so viel für uns getan damals.“
„Mensch ist Mensch“
Heute, so nimmt Selim es wahr, sei das etwas anders. Alltagsrassismus begegne ihm regelmäßig, sagt der Student der TU Dortmund. Mal nur in Form einer auf den ersten Blick harmlos wirkenden Frage. „Woher kommst du – also eigentlich?“, das werde er zum Beispiel oft gefragt, wenn er auf neue Menschen treffe. Aus Castrop-Rauxel antworte er dann immer. „Obwohl mir ganz genau bewusst ist, welche Antwort die Leute eigentlich hören wollen. Aber diese gebe ich ihnen nicht.“

Gerade als er noch jünger gewesen sei, hätten ihn solche Äußerung nicht immer kaltgelassen, sondern auch mal verletzt und in seinem Selbstbewusstsein eingeschränkt, gibt Selim zu. „Man hat ja, immer, aber vor allem im jüngeren Alter, das Bestreben dazuzugehören.“ Aber auch heute fragt er sich in solchen Situationen oft, wieso das die erste Frage sei, die viele ihm stellten. „Teilweise noch ehe sie meinen Namen kennen. Nur, weil ich vielleicht etwas anders aussehe.“ Oft schon hat er den Eindruck gewonnen, dass er alleine deshalb abgestempelt werde. Dabei sei das doch „scheißegal. Mensch ist Mensch.“
Die Mutter als Vorbild
Selim versucht, dagegen anzugehen. Eines seiner Vorbilder: seine Mutter. „Sie trägt ein Kopftuch. Deshalb ist sie selbst schon häufig diskriminiert worden. Wie oft sie schon zu hören bekommen hat: ‚Sie sprechen ja gut Deutsch‘“, erzählt der 19-Jährige. Er erinnert sich zurück an einen Elternsprechtag an seiner Schule, als eine Lehrkraft das äußerte. „Zum Glück ist meine Mutter eine Powerfrau und lässt sich davon nicht unterkriegen“, sagt er stolz. Doch solche Worte verletzten. Selbst wenn sie manchmal als Kompliment gemeint seien, erklärt er.
Selim will sensibilisieren für seine Belange und die anderer Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Er findet: „Vorbilder sind wichtig. Und ich sehe mich, auch wenn das natürlich nicht mein einziges Thema ist, schon als Repräsentant meiner Community.“ Bei den Grünen in Castrop-Rauxel fungiert er deshalb nicht nur in der Funktion eines Jugendsprechers, sondern setzt sich verstärkt auch immer für die Belange von Migranten und Geflüchteten ein.
Froh, dankbar und kämpferisch
Dabei kommt er eigentlich aus einer Familie, „in der Politik keinen hohen Stellenwert hat“. Wirklich verwunderlich findet der liberale Moslem das nicht: „Mein Vater hat keinen deutschen Pass, sondern nur eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Er darf also in Deutschland gar nicht wählen. Irgendwie also auch verständlich, dass er sich kaum damit auseinandersetzt. Wenn er doch eh nicht mitgestalten kann …“
Er sei froh, dass das bei ihm und seinen beiden Geschwistern anders sei. Und dankbar. Sieht es als Privileg an, zweisprachig aufgewachsen zu sein, zwei kulturelle Identitäten und Staatsbürgerschaften zu haben. Sein Opa sei 1970 hergekommen und zu einem Castrop-Rauxeler geworden. „Er hat hier seine Heimat gefunden“, sagt Selim. Auch für den Lehramtsstudenten für Chemie und Sozialwissenschaft steht fest: „Ich würde nie aus Castrop-Rauxel wegziehen wollen.“
Ähnliches hat Selim damals auch bei der „Kundgebung gegen rechts“ gesagt. Am Ende richtete er sich da mit folgenden Worten direkt an die Faschisten: „Überlegt euch Ideen, wie ihr uns massenweise abschieben könnt. Ihr könnt uns hassen, ihr könnt uns euren Rassismus offen zeigen, denn wir merken ihn sowieso. Eins werdet ihr dennoch nie schaffen. Deutschland ist ein Teil unserer Identität und das werdet ihr niemals ändern können. Dieses Land ist auch unser Land, denn Deutschland ist ein Einwanderungsland.“ Dass rund 1500 Menschen gekommen seien und sich solidarisch gezeigt hätten, das sei „krass und schön“ gewesen, habe Mut und stolz gemacht. „Aber damit müssen wir jetzt auch weitermachen“, sagt Selim kämpferisch.