Martina Tielker ist laut. Extrovertiert. Offen für Neues, für Menschen und ihre Schicksale. Sie liebt Bücher, aber nicht nur die. „Ich liebe halt Menschen sehr und ich liebe Geschichten von Menschen sehr. Und es gab hier so Momente, die werde ich in meinem Leben nicht vergessen. Was hier so passiert ist, da kriege ich heute noch eine Gänsehaut, wenn ich das erzähle“, sagt die Castrop-Rauxelerin.
Jetzt schließt sie ihre Leselust an der Münsterstraße. Am Samstag, 26. April, ist der letzte Tag in ihrer Buchhandlung in Castrop. Viele Kunden, die man getrost auch Weggefährten nennen könnte, nehmen in diesen Tagen persönlich Abschied. So manches Mal werden dann Augen feucht. Erinnerungen stehen im Raum zwischen den Regalen mit den vielen Büchern. Im Gespräch werden sie lebendig.
Und sie hat viel zu erzählen, Berührendes genauso wie Heiteres: Was die gebürtige Versmolderin an Castrop-Rauxel schön findet. Was ihr Bücher bedeuten und warum sie in jeder Lebenslage der richtige Begleiter sein können. „Ich sage immer zu meinem Kunden: Wenn Sie irgendwelche Probleme haben, fragen Sie erst mal uns. Mal gucken, ob wir helfen können.“ Auch ihre eigene entzückende Liebesgeschichte spart Martina Tielker bei ihrem ganz persönlichen Rückblick nicht aus.

Wo also starten? Am besten am Anfang. Martina Maeder, wie sie damals noch hieß, lebt in Versmold. Die gelernte Friseurmeisterin, alleinerziehende Mutter, beginnt mit 33 Jahren eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Sie habe schon immer leidenschaftlich gelesen und mit Menschen wollte sie auch auf jeden Fall zu tun haben, so erzählt sie. „Es war hart und es war die beste Entscheidung meines Lebens“, erinnert sie sich an die zweijährige Ausbildung mit vielen kurzen Nächten.
„Nie, nie, nie, nie“ habe sie die Entscheidung bereut. „Für mich ist es einer der schönsten Berufe dieser Welt. Buchhandel macht glücklich“, sagt sie und lacht laut, „glücklich, aber nicht reich.“
Irgendwann kommt Uwe Tielker zufällig in den Buchladen in Versmold. „Dann hat er mich, glaube ich, anderthalb Stunden in Beschlag genommen. Meine Chefin war stinksauer, aber er ist mit so einem Stapel Bücher rausgegangen“, sagt sie und zeigt mit den Händen, dass es wirklich viele Bücher waren.

Uwe Tielker kauft immer wieder Bücher bei ihr, auch als er nicht mehr beruflich nach Versmold kommt. Oder er will sich telefonisch beraten lassen von Martina Maeder. „Er war wirklich hartnäckig.“ Irgendwann „haben wir uns jeden Dienstagmorgen telefonisch zu einer Tasse Kaffee und einem Gespräch verabredet.“ Und dann wurde mehr draus.
Gut überlegt hat sich die Buchhändlerin, ob sie aus dem ländlichen Versmold nach Castrop-Rauxel ziehen wird. Sie erinnert sich, wie positiv sie gerade die Altstadt empfunden hat. „Die Geschäftswelt war damals natürlich noch eine andere.“ Und noch etwas hat sie beeindruckt: „Mir ist aufgefallen, wie viele Ehepaare, ich sage jetzt mal etwas ältere Ehepaare, hier Hand in Hand gingen. Das fand ich spannend.“ Aus Versmold kannte sie das nicht. „Da geht das eher nach dem Motto: Schönheit vergeht, Hektar besteht.“
Typische Martina mit großer Klappe
Und noch etwas hat Martina Maeder damals gemacht, als sie alle 14 Tage am Wochenende zu Besuch nach Castrop-Rauxel kam. Sie besuchte die Buchhandlung am Markt. „Buchhandlungen sind ja nicht unwichtig, ob man sich in einer Stadt wohlfühlt oder nicht.“ Doch ihre Gesprächsversuche, von Lesungen oder anderem zu erfahren, waren wenig erfolgreich. „Ich bin dreimal da gewesen und dann hab ich zu meinem Mann gesagt, also wenn der mal zu macht, dann mache ich. Und dann machte der zu. Und ich hab gedacht, das ist mal wieder eine typische Martina, wieder so eine große Klappe“, sagt sie und lacht mal wieder fröhlich.
Doch ihr Banker in Versmold machte ihr Mut. Gemeinsam fahren sie zur NRW-Bank in Neuss. „Das hab ich auch nie, das hab ich echt nie in meinem Leben vergessen.“ Auf Herz und Nieren wurde sie geprüft. „Da hab ich echt nochmal eine mündliche Buchhändler-Prüfung abgelegt.“ Die Finanzierung klappte. Das Ladenlokal an der Münsterstraße war gefunden und mit Christa Hennewig-Eckes eine Vermieterin, mit der sie sich auf Anhieb verstand. „Es war Liebe auf den ersten Blick. Bis heute.“
Die Zusage der Bank kam am 28. September, bis zum 12. Oktober arbeitete sie noch in Versmold, am 17. November 2011 eröffnete Martina Maeder ihre Leselust. Viele seien skeptisch gewesen damals. Die Mayersche, nur wenige Meter entfernt, gab es schließlich auch schon. Und sie kannte niemanden in der Stadt. „Du schaffst kein Jahr“, habe man ihr gesagt. Drei Jahre habe es gedauert, bis sie sagen konnte: Ich habe es geschafft.
Fast 14 Jahre lebt Martina Tielker jetzt mit ihrer Leselust. „Alles hat sich danach ausgerichtet“, sagt sie. Auch das Privatleben. Sie und ihr Mann kochen gerne für Gäste. Aber nur bis September. „Wer uns danach sehen will, muss uns zu sich einladen.“ Dann begann schließlich das Weihnachtsgeschäft. Wenn die Schulbücher geliefert wurden, stapelten sich die Bücher aus zehn Paletten in jedem Zimmer in ihrem Haus. Am Abend oder im Urlaub wurde gelesen, „außerhalb der Arbeitszeit übrigens, nur um das mal klarzustellen“, um den Kunden die richtigen Tipps zu geben. „Ich freue mich auf den nächsten Urlaub“, sagt Martina Tielker. „Jetzt nehme ich keine 20 Bücher mehr mit.“
Aber zehn, so gesteht sie lächelnd, werden es wohl sein. Aber eben nur Bücher, die sie selbst lesen will. Das richtige Buch muss für sie eine gute Geschichte haben und gut geschrieben sein. Ansonsten: „Ich lese tatsächlich keine Fantasy, aber sonst lese ich alles.“

Bücher sind Anknüpfungspunkte für ganz persönliche Gespräche, die es immer wieder gibt in der Buchhandlung. Wie viele Menschen in einem der beiden Sessel am Kamin dafür Platz genommen haben, kann Martina Tielker nicht sagen. Aber bestimmte Geschichten bleiben. Von dem Vater zum Beispiel, der hier lange saß und von seinem schweren Schicksalsschlag und seinem unermesslichen Verlust redete. „Es war trubelig an dem Tag, aber es war trotzdem eine unglaubliche Ruhe hier im Laden, als wenn alle Kunden gespürt hätten, da ist jetzt gerade was Besonderes. Also das ist für mich eine der prägendsten Geschichten“.
Am Kamin saßen auch einmal Kunden mit einem Cappuccino und Kuchen, während Martina Tielker ihnen das Hörbuch „Er ist wieder da“ als Geschenk einpackte. Das besondere: Eigentlich hatte die Buchhändlerin eine halbe Stunde vorher das letzte Exemplar verkauft. „Dann habe ich gesagt: So, meine Lieben, ihr geht jetzt rüber zu den Kollegen der Mayerschen und kauft das Hörbuch und dann kommt ihr wieder hierher und ich packe es euch das schön ein.“

Es sind Geschichten wie solche, die verständlich machen, warum sich die kleine Leselust neben dem großen Konkurrenten behaupten kann. Und warum in den vergangenen Wochen immer wieder Kunden kommen, traurig, weil die Leselust schließt. Martina Tielker zeigt auf drei Bilder. Die hat kürzlich ein neunjähriger Junge ihr geschenkt in einem Karton, den er selbst mit Löwenzahn und Buchsbaum dekoriert hatte. „Da geht dir das Herz auf“, sagt die 64-Jährige.
Es gibt mehr tolle Geschichten. Von den beiden Castrop-Rauxelern zum Beispiel, die sich aus der Schule kannten und sich zufälligerweise in der Leselust wiedergetroffen haben und heute verheiratet sind. Oder von dem Kunden, der fragte, ob es stimme, dass der Moderator und Journalist Jörg Thadeusz in der Leselust seine Bücher kaufe. „In dem Moment öffnete sich die Tür und Jörg Thadeusz kam rein. Das war wirklich unfassbar.“
Thadeusz outet sich tatsächlich auch in seinen Radiosendungen als Fan der Leselust. Auch eine der vielen Lesungen, die Martina Tielker an verschiedenen Orten organisierte, hat er bestritten. Hannes Jänicke, Sky Du Mont oder Werner Schneyder hat sie unter anderem für Lesungen nach Castrop-Rauxel geholt.

Wer Martina Tielker in ihrer Leselust erlebt, sieht, wie einfach sie ins Gespräch kommt, laut und entschieden. Und wie schnell es passiert, dass plötzlich gleich mehrere Kunden und Kundinnen diskutieren, zum Beispiel darüber, wie man das heranwachsende Kind zum Lesen bringt. Da hat jeder seine eigenen Geschichten, in denen sich andere wiedererkennen.
Aber die Buchhändlerin kann auch leiser werden. Wenn sie Kunden berät und es dann plötzlich persönlich wird. Ein Beispiel: „Wenn eine Kundin hier reinkommt und sagt: ,Ich möchte jetzt ein schönes Buch haben, aber auf gar keinen Fall was mit Liebe‘, dann denke ich: Da könnte jetzt ein bisschen Liebeskummer im Spiel sein. Und dann fängst du an, zu suchen und dann nicht einfach nur zack, zack, zack, sondern bis ich das Buch habe und notfalls auch erst bestelle, von dem ich denke, dass das für diese Lebenssituation jetzt das richtige Buch ist.“
Auf diese Weise hat sie über die Jahre von vielen Problemen und Schicksalen erfahren. „Das hat dann auch nichts mit Indiskretion meinerseits zu tun, sondern einfach damit, ein Gefühl zu entwickeln, was könnte das Richtige sein, damit ich nicht so 08/15 berate“, sagt Martina Tielker. Mit der Kundin mit dem Liebeskummer rede sie übrigens noch immer über diese Situation damals. Schnell holt sie einen Gutschein herbei, der noch übrig geblieben ist. „Bücher können das Glück vergrößern und über Unglücken hinweghelfen“, steht darauf. Tielker: „Das war so ein Leitspruch für mich. Das ist so.“
Buchhändlerin, Lebensberaterin, Zuhörerin, Gastgeberin (wenn sie beim Nightshopping oder anderen Veranstaltungen Häppchen und Wein serviert): Das alles passt auf Martina Tielker. Manche würden sie auch nervig nennen, erzählt sie und wieder klingt ihr Lachen durch den Buchladen. Das ist ihr recht. Sie hält nicht mit ihrer Meinung hinterm Berg. Zum Beispiel, wenn es um die Entwicklung des Einzelhandels geht und die Rolle der Stadt, da hat sie eine klare Meinung.
Mehr müsste für die Aufenthaltsqualität in der Innenstadt getan werden. Und: „Wenn Geschäftsleute Ideen haben, brauchen sie einen Ansprechpartner bei der Stadt, der sich kümmert, weil sonst verpufft die Energie in der Bürokratie.“ Sie selbst hat zu oft erlebt, dass sich bei ihren Anrufen keiner zuständig fühlte.

Was macht sie also nach dem letzten Öffnungstag. „Aufräumen, putzen“, sagt sie lachend. Unverkaufte Bücher werden zurückgeschickt. Und dann bleibt noch eine wirklich schmerzhafte Aufgabe. Bücher, die sie nicht zurückschicken kann, soll sie vernichten. „Da muss ich ein Vernichtungsprotokoll führen. Die Bücher darf ich verbrennen. Und dann muss ich davon einen Film machen, als Beweis. Da wird dir doch anders, oder?“, sagt sie und Empörung schwingt in ihrer Stimme mit. Bücher verbrennen, das geht doch gar nicht. Da entstehen ganz andere Bilder im Kopf. Spenden oder verschenken, das geht auch nicht. Denn für jedes Buch müsste Martina Tielker die Umsatzsteuer bezahlen.
Literarisches Café
Dann aber geht es ins Privatleben. Die Bücher, das Lesen, das wird bleiben. Die Gespräche mit meinen Kunden, das weiß Martina Tielker schon jetzt, das wird sie am meisten vermissen. „Ich muss erst mal bei uns zu Hause aufräumen und alles irgendwie so auf Stand bringen und die Bücher, die im ganzen Haus verteilt sind, mal ein bisschen mehr sortieren. Und mich auch mal mit Freunden treffen, endlich wieder regelmäßig meiner großen Leidenschaft frönen, die ich neben dem Lesen habe, dem Standardtanzen. Und mein armer Mann muss dann mal mit mir ins Kino gehen.“
„Eine Freundin hat mir gesagt, ich sei nicht die Frau, der langweilig wird. Das stimmt.“, sagt sie weiter. „Wenn mir die Decke auf den Kopf fällt, dann gehe ich mal in die Stadt zum Einkaufen.“ Und noch eine Idee hat sie schon, vage noch. „Vielleicht sollten wir einfach mal so ein literarisches Café machen. Also nicht, dass ich jetzt ein Café eröffnen will, sondern ein Treffpunkt irgendwo. Da wird mir schon was einfallen.“
Hinweis der Redaktion: Der Artikel erschien ursprünglich am 15. April 2025