Petra Hagenmann hat zu Hause eine riesengroße Kiste, mit deren Inhalt sich ihr Leben nacherzählen lässt. In der Kiste sind keine Fotos, sondern Brillen. Die Augenoptikermeisterin, die seit 24 Jahren Brillenphantasien Hagemann am Castroper Marktplatz führt, hat nicht nur 25 Brillen in allen Farben, die sie regelmäßig trägt, sondern auch alle alten Brillen aufgehoben. „Mir ist noch nie eine kaputtgegangen“, sagt die 55-Jährige. Während heute wieder riesige Modelle wie vor 30 oder 35 Jahren angesagt seien, waren es bei ihrem Start im Winter 2001 eher Brillen mit kleinen Gläsern.
Doch nicht nur die Brillenmode hat sich in diesem knappen Vierteljahrhundert verändert, sondern auch die Stadt, in der Petra Hagemann sie verkauft. Neben Brillenphantasien lagen damals eine Boutique und ein kleiner Supermarkt. Der Wochenmarkt war noch auf dem Marktplatz und wenn Petra Hagemann die Tür ihres Geschäftes offen ließ, konnte sie hören, wie der Erdbeer-Mann seine Waren noch in D-Mark anpries oder Marktbesucher dem lange geschlossenen Café Vogelsang im Haus Cohen nachtrauerten. Optiker wie Mues, Claßen oder Trompeter gab es schon damals in der Altstadt viele. Optikerinnen nicht.
Ab ins kalte Wasser
Petra Hagemann, die aus Bochum kommt und auch heute dort lebt, übernimmt den Laden, nachdem ihr Vater 2000 plötzlich verstirbt. Schon 1939 eröffnete Petra Hagemanns Großvater in Bochum als Optiker einen Brillenladen. Später übernahmen seine zwei Söhne und eröffneten nicht nur eine zweite Filiale in Bochum, sondern 1969 auch den Standort am Castroper Markt. Schon als Kind ist Petra Hagemann deshalb manchmal vor Ort. „Einfach, weil ich bei meinem Papa sein wollte“, erinnert sie sich.

Den Wunsch, selbst Augenoptikerin zu werden, hatte sie damals aber noch nicht. „Und mein Vater hat mich auch nie gedrängt.“ Nach dem Schulabschluss will sie eigentlich studieren. Doch ein Gespräch mit ihrem heutigen Ehemann bringt die Wende. Ihm gefällt die Familientradition, die nicht verloren gehen dürfe – und ihr das Handwerk. Als sie ihren überraschten Eltern zu Hause vor Gästen eröffnet, eine Ausbildung zur Optikerin machen zu wollen, öffnet ihr erfreuter Vater eine Flasche Sekt.
Die Ausbildung im heimischen Betrieb ist aber keine Option. Während der nächsten drei Jahre lernt sie zunächst das Handwerk hinten in der Werkstatt und erst dann das Verkaufen vorne im Laden. „Genau richtig so“, findet sie. Nach den ersten eineinhalb Jahren Berufserfahrung folgen noch zweieinhalb Jahre Meisterschule in Vollzeit. Anschließend geht es für einen Abstecher ins Münsterland, bevor sie nach dem Tod ihres Vaters ganz alleine den Laden in Castrop-Rauxel übernimmt und sich selbstständig macht. „Das war mein kleines Erbe und ich warf mich selbst ins kalte Wasser“, sagt sie.
Ein Haufen Schulden
Bis dahin „lief die Filiale eher so mit“, erinnert sich Petra Hagemann. Die wirtschaftlichen Zahlen habe sie zum Glück erst gesehen, als alles unterschrieben ist. Ansonsten hätte sie möglicherweise anders entschieden. Doch Petra Hagemann will sowieso vieles anders machen: „Das ganze Schaufenster war mit typischen Optikermöbeln voll gestellt, die Pflanzen vergammelt und ich erinnere mich noch an die tausend toten kleinen Fliegen.“ Sie räumt als Erstes das Fenster frei, will, dass die Castrop-Rauxeler hereinschauen können. Außerdem setzt sie voll auf regelmäßige Werbung in der Zeitung. „Ich glaube, ich habe im ersten Jahr 50.000 D-Mark für Anzeigen ausgegeben“, sagt sie: „Dann hatte ich mit Anfang 30 einen Haufen Schulden.“
Fünf Jahre gibt sie sich, dann will sie von dem Geschäft leben können. Doch es läuft sogar noch besser. Schnell kommen die ersten Stammkunden. Und schnell sinkt auch der Altersschnitt der Kunden. „Nach nur zwei Jahren war ich mir sicher, dass es funktioniert“, sagt sie heute. Doch dafür muss sie eine Menge tun. Petra Hagemann arbeitet an sechs Tagen in der Woche von früh um 7 bis spät um 19.30 Uhr, schmeißt Einkauf, Werkstatt, Verkauf und Büroarbeit alleine. Nach zweieinhalb Jahren bekommt sie Unterstützung und stellt – früher als gedacht – die erste Mitarbeiterin ein. Schon Ende der 00er-Jahre kann sie das Geschäft ablösen. „Das fand ich toll – und finde es immer noch“, sagt sie.

In all den Jahren kommt nur noch eine weitere Mitarbeiterin hinzu. Petra Hagemann hat eine glückliche Hand und einige Jahre arbeiten sie, Ursula Koch-Jansen und Sylvia Trippelsdorf als Trio zusammen. Seit Ursula Koch-Jansen in den Ruhestand ging, sind die beiden Verbliebenen zu zweit bei Brillenphantasien Hagemann. Obwohl sich alle drei seit vielen Jahren kennen, gerne und eng zusammenarbeiten und auch nach Feierabend mal zusammen ins Kino gehen, bleiben sie immer beim förmlichen „Sie“. „Das wäre vor den Kunden auch komisch. Wir sind ja nicht die Hipster“, sagt Petra Hagemann – und grüßt im nächsten Moment eine vorbeilaufende Kundin durchs Schaufenster.
„Hier werden alle gleich behandelt“
Die Bindung zu vielen Stammkunden ist eng. In der kleinen Werkstatt hinter dem Verkaufsraum hängen zahlreiche Postkarten, die sie aus dem Urlaub geschickt haben. Hier arbeiten Petra Hagemann und Sylvia Trippelsdorf an den Brillen. Sie schleifen Gläser und passen sie in die neuen Modelle ein – und reparieren alte Brillen. Wenn Petra Hagemann einem Menschen ins Gesicht schaut, habe sie direkt ein paar Brillen im Kopf, die passen könnten. „Das macht die Erfahrung“, sagt sie. Mit 55 Jahren stelle sie immer wieder erschrocken fest, dass sie inzwischen selbst lange „zu den alten Optikern hier“ gehöre.

Ob Petra Hagemann ein Erfolgsgeheimnis habe? Nein. Außer eben harter Arbeit, Verlässlichkeit, Freundlichkeit und die Liebe für Brillen. Dann fällt ihr doch noch etwas ein: „Hier werden alle gleich behandelt“, sagt sie. Egal, ob dickes Portemonnaie oder schmale Rente. Außerdem gebe es bei ihr nie Angebote. Den Black Friday lässt Brillenphantasien genauso links liegen wie große Rabatt-Aktionen. Besonders in der „Geiz ist geil“-Ära um 2010 sei das nicht nur auf Gegenliebe gestoßen. Als vor allem Neukunden schmerzfrei um die Prozente schacherten, blieb die Augenoptikerin hart: „Das wäre nicht fair den Stammkunden gegenüber und ich möchte keine Kunden, die nur wegen der Prozente kommen, denn sie gehen auch schnell wieder.“ Sie sollte mit ihrem Standpunkt recht behalten.
Inzwischen wird Petra Hagemann immer mal wieder gefragt, wie lange sie ihr Geschäft denn noch führt. Das könne sie gar nicht so genau sagen: „So lange wie es mir noch so viel Spaß macht.“ Wenn sie dann irgendwann gehe, wolle sie einen guten Absprung schaffen, es schon ein oder zwei Jahre vorher ankündigen und eine kleine „Abschiedstournee zelebrieren“. Bis dahin dürften aber noch einige Brillen in der Kiste bei ihr Zuhause landen.
