Wenn plötzlich Distanz statt Nähe zum Kunden richtig ist. Ludger Vollmer hat mit einem Tisch die Entfernung zu den Kunden vergrößert.

© Michael Fritsch

Bioladen-Chef Ludger Vollmer über Corona: „Unser Lebensstil steht auf dem Prüfstand“

rnInterview

Ludger Vollmer, Chef des Castroper Bioladens Löwenzahn, sagt, dass es trotz Corona noch Orangen aus Sizilien gibt. Er glaubt: Die Krise wird die Menschen positiv beeinflussen und verändern.

von Michael Fritsch

Castrop

, 27.03.2020, 19:52 Uhr / Lesedauer: 4 min

Ludger Vollmer (65) führt den Castroper Bioladen „Löwenzahn“. Für ihn steht fest: „Unser Lebensstil steht auf dem Prüfstand.“ Im Interview mit Michael Fritsch erklärt er, warum sein Geschäft in der Krise nicht schließen wird und warum der Alltag nach Corona ein anderer sein wird als vorher.

Bringt Sie die Corona-Krise geschäftlich auch in Existenz-Nöte wie andere Einzelhandels-Kollegen in der Innenstadt?

Das Gegenteil ist der Fall. Wir freuen uns über eine erhöhte Nachfrage. Wir haben so viel zu tun, dass wir derzeit am Limit arbeiten. Die Lieferketten funktionieren prinzipiell reibungslos, allerdings ist bei unseren Großhändlern aufgrund der vermehrten Nachfrage die gesamte Logistikkette stärker gefordert. Wir erhalten nach wie vor Bio-Orangen aus Sizilien und Bio-Gemüse aus Apulien. Wir haben allerdings andere Bestellzeiten – nur noch jeden zweiten Tag – und längere Vorlaufzeiten. Manche Artikel werden auch gar nicht mehr geliefert, weil die Kapazitäten an Transportern und Containern erschöpft sind. Wie überall sind auch bei uns die klassischen Artikel ausverkauft: Toilettenpapier, Desinfektionsmittel, Mehl.

Worauf führen Sie Ihren Boom in der Krise zurück?

Die treue Stammkundschaft kommt wie zuvor. Und es sind andere hinzu gekommen. Ich glaube, dass manch einer es sich gut überlegt, ob er sich in einem der großen Discounter oder in den Laden einer Lebensmittelkette ins Getümmel wirft oder lieber hierhin kommt. Zwar ist es auch bei uns voller, aber bei der klassischen Klientel ist die Disziplin, soziale Kompetenz und Einsicht in die Notwendigkeiten möglicherweise höher. Wir hatten noch bis vergangenen Samstag keinerlei Hinweise, Abstände einzuhalten. Und trotzdem haben sich die Kunden draußen auf Distanz in eine Warteschlange eingereiht.

Passen sich da die Neukunden an?

Ich beobachte mehr Rücksicht, mehr Verantwortung und mehr Achtsamkeit. Ich glaube, dass über 90 Prozent sich sensibilisieren lassen, mitgehen, die Botschaft verstanden haben. Das ist eine große soziale Leistung der Gesellschaft, verblüffend. Ich habe lediglich einen einzigen Mann des Ladens verweisen müssen, der meinte, sich nicht an die Spielregeln halten zu müssen. Das war eine krasse Ausnahme.

Wie schützen Sie sich, Ihre Belegschaft und Ihre Kundschaft?

Wir kommen der Hygieneverordnung noch strenger als sonst nach, desinfizieren täglich vier Mal die Griffe an den Türen, den Einkaufswagen und Körben, all unsere Geräte wie Telefone, die Kasse usw. Darüber hinaus haben wir auf dem Fußboden Abstandsmarkierungen angebracht, den Durchgang vor dem Gemüseregal verbreitert. Wir geben den Weg durch den Laden vor, um möglichst wenige Begegnungen zu haben. Vor der Kasse steht ein Tisch, um die Distanz zu wahren. Außerdem gibt es einen neuen Glasschutz an der Brottheke.


Als weitere Maßnahme haben wir die Belegschaft in zwei Teams aufgeteilt, die im Zweischichten-System arbeiten und sich nicht begegnen. Falls es tatsächlich zu einer Infektion käme, könnte die halbe Belegschaft weiterarbeiten. Die Angestellten tragen alles mit viel Herzblut und Leidenschaft mit. Ich bin mehr als dankbar dafür.

Haben Sie schon einmal an das schlimmste Szenario gedacht, dass bei einer weiteren Verschärfung der Corona-Auflagen Ihr Bioladen als nicht systemrelevant eingestuft würde und deshalb die Zwangsschließung anstünde?

Das ist für mich aus mehreren Gründen undenkbar. Zum einen würde man die Großstrukturen stärken und durch mehr Kundschaft in den großen Ketten das Gefährdungspotenzial dort erhöhen. Das würde wenig Sinn ergeben. Dezentralität ist deshalb besser. Zudem möchte ich in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, dass wir hier nicht die kleine Müsli-Ecke sind, sondern ein 200-Quadratmeter-Laden mit einem breiten Angebot, darunter viel Lebensnotwendigem.

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Darüber hinaus hat sich der gesamte Biohandel zu einem riesigen Faktor entwickelt. Wir spielen hier nicht Lebensmittelversorgung, sondern hier geht eine Menge an Grundnahrungsmitteln über den Tisch. Wer wollte darüber entscheiden, welche Grenze man zieht? Im Innenstadtbereich sind wir nach Kaufland und Edeka Gronemann die Nummer drei. Dass man eine Verkaufsstelle für ökologische Lebensmittel in dieser Situation auf eine Strafliste stellt, ist für mich unvorstellbar.

Wann sehen Sie bei anhaltendem Ausnahmezustand die Grenzen der Belastbarkeit erreicht?

Das ist schwer einzuschätzen. Ich selber bin fast 65, habe Kontaktsperre zu meinen Schwiegereltern und meinen Enkeln. Das trifft mich wie viele andere hart. Dass im April Schluss damit ist, ist unwahrscheinlich, aber können wir das und alles andere bis August stemmen? Ich weiß es nicht.

Glauben Sie, dass die Corona-Krise möglicherweise menschliches Verhalten nachhaltig positiv beeinflussen und verändern kann?

Hundertprozentig. Was die Klimabewegung die ganze Zeit erreichen wollte, geht plötzlich in 14 Tagen über den Tisch, etwa im Hinblick auf die Kohlendioxidreduzierung. Wir hätten auch ohne Corona-Krise nicht mehr lange so weitermachen können. Es ist jetzt nicht mehr unsere Entscheidung, sondern der Sachzwang, der die Gesellschaft in die richtige Richtung treibt. Man wird nicht zum alten Zustand zurückkehren, etwa beim Thema globale Lieferketten oder beim Tourismus. Man hat jetzt zum ersten Mal in seinem Leben die Situation, dass man nicht mehr sagen kann: „Ich lass hier alles stehen und liegen und fahre irgendwohin.“ Es gibt keinen Platz auf der Welt, wo man hin könnte. Die gesamte Erde ist betroffen.

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Der seit längerem von den Klimabewegten kritisierte Lebensstil steht erzwungenermaßen auf dem Prüfstand. Und man merkt: Innerhalb kürzester Zeit ändert sich das persönliche Verhalten fundamental. Und es geht! Es wäre zwar zynisch, jetzt zu sagen: „Das ist Burnout-Prophylaxe oder Entspannung.“ Aber Fakt ist eine unglaubliche Entschleunigung. Es ist fast unglaublich, dass das so breit getragen wird.

Was heißt das für die Politik?

Die AfD ist weg! Sie würde sich lächerlich machen, weiter herumzunölen. Es würde auch keiner auf die Idee kommen, zu sagen, verantwortlich hier oder dafür waren jetzt die Schwarzen oder die Roten. Da merkt man erst einmal, mit was für einem Mist man sich monatelang befasst hat. Jetzt läuten mal richtig die Glocken und die Leute werden justiert, was eigentlich wesentlich ist.

Zur Person

Urgestein der Öko-Szene

Der Lebensmittelkaufmann Ludger Vollmer (65) zählt zu den Urgesteinen der Castrop-Rauxeler Öko-Szene. Im nächsten Jahr feiert er das 40-jährige Bestehen seines Bioladens „Löwenzahn“. Die ersten beiden Ladenlokale befanden sich von 1981 bis 2005 an der Oberen Münsterstraße, den jetzigen Standort an der Lönsstraße 18 betreibt Vollmer mit neun Mitarbeitern seit 15 Jahren.