Flüchtlinge und ihre Zukunft
Berufskolleg Castrop-Rauxel als Integrationsmotor
Mehr als 2000 Schüler gehen ans Berufskolleg Castrop-Rauxel. Unter ihnen sind über 100 junge geflüchtete Menschen, die in Förderklassen sind und dann ins Regelsystem übernommen werden. Heute, zwei Jahre nach der Flüchtlingswelle – wie gut gelingt die Integration? Unterrichtsbesuch und Interviews.
Roxana Jasmin Tamm ist Koordinatorin der Integrationsklassen und Deutschlehrerin am Berufskolleg. Hier unterrichtet sie einer der drei Internationalen Förderklassen. © Tobias Weckenbrock
Einige von ihnen“, sagt Lehrerin Roxana Jasmin Tamm, „sind fließend in einer Sprache, wenn sie sie sprechen können. Aber sie können eventuell nicht so gut schreiben.“ Vor ihr sitzen knapp 20 Schüler der AV IFK1 – das steht für Ausbildungsvorbereitung Internationale Förderklasse. Wir sind am Berufskolleg Castrop-Rauxel, wo etwa 100 Schüler, die erst vor zwei Jahren oder kürzer als Geflüchtete nach Deutschland kamen, in gesonderte Klassen gehen. Wie steht es um die Integration zwei Jahre nach der „Flüchtlingskrise“?
Tamm ist die Koordinatorin der Flüchtlingsklassen im Berufskolleg. Heute unterrichtet sie die IFK1 in Deutsch: ein Schwerpunkt ihres Unterrichts. Zehn Stunden haben sie in der Woche. Das Ziel ist, möglichst schnell in einer der vielen Regel-Schulklassen des Berufskollegs integriert zu werden. „Einige wollen das Abitur, einige wollen studieren“, sagt Roxana Jasmin Tamm. Das ist aber Zukunft.
Gegenwart: Die zumeist 17- bis 18-jährigen Menschen müssen pauken. Vor allem Sprache. Ein Schüler wurde kürzlich aus einer Förderklasse mal für zwei Stunden in den Regelunterricht geschickt – er dachte, er sei gut genug. Dann kam die Einsicht.
Die IFK gibt es dreimal. So ist das Prinzip
Drei solcher Förderklassen gibt es am Berufskolleg. Die Schüler darin haben unterschiedliche Sprachniveaus: Einige sprechen Deutsch, als wären sie schon viele Jahre hier. Das sind die in der IFK1. Der Unterricht hier läuft sehr interaktiv: Die Lehrerin spricht zwar langsam und klar, aber die Schüler verstehen offenbar alles, was sie sagt und anschreibt. Sie selbst haben vor allem Probleme beim Schreiben. Sie haben auch einen Klassen-Schwerpunkt: Hier liegt er bei Wirtschaft und Verwaltung. Die beiden anderen Förderklassen haben dasselbe Ziel, aber den Schwerpunkt Ernährung / Versorgung und Gestaltung.
Fließend in Wort und Schrift steht an der Tafel: Die Lehrerin hat es angeschrieben und erklärt: „Das heißt, dass Sie es genauso gut sprechen wie Sie es schreiben. Sie haben die Sprache nicht einfach nur im Dorf gehört, sondern sie in einer Schule gelernt.“ Die Schüler lauschen aufmerksam. Einige schreiben auf ihren Kladden mit, was an der Tafel steht. Es geht um das Aufsetzen eines Lebenslaufes für eine Bewerbung. Denn das kommt in einem der nächsten Schritte auf die Jugendlichen zu. Sie sollen fit werden für das Leben in Deutschland. Fit für den Arbeitsmarkt, damit sie uns eine Hilfe werden – statt eine Belastung zu sein, wie die Asyl-Kritiker behaupten.
<div style="position: relative; display: block; max-width: 690px;"><div style="padding-top: 56.2507%;"><video data-video-id="5647731633001" data-account="1863355775" data-player="S1guyGsAYZ" data-embed="default" data-application-id class="video-js" controls style="position: absolute; top: 0px; right: 0px; bottom: 0px; left: 0px; width: 100%; height: 100%;"></video> <script src="//players.brightcove.net/1863355775/S1guyGsAYZ_default/index.min.js"></script></div></div>Einen Schritt zurück sind die, die in die FFM-Klasse gehen. „Fit für mehr“ steckt hinter dieser Abkürzung. Zwei solcher Klassen gibt es am Berufskolleg. Im Februar 2016 gingen sie an den Start, als Reaktion auf die große Flüchtlingswelle. Dort gibt es auch in erster Linie Deutschunterricht – aber dazu Mathe, Englisch und andere Fächer. Nur gibt es keinen berufspraktischen Schwerpunkt: Das erste Ziel ist das Erwerben des „Hautschulabschlusses nach Klasse 9“, so die offizielle Bezeichnung. Die Schüler sind noch nicht so weit und zum Teil auch nicht im (berufs-)schulpflichtigen Alter.
So wie Mohammed Boazar aus Ahwaz im Iran. Er ist Christ, flüchtete im August 2015 nach Deutschland. Mit 70 Personen „in einem Raum“ wohnte er fünf Monate lang in Deininghausen im Flüchtlingslager, wie er sagt. Dann zog er um an die Detmolder Straße und wohnte dort 14 Monate zusammen mit seiner Schwester in einem Zimmer – sie teilten sich eine 50-Quadratmeter Wohnung mit einer vierköpfigen Familie.
Mohammed Boazar (24) aus Ahwaz im Iran arbeitet in der FFM-Klasse („Fit für mehr“) am Berufskolleg an seinem Hauptschulabschluss nach Klasse 9.Fotos weckenbrock © Tobias Weckenbrock
„Das ist ein Riesen-Spektrum“
Vera Recktenwald ist die Lehrerin, die in der FFM-Klasse Deutschunterricht gibt. Die Schüler arbeiten aber für sich. Mohammed Boazar gibt gerade an einem PC-Arbeitsplatz in einem Online-Deutschkurs die Konjugationsformen von „sein“ ein: „Ich bin. Du bist. Er ist“, murmelt er dabei vor sich hin. „Das ist schwierig“, sagt derweil Vera Recktenwald, angesprochen auf die verschiedenen Niveaus ihrer Schüler. „Das ist ein Riesen-Spektrum“, erklärt sie. Alle, die hier sind, können zumindest das Alphabet; aber sie sind in ihren Deutschkenntnissen beim Lesen, Sprechen und Schreiben unterschiedlich weit. Bei denen, die unser Alphabet nicht beherrschen, arbeitet man mit dem Max-Born-Berufskolleg in Recklinghausen zusammen: Die Schüler wechseln dann. Trotzdem bleibt die Schwierigkeit: „In diesen Klassen“, erklärt Schulleiter Fred Nierhauve, „können Schüler auch mitten im Schuljahr einsteigen.“ Eben wenn sie da sind.
„Da kommen ständig neue hinzu, das ist auch Teil der Herausforderung“, so Recktenwald, die 15 Schulstunden pro Woche in Flüchtlingsklassen arbeitet. Weil sie das will? „Naja, ich habe Deutsch und Geschichte studiert“, sagt sie und lacht, „bin also nicht besonders ausgebildet. Es kam einfach so, schon in meinem Referendariat, weil es einen großen Mangel gab. Ich habe dabei gemerkt, dass mir das liegt.“ Vielleicht mache sie nächstes Jahr die Fortbildung „Deutsch als Zweitsprache“ – „aber eigentlich weiß ich durch die Praxis vielleicht schon alles.“ Kollegin Tamm hat dieses Zertifikat bei der Bezirksregierung gemacht.
Wenn die Lehrerin dem Geflüchteten aus Verträgen hilft
Man müsse aber in allererster Linie mit den Menschen arbeiten. „Unterricht ist nicht alles“, sagt Roxana Jasmin Tamm. „Wir sind ständig mit Behörden in Kontakt.“ Vera Recktenwald erzählt von einem Schüler, der versehentlich einen viel zu teuren Mobilfunkvertrag unterschrieben hat, weil er die genauen Vertragsinhalte nicht verstanden hat. „Ich versuche nun, mit da heraus zu kommen. Wir helfen bei der Vermittlung von Praktika, wir sind einfach für sie da. Ich habe ja selbst Migrationshintergrund“, so Recktenwald scherzhaft: „Ich komme aus dem Saarland...“ Tamm ergänzt, wieder ernsthaft: „Wir haben zu den Schülern ein anderes Verhältnis als zu den Regelschülern. Ein besonderes.“
© Tobias Weckenbrock
Wenn man ein Problem gelöst hat, steht man vor zwei neuen
Es wirkt, als sei alles gut am BCKR. Ist es das wirklich? „Ohne Schulsozialarbeiter“, sagt Fred Nierhauve, „würde das System nicht funktionieren. Denn wenn man ein Problem der jungen Menschen gelöst hat, steht man vor zwei neuen.“ Es gehe dabei um Alltagsbewältigung. Die Dinge, die die Lehrerinnen geschildert haben. „Wir helfen beim ersten Schritt in eine Grundbildung, die Schüler lernen aber auch schon erstes Fachvokabular“, so Nierhauve. „Aber an den Schnittstellen sind die Probleme später ja auch noch groß genug.“
Wie geht es nach der Schule weiter? „Wir als Berufskolleg sind da ein gutes System. Wir können die Übergänge in verschiedene Bildungsgänge leicht organisieren – man kann mal eben woanders hospitieren, weil alles unter einem Dach ist. Und weil man im Austausch steht mit Berufskollegs in Dortmund, Datteln oder anderswo.
Ein Interview mit einem der Schüler des BCKR:
Haitham Iskafi stammt aus Damaskus in Syrien, ist 20 Jahre alt und wohnt in Deininghausen. Er macht am BKCR das Fachabitur im Bereich Wirtschaft und Verwaltung. Warum? „Da habe ich einen Platz bekommen.“ Aktuell geht er in Klasse 11. Er hat eine Feststellungsprüfung hinter sich, mit der er sich auch ohne Realschulabschluss qualifizierte. „Ich finde die Fachsprache sogar einfacher als die Umgangssprache“, sagt er. Er konnte vor der Flucht schon Englisch – „aber nicht schreiben“ –, weil er in Damaskus das Abitur machte und dort Englisch und Französisch als Fremdsprachen hatte. 2015 flüchtete Haitham Iskafi, lebte sechs Monate in der Türkei und kam am 1. Juli 2015 nach Deutschland. Erst war er in Großunterkünften untergebracht: in Düsseldorf, Bonn, Dortmund und schließtlich in Borken. Seit einem Jahr lebt er nun Castrop-Rauxel. Am BKCR besuchte er zunächst die Internationale Förderklasse, inzwischen den Regelunterricht. „Castrop-Rauxel ist okay“, sagt er. „Aber Essen finde ich spannender.“ Von seinem Traum, Pilot zu werden, hat er sich verabschiedet. „Zu schwer“, wie er sagt. Auch, weil er dazu in die USA müsste – und da kommt er zurzeit nicht hin.