Irgendwann kann man einfach nicht mehr weg, dann hängen einem die über 700 Jahre Familiengeschichte nach, und man kann sie einfach nicht überblättern. Uli Dingebauer ist es so ergangen, als er vor 35 Jahren den elterlichen Hof aus einer Verpachtung heraus übernommen hat. 15 Hektar groß, was sowohl aus heutiger wie aus damaliger Sicht kein Zukunftsversprechen war. Die Maßgabe der Landwirtschaftskammer lautete Wachsen oder Weichen, die Spaltenböden waren das A und O in der Haltung von Schweinen und Rindvieh, in der Hühnerhaltung favorisierte man Käfige. „Ställe ohne Fenster mit Zwangsbelüftung“, sagt der Landwirt heute, während er in den Freilauf blickt, in dem die Schweine träge auf Stroh liegend in die Frühlingssonne blinzeln, „das wollte ich aber nicht.“
Dingebauer schwebte eine andere Tierhaltung vor, er spekulierte auf die Selbstvermarktung, weshalb er damals auf dem Hof eine Wurstküche baute. Wurstküche und Wiege sind zwei Begriffe, die eigentlich gar nicht zusammen passen. In diesem Fall aber schon: Denn Dingebauers Wurstküche wurde gewissermaßen zur Wiege eines Unternehmens, das „Neuland“ heißt, sich der tiergerechten Haltung verschrieben hat, heute 45 Mitarbeiter beschäftigt und gerade in Bergkamen 2,5 Millionen Euro in eine neue Wurstproduktion investiert.
Innovationsstau war abzuarbeiten
„Ich hatte damals das zweifelhafte Glück, dass es durch die Verpachtung des Hofes zu einem Investitionsstau gekommen war“, erinnert sich der 57-Jährige. Es war also viel zu machen, aber so konnte er es wenigstens angehen, wie er wollte. „Wenn beispielsweise schon Spaltenböden eingezogen worden wären, weiß ich nicht, ob ich das alles so gemacht hätte“, meint er ehrlich. Er also hielt seine Schweine auf Stroh, weigerte sich, den Ferkeln den Schwanz zu kupieren, bot ihnen Auslauf und vermarktete Fleisch und Wurst selber. Er wusste: „Wenn man sich abheben will von der Menge, musst Du was bringen. Wir mussten die Leute auf den Hof kriegen.“ Es klappte.

25.000 Masthähnchen pro Jahr vermarktet Neuland heute. Einige davon kommen von den Dingebauers. © Stephan Schuetze
1988 hatte sich im Kreis Unna eine Gruppe Landwirte formiert, die aus einer ethischen Verpflichtung gegenüber Tier und Umwelt „Neuland“ gegründet hatten. Jeder, der mit dem Unternehmen zusammenarbeitet, unterwirft sich seitdem strengen Kriterien, was Haltung und Fütterung der Tiere, Transport, Schlachtung und Verarbeitung zu Fleisch- und Wurstwaren anbelangt. Das alles traf Dingebauers Nerv. Sein Vorteil zudem: „Ich hatte als Einziger der Mitglieder eine bereits zertifizierte Wurstküche.“ So wurde der Hof an der Oststraße zur Waren-Drehscheibe eines Unternehmens, das seitdem ständig wächst. Bis 1999 ging das so, „dann zog Neuland um nach Bergkamen-Heil, weil wir hier aus allen Nähten platzten“.
Schweine haben sich schon mal Sonnenbrand geholt
Uta Dingebauer rollt mit Trecker und Hänger auf den Hof, sie spricht kurz was mit dem Vater ab. Die Türen der Ställe stehen weit offen, die Schweine stoben ins Licht. Ist sogar schon mal passiert, dass sich die Schweine einen Sonnenbrand geholt haben, weil sie im Auslauf in der Sonne eingeschlafen sind. „Die hatten vom Gitter ein kariertes Muster auf der Schwarte“, grinst er. Die Hähnchen im Stall nebenan stellen sich allerdings nur spärlich ein. Ihnen ist es immer noch zu kühl.
Christoph Dahlmann kommt dazu, er reicht Dingebauer lächelnd eine weiße Neuland-Kappe. Der Bergkamener Neuland-Geschäftsführer ist selber auch Landwirt. „Inzwischen vermarkten wir jährlich Fleisch und Wurst von 450 bis 500 Rindern, 25.000 Masthähnchen sowie etwa 6000 Neulandschweinen und 8000 Bioschweinen“, rechnet er hoch. Zur Erklärung: Der Unterschied zwischen Neuland- und Bioschweinen liegt darin, dass die Landwirte der Bioland-Genossenschaft sich an die Vorgaben halten müssen, was die biologische Fütterung der Tiere anbelangt, während Neuland-Bauern konventionell wirtschaften und füttern.

Das Neuland-Siegel hat der Hof Dingebauer. Seine Produkte stellt er ökologisch her. © Stephan Schuetze
Neuland ist kein ganz großer Player, wenn man das Unternehmen beispielsweise mit Tönnies vergleicht, bei dem allein der Schlachthof in Rheda 25.000 Schweine am Tag verarbeitet. Aber ein kleiner feiner, der ständig in Kontakt mit Fleischern, Köchen und kritischen Kunden steht, der sich freiwilligen Kontrollen von Tierschutz und BUND stellt, langsamer mästet, auf Importfuttermittel verzichtet, auf Bestandsobergrenzen setzt. „Wir machen genau die Landwirtschaft, die die Leute heute wollen“, sagt Uli Dingebauer. Die arbeitsintensivere Haltung der Tiere wird belohnt durch bessere Preise. „Bei Schweinefleisch liegen wir im Moment bei 60 Cent pro Kilo über dem Preis normaler Tiermäster“, rechnet Dahlmann vor. Geliefert wird an Kantinen, Metzgereien und Großküchen, allerdings nicht an Privatkunden. Unter den Abnehmern die Studentenwerke der Universitäten in Oldenburg und Osnabrück sowie das DFB-Museum in Dortmund.
Nur zwei Neuland-Bauern im Kreis Recklinghausen
Der Castroper Landwirt und sein Nachbar Willi Drumann sind die einzigen Neuland-Bauern im Kreis Recklinghausen. Aber neue sind gern gesehen, denn Neuland wächst, sucht weitere Bauern als Zulieferer sowie Kantinen und Metzger als Kunden. Wie bahnbrechend die Entscheidung damals gewesen ist, Neuland zu gründen, merkt man daran, dass große Discounter dabei sind, sich ähnlichen Richtlinien zu unterwerfen. Wahrscheinlich weil der Käufer das alles zunehmend nicht mehr will: regelmäßige Lebensmittelskandale, Qualhaltung, verursacht durch zu hohe Besatzdichten, durch lebenslanges Dahinvegetieren im eigenen Kot, Verstümmelungen, Vergiftungen des Grundwassers durch Nitrat, verursacht durch Überdüngung der Felder … Das Schwarzbuch der modernen Landwirtschaft hat viele Einträge. Ein besseres Gefühl zu haben und darüber hinaus für die Arbeit noch einen höheren Preis zu erzielen, das ist ein später Triumph für Dingebauer, der sich noch gut daran erinnern kann, lange Zeit von der örtlichen Bauernschaft als Spinner und Alternativer belächelt worden zu sein.
„Klar war das viel Arbeit“, resümiert er, „und das ist es heute auch noch.“ Seine Frau Ulrike kümmert sich um die Vermarktung, er hat gerade einen neuen Auslauf für die Schweine gebaut. „Aber die Entscheidung damals war unternehmerisch genau richtig.“ Und moralisch sowieso. Ganz nebenbei hat er noch Mirco Pucel den Weg zu Neuland geebnet, der nebenan in Deilinghausen aufgewachsen ist. Der 41-Jährige ist heute Fleischermeister, und seine Karriere begann als 13-, 14-Jähriger im Grunde bei Dingebauer. „Schule war damals nicht das Wichtigste für mich“, erinnert sich Pucel, „und man kann sagen, dass Uli Dingebauer mich von der Straße geholt hat.“ Ställe ausmisten, Strohballen stapeln, vor allem aber Trecker fahren und immer ein paar Euro auf der Tasche – damit konnte man ihn locken. „Das war alles besser als 'rumzuhängen“, erinnert er sich, „er war damals wie ein zweiter Vater für mich.“ Später hat der Deilinghausener dann Ware für Neuland verpackt - so ist er nach und nach hineingewachsen in seinen Beruf und die Firma.
Familiengeschichte seit 1293
Bis 1293 lässt sich die Familiengeschichte zurückverfolgen. „Der Hof ist an Ort und Stelle seit 1464“, erzählt Uli Dingebauer, „und wir wohnen in einem 1833 gebauten Haus – also im Neubau.“ Man weiß nicht, was passiert. Uta ist 25 Jahre alt und studiert Landwirtschaft. „Sie soll das arbeiten, was sie zufrieden macht“, sagt er. Das muss nicht in der Landwirtschaft sein, kann aber. Ihr Vater jedenfalls macht nicht den Eindruck, als hätte er was falsch gemacht.