Kaum eine Familie in Castrop-Rauxel sei nicht mit Rütgers verbunden, sagt Bürgermeister Kravanja über das Chemieunternehmen. 100 Mitarbeiter stehen vor einer ungewissen Zukunft.
Rütgers schließt einzelne Produktionsströme und -anlagen. Als Geschäftsführer Uwe Holland diese Nachricht am 10. Juli bei einer Betriebsversammlung im sogenannten Casino auf dem Werksgelände vor mehr als 300 Mitarbeitern verkündet, da wankt das Werk in seinen Grundfesten. Zumindest ist es ein schwerer Schlag für die Belegschaft. Rund 100 der 475 Mitarbeiter soll es treffen – nicht gekündigt, nicht entlassen, aber sie können auch nicht mehr in Rauxel arbeiten. Am 1. September mussten die ersten rund 20 Personen in eine Auffanggesellschaft wechseln – in angemietete Büros in Herne.
14. Juli: Ein Feiertag im Unternehmen
Für sie muss der 14. Juli wie ein Hohn klingen. Ein Tag, den das Unternehmen wie einen Feiertag zelebriert: Der Grundstein wird gelegt für eine neue Produktionsanlage für wasserklare Harze, die 60 Millionen Euro kostet, die 75 neue Arbeitsplätze bringen soll. Wie passt das zusammen mit dem, was wenige Tage vorher geschah? Die Beschäftigten treibt das um. Mitarbeiter eines Unternehmens, das Castrop-Rauxel prägt.
Die Unternehmensleitung weiß am 10. Juli, dass diese Nachricht, die sie verkündet, Castrop-Rauxel erschüttert. Sie soll bei der Betriebsversammlung gesagt haben, dass die Mitarbeiter frei seien, darüber mit Außenstehenden zu sprechen – nur nicht mit der Presse. Das sagt ein Insider, der anonym bleiben möchte, sich aber öffnet. Er habe lange überlegt, aber er finde, dass die Stadt die wahren Hintergründe kennen müsse. „Es geht um einzelne Menschen, die nun vor einer völlig veränderten Situation stehen. Menschen, die zum Teil 35 Jahre bei Rütgers sind und sich jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben bewerben müssen“, sagt die Person. „Für mich ist es eine Änderung in meinem Lebensplan – auch eine Chance. Ich muss mich bewegen und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Aber man wird eben plötzlich nicht mehr gebraucht. Das ist eine Verletzung.“

Die Teerdestillation findet in diesen hohen Türmen statt, die stilgebend für Rütgers sind: Diese Bauwerke des Chemiewerks in Rauxel kennt in der Stadt jeder. Hier wird Steinkohlenteer, eigentlich ein Reststoff, zu 100 Prozent zu Werkstoffen verarbeitet. Von Produktfraktionen spricht die Fachwelt: Peche, Naphtalin und technische Öle kommen am Ende eines mehrstufigen Erhitzungs-, Verdampfungs- und Abkühlungsprozesses in diesen hohen Kesseln heraus. Darum auch die Leitungen in mehreren Stufen. Schon im Jahr 2017 wurde bei Rütgers vieles abgerissen, wie dieses Bild bei der Werksbesichtigung zeigt. Das bleibt auch in den nächsten Monaten so. Ein Unternehmen im Wandel. © Tobias Weckenbrock
Die Geschäftsführung, die im Casino mit dem Betriebsrats-Vorstand auf dem Podium sitzt, erläutert rund 90 Minuten lang das Vorgehen. Sie stellt sich den Fragen von Mitarbeitern. Im Kern spricht sie von einer Auffanggesellschaft, in die die betroffenen Mitarbeiter bis spätestens Ende 2021 übergehen – oder sie gehen gleich mit einer Abfindung, die Insider als fair bezeichnen. In dieser Gesellschaft sollen sie qualifiziert werden, sich bewerben können. Sie erhalten Schreibtisch, EDV-Gerät und Hilfe von Fachleuten.
Warum das Ganze? Es gebe Produkte im Werk, heißt es, die am Markt auf Dauer defizitär seien. Auch Verwaltungsposten werden abgebaut, nach Indien und in die USA verlegt, wo das international tätige Mutter-Unternehmen Rain Carbon Inc. weitere Standorte hat. Man hat Finanzdruck – es heißt, eine zweistellige Millionensumme müsse eingespart werden. Darum reichte die Schließung allein der Produktströme nicht aus. Der Chief Operating Officer (COO) bei Rain, Dr. Günther Weymans, ein ehemaliger Bayer-Manager, der seinen Arbeitsplatz in Rauxel hat, soll das intern so verkauft haben, dass man mit solchen Maßnahmen besser in guten Zeiten anfange, bevor der ganze Standort auf der Kippe stehe.

Die damalige Rütgers-Standortleiterin Elke Helck, der Ex-Betriebsrats-Chef Ralf Danszczyk, der Technische Beigeordnete Heiko Dobrindt und Bürgermeister Rajko Kravanja (v.l.): Gemeinsam freuten sie sich im März 2018 über die Millionen-Investitionen der Rain Carbon Inc. am Standort Rütgers Rauxel. Helck ist inzwischen in den USA für das Großunternehmen tätig, Danszczyk als Betriebsratsvorsitzender abgewählt. Auch personell ändern sich die Zeiten. © Tobias Weckenbrock
Die betroffenen Mitarbeiter fallen relativ weich: Sie bekommen weiterhin den vollen Lohn ausgezahlt – inklusive künftiger Tariferhöhungen. Hart ist es für viele trotzdem: Die bisherigen Arbeitsmittel wurden ihnen ebenso abgenommen wie Schlüssel und Chip zum Werksgelände. „Sie haben dort von heute auf morgen keine Aufgaben mehr“, sagt einer von ihnen. Es sind Produktionsmitarbeiter der sogenannten NJR-Anlage darunter, die Anfang September abgeschaltet wurde. Aber auch hochqualifizierte Ingenieure, Mitarbeiter aus dem Labor und aus unterschiedlichen Verwaltungsbereichen. Auch Leute, die in laufenden Projekten mitarbeiteten.
Als in den Büros in Herne der Schock vorherrschte
In der ersten Woche in den neuen Büros in Herne herrscht der Schock vor. Die Geschäftsführung soll sich dort gezeigt und Gespräche geführt haben, sie kümmert sich dem Vernehmen nach gut. Mit einem klaren Ziel aber: diese Mitarbeiter möglichst bald nicht mehr bezahlen zu müssen. Ende 2019 soll wohl der intern als Phenol-Betrieb bezeichnete Produktionsstrom geschlossen werden – spätestens dann folgt die nächste Welle. In den vergangenen Monaten wurden indische Kollegen in Verwaltungsabläufe eingearbeitet. Die meisten sind wieder in ihrer Heimat und erledigen dort vielleicht bald die Arbeit derer, die sie eingearbeitet haben.
„Eine Regelung in dieser Kombination zu treffen, ist in positivem Sinne ungewöhnlich“, sagt Birgit Biermann, Bezirksleiterin der IG BCE für Dortmund und Hagen. „Es heißt ja: Wir bieten dir eine Abfindung an oder wir qualifizieren dich. Das kenne ich so oft nur von Großkonzernen. Das ist Rütgers Germany an sich, wenn man nicht die Rain Carbon Inc. insgesamt betrachtet, ja nicht. Qualifizierung ist immer sinnvoll. Wir sind ja stets die ersten, die zum Arbeitgeber sagen: Wenn du Stellen abbauen musst, qualifiziere deine Leute, damit sie neue Jobs finden.“
„Um die Zukunft dieses Standorts für viele Jahre zu sichern“
Die Unternehmensleitung erklärt die Abläufe gegenüber unserer Redaktion so: „Unser Ziel ist es, den Standort zu einem der Eckpfeiler unseres Geschäftsbereichs Advanced Materials zu machen, um so die Zukunft dieses Standorts für viele Jahre zu sichern“, sagt COO Günther Weymans. „Dazu werden wir im Laufe der Zeit veraltete Produkte und Technologien ersetzen, weil sich gesellschaftliche und ökologische Anforderungen und auch die Gesetzgebung verändern.“

Dr. Günther Weymans, Chief Operating Officer und Managing Director der Rain Carbon GmbH, der das Rütgers-Werk in Rauxel angehört. Dieses Foto entstand, als er im März die Pläne für die Großinvestition vorstellte, um wasserklare Harze, im Kolben in der Mitte zu sehen, zu gewinnen. © Tobias Weckenbrock
Es sei nie eine leichte Entscheidung, Arbeitsplätze zu reduzieren – schwierig für diejenigen, die gehen, aber auch für diejenigen, die bleiben. „Deshalb blicken wir mit einem lachenden und einem weinenden Auge auf die Woche des 10. Juli 2018 zurück“, so Weymans, in der die positiven und negativen Nachrichten eng bei einander lagen. Man arbeite daran, Effizienz und Effektivität der Abläufe zu verbessern und Unterstützungsfunktionen in der Verwaltung an einem Standort zusammenführen, um einen qualitativ sicheren Service sicher zu stellen – weltweit und rund um die Uhr. In Indien.
Ist Deutschland zu teuer? Ist der industrielle Markt kaputt? Wir fragen die Agentur für Arbeit. „Grundsätzlich ist der Arbeitsmarkt im chemischen und pharmatechnischen Bereich aufnahmefähig, der Bedarf an Arbeitskräften ist da.“ Das sei positiv, sagt Stefan Bunse, Leiter der Castrop-Rauxeler Geschäftsstelle. „Aber im Endeffekt ist eine Pauschalaussage hier wenig zielführend. Auch in diesem Fall gilt: Wie sind meine persönlichen Voraussetzungen? Bin ich regional flexibel? Welche Berufserfahrung und welche Einschränkungen habe ich? Und, das darf man nicht vergessen: Wie sollte mein neuer Job entlohnt werden? Hier ist am Arbeitsmarkt nicht immer das Gehalt zu erzielen, das man gewohnt war.“
Bisher kein Kontakt zur Agentur für Arbeit
Rütgers als neues Opel-Bochum-Drama? Das könne man nur bedingt vergleichen, so Bunse. „Bei den Entlassungen der Firma Opel gab es eine erhebliche Vorlaufzeit. Und die Struktur der Beschäftigten war eine andere. Andererseits waren davon alleine in Castrop-Rauxel deutlich mehr als 200 Menschen betroffen. Davon sind wir hier weit entfernt.“ Kontakt zur Arbeitsagentur habe das Unternehmen bisher nicht gesucht. Aber ein Signal sendet Bunse, der versucht habe, die Rütgers-Unternehmensleitung zu erreichen, trotzdem: „Selbstverständlich unterstützt die Agentur für Arbeit – wie alle anderen von Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen auch – die Beschäftigten bei der Arbeitssuche.

Mitte Juli: Als dieses Bild von der Grundsteinlegung für eine 60-Millionen-Euro-Anlage entstand, waren die Stellenstreichungen gerade verkündet. © Matthias Stachelhaus
Bürgermeister Rajko Kravanja, der sich im März noch mit freute über die guten Nachrichten, gibt sich in dieser Woche recht diplomatisch. „Umstrukturierungen sind keine leichten Prozesse. Vor allem nicht für die Mitarbeiter, die nicht weiterbeschäftigt werden können“, sagt er auf Anfrage. Für jeden sei eine solche Situation mit viel persönlicher Unruhe verbunden. „Das kennt jeder von uns selbst oder hat es im Bekanntenkreis erlebt.“
Die zwischen Betriebsrat und Unternehmen geschlossenen Vereinbarungen böten aber Perspektiven auf. Davon habe er sich in Gesprächen selbst überzeugt. „Dass sich ein Traditionsunternehmen wie Rütgers zukunftsfähig aufstellt, um wettbewerbsfähig zu sein, sogar mit Blick auf die Marktführerschaft, ist auf die Standortsicherung in Castrop-Rauxel bezogen ein verantwortlicher Schritt.“
„Man hat wirklich den Eindruck, dass genug Arbeit da ist“
Das ändert nichts am teilweisen Unverständnis bei Mitarbeitern. „Das Unternehmen verdient ja Geld, und man hat wirklich den Eindruck, dass genug Arbeit da ist“, sagt ein Insider. Die Behandlung der Beschäftigten sei bislang fair. Aber: „Auch bei denen, die bleiben, gibt es großes Unverständnis und eine begründete Angst, dass sie auch angerufen werden.“
Am Samstag, 22. September, ist von 10 bis 16 Uhr ein Tag des offenen Werks. Dabei wird es wohl weniger um die Streichung von rund 100 Stellen gehen. Sondern eher um die Baustellen, die Produkte, die aus dem Teer gewonnen werden – und die schillernderen Pläne für die Zukunft.
Gebürtiger Münsterländer, Jahrgang 1979. Redakteur bei Lensing Media seit 2007. Fußballfreund und fasziniert von den Entwicklungen in der Medienwelt seit dem Jahrtausendwechsel.
