Dortmund kennt in Griechenland kaum jemand, aber das riesige Dortmunder U, das würden sie alle kennen. 25 Jahre lang, von 1963 bis 1988, verband der Hellas Express Deutschland und Griechenland – zwei Welten: 3000 Kilometer und 50 lange Stunden Zugfahrt. Letzter Halt: Dortmund.
1968, das Jahr, in dem das U auf die Unions-Bauerei kam, sitzt auch Stella Ananiadou (heute 87) mit ihren beiden Kindern Georgios und Despina in diesem meist brechend vollen Zug. Während viele Reisende lebende Tiere, Öfen oder Kühlschränke in die Abteile tragen, hält Stella nur einen Zettel in ihrer Hand. Barbaraheim steht darauf.
Jahre später wird sie einmal in Castrop-Rauxel und besonders in Ickern als „gute Seele der Agora“ bekannt sein. Doch in diesem Moment ist sie noch eine Unbekannte. Und gänzlich ahnungslos über das neue Land, in das sie kommt. Die 31-Jährige versteht kein Wort Deutsch. Ihr Mann Alexandros, genannt Aleko, machte sich schon drei Jahre zuvor als Gastarbeiter auf die Reise: „Er hatte nur eine Zeitung unter dem Arm, in der seine Hemden gefaltet waren“, erinnert sich Stella. Nun soll Aleko sie und die Kinder vom Dortmunder Bahnhof abzuholen. Doch ihr Mann kommt nicht. Stella macht sich Sorgen: „Damals gab es ja noch keine Handys.“

Erst zwei Griechinnen am Taxistand können Stella und ihren Kindern helfen. Sie schicken den Taxifahrer mit der kleinen Familie an Bord nach Ickern. Barbara ist die Schutzheilige der Bergleute, und Bergmann Aleko lebt mit vielen weiteren Gastarbeiten an der St.-Barbara-Kirche.
Als Stella dort ankommt, will Aleko gerade in ein Taxi steigen, um zum Dortmunder Bahnhof zu fahren und seine Familie auszuholen. Im ersten Moment erkennt er seine Frau gar nicht, so dünn wurde Stella in den letzten Jahren in der griechischen Heimat – und so lange hatte sich das Ehepaar schon nicht mehr gesehen.
Zwischen Ickern und Drimia
Das war einmal, vor 56 Jahren. Stella Ananiadou hat Ickern seither nie wieder verlassen. Die Taxi-Szene landet 1999 genau so im Theaterstück „Damals waren wir die Fremden…“ der Agora-Theatergruppe „Odysseus Schwestern“. Zehn griechische und deutsche Frauen spielten ihre Geschichte gemeinsam. Alle standen zum ersten Mal auf der Bühne.
Als Stella das erste Mal spielt, nimmt man sie nicht für voll: „Du spielst nicht für Geld, sondern nur aus Spaß? Verrückt.“ Doch Stella wird nie wieder damit aufhören. Auch 25 Jahre später steht sie noch auf der Bühne. Heute ist sie 87 Jahre alt, hat sechs Enkel und vier Urenkel.
Spricht man mit ihr über die Vergangenheit, fährt Leben in die kleine Frau. Um zu zeigen, wie die Männer damals auf dem heißen Herd tanzten, springt sie vom Stuhl auf und stampft auf den Boden. Stella wirft die Arme in die Luft und klatscht die Hände ineinander.
Zwischendurch wechselt sie ins bester vertraute Griechisch und greift ihre Gesprächspartner bei den Händen, wie um zu zeigen, dass das, was nun kommt, besonders wichtig ist. Stella klopft mit den knöchernen Fingern auf den Tisch und schiebt die Kaffeetassen umher – nun geht es um Geschichten aus Griechenland. Denn die 1937 geborene Stella erlebte dort wilde Zeiten.

Ihre Eltern lebten in einem kleinen Dorf mit 130 Familien. Es heißt Drimia und liegt im Nordosten des Landes. Man kennt sich. Schlachtet Stellas Vater ein Tier, teilt er es mit dem ganzen Dorf. Nichts wird weggeschmissen. Früh hilft auch die kleine Stella, das zweitjüngste von acht Kindern, bei der Tabak-Ernte mit, von der die ganze Region lebt. Mit acht Jahren steht sie auch das erste Mal an Herd: „Wenn meine Mutter krank war, habe ich gekocht und Brot gebacken.“
Fünf Jahre lang geht Stella zur Schule – damals ist das verhältnismäßig lange. Doch die Zeiten sind noch ganz andere als heute. 1941, Stella ist gerade vier Jahre alt, greift Nazi-Deutschland bei seinem Balkanfeldzug Griechenland an. Währenddessen lebt in Stellas Elternhaus in jedem der vier Zimmer eine andere Familie. In den Bergen um Stellas kleines Dorf verstecken sich Rebellen, die Widerstand leisten. Unvorstellbar damals, dass Stella – und mit ihr Zehntausende andere Griechen – weniger als 30 Jahre später als Gastarbeiter nach Deutschland kommen würden.
Schwerer Start
Als junge Frau lernt Stella ihren Aleko kennen, der in einem Nachbardorf lebt. 1959 heiraten die beiden. Noch in Griechenland bekommen sie zwei Kinder: Georgios und Despina. Doch die wirtschaftliche Lage wird schwerer – und 1964 geht Aleko als Gastarbeiter nach Deutschland, wird Bergmann auf der Zeche Victor 3/4 in Ickern. Vier Jahre später folgt der Rest der Familie.
„Am Anfang war das sehr schwer für mich“, sagt Stella: „Ich konnte die Sprache nicht, das neue Umfeld.“ Doch das habe sich schnell geändert, als Stella Arbeit in einer Strumpffabrik in Herne findet. Sie gewöhnt sich an die festen Arbeitszeiten und „die geordneten Verhältnisse“. In Ickern bekommt Stella noch ein drittes und letztes Kind: ihre Tochter Litsa.

Ende der 70er-Jahre kommt Stella erstmals in Kontakt mit der Griechischen Gemeinde, die damals noch keinen festen Sitz hat und sich mal hier, mal da Räume zum Treffen anmieten muss. Erst 1982 bekam die „Agora“ das heutige Gebäude in der stillgelegten Zeche Ickern. „Damals lag das Gelände brach und die Gebäude waren ziemlich heruntergekommen“, sagt sie. „Doch mit der Zeit und tatkräftiger Unterstützung vieler Freiwilliger haben wir die Gebäude und das Gelände aufgepeppelt.“
„Das ist meine Küche“
Es ist erst der Start von Stellas Engagement in der Agora-Gemeinde: 44 Jahre lang kocht sie im griechischen Kulturzentrum, spielt Theater, gibt Koch- und Nähkurse und wird zur guten Seele der Agora.
„Stella kennt in Ickern jeder“, sagt Karen Graeber, Koordinatorin des Mehrgenerationenhauses der Agora. Geht die 87-Jährige heute durch den großen Speiseraum, fliegen ihr die Begrüßungen nur so zu. „Das ist meine Küche“, sagt sie, als sie zwischen den Edelstahl-Arbeitsflächen steht. Hier hat sie Brot und Kuchen gebacken, anderen das Kochen beigebracht, für ihren Geburtstag Rinderbraten für 120 Menschen gekocht, 500 Souvlaki-Spieße und je einhundert Kilo Krautsalat und Zaziki.
Über sich selbst spricht Stella nur ungern, sagt aber: „Ich bin eine fleißige Frau und habe keine Angst vor der Arbeit.“

2007 bekam Stella Ananiadou vom damaligen Ministerpräsidenten Dr. Jürgen Rüttgers den Verdienstorden des Landes NRW – und überraschte ihn, auf ihre direkte Art, mit je einem Küsschen auf beide Wangen.
Das sollte nicht die letzte Würdigung bleiben. Im vergangenen Jahr reisten Stella und ihre Freundin Sofia Papadoupoulou, die auch in Ickern lebt, zusammen mit der Filmemacherin Andrea Lötscher in ihre griechische Heimat. Dabei entstand der 55-minütige Dokumentarfilm „Sofia & Stella – Zwei Erzählungen vom Dort im Hier“. Für den Film besuchten Stella und Sofia ihre Herkunftsdörfer im Nordosten Griechenlands. „Griechenland mein Herkunftsland, Deutschland meine Heimat“, sagt Stella.
„Sofia & Stella – Zwei Erzählungen vom Dort im Hier“
Die Dokumentation „Sofia & Stella – Zwei Erzählungen vom Dort im Hier“ über Stella Ananiadou und Sofia Papadoupoulou wird am Montag (4.11.2024) um 19 Uhr im Ratssaal am Europaplatz gezeigt.