
Bayer-Talent spricht über Schulhof, Herrlich und Klavier
Havertz im Exklusiv-Interview
Seit einer Woche ist Kai Havertz (18) von Bayer Leverkusen der jüngste Spieler mit 50 Bundesliga-Einsätzen. Vor dem Topspiel in Dortmund hat Jürgen Koers mit dem Offensivtalent über den Sprung vom Schulhof ins Stadion, besessene Trainer und Entspannung am Klavier gesprochen.
Sie haben vor einem Jahr Abitur gemacht. Wie viel Wissen steckt noch im Kopf?
Je älter ich werde, desto mehr lerne ich ja über das Schulische hinaus. Von den Abiturinhalten steckt noch einiges im Hinterkopf, manches habe ich aber, ehrlich gesagt, auch schon wieder vergessen. Auf dem Fußballplatz brauche ich ja nicht allzu viel davon.
Wie steht es mit Mathematik und Wahrscheinlichkeitsrechnung?
Das habe ich eher verdrängt (lacht).
Ich hätte eine Aufgabe: Wer mit 18 Jahren bereits 50 Bundesliga-Spiele absolviert hat, wie viele Partien könnte der bis zu seinem Karriereende wahrscheinlich bestreiten?
Oh, das ist schwer zu sagen. Wenn es so weitergeht, werden es einige. Ich hoffe das. Aber da spielen ja viele verschiedene Faktoren eine Rolle. Im Moment bin ich noch froh über jedes Spiel, in dem ich auf dem Platz stehen darf. Ich denke in kleinen Schritten.
Weg von den Zahlen, hin zu den Emotionen: Was bedeutet Ihnen dieser Rekord, der jüngste Spieler mit 50 Ligaspielen zu sein?
Das ist schön zu hören, klar. Ich speichere das auch ab. Gleichzeitig stecken wir in einer ganz wichtigen Saisonphase, da konzentriere ich meine Gedanken besser auf die Mannschaft und unseren Erfolg.
Bleibt im Profigeschäft gar nicht die Zeit, sich zu freuen?
Kaum. Wir haben jetzt zwei gute Spiele gemacht, in Leipzig und gegen Frankfurt (jeweils 4:1). Das war sofort Vergangenheit, denn dann kamen die Bayern. Wir sind im DFB-Pokal am Dienstag leider rausgeflogen (2:6), und sofort muss der Fokus auf Samstag liegen.
Als Sie noch jünger waren, haben Sie doch sicherlich davon geträumt, darauf gehofft, eines Tages Profifußballer zu werden. Erfüllen sich die Erwartungen?
Ich weiß gar nicht mehr, was ich damals für Vorstellungen hatte. Ich hatte mir sicher viel ausgemalt. Einiges davon ist eingetreten, manches fühlt sich anders an, wenn man auf dem Platz steht. Ganz so weit davon entfernt waren meine Erwartungen nicht.
Sie spielen seit 2010 für Bayer 04, damals waren sie erst 11. Dass Sie großes Talent hatten, war also früh klar. War das dann mehr Verpflichtung, Herausforderung oder Druck?
Es gibt so viele junge Spieler, die viel Talent mitbringen und viele gute Eigenschaften haben. Aber am Ende setzen sich nur wenige durch. Da kommt es dann auf die Kleinigkeiten an. Deswegen ist es für jeden Spieler, egal wie viel Talent er hat, immer eine Herausforderung.
Welche Kleinigkeiten haben Sie richtig gemacht?
Wie man das auf dem Platz merkt, kann ich gar nicht sagen. Ich schätze, ich habe mir immer einen klaren Kopf bewahrt. Es ist wichtig, sich nicht allzu viele Gedanken zu machen. Vielleicht hat es deswegen geklappt.
Dann mal einige Zitate über Sie: „Die Zukunft der DFB-Elf“, oder „Das ist der neue Ballack“. Wie behält man da kühlen Kopf?
Das freut mich zu hören. Aber ich bin 18 Jahre alt, ich habe noch nicht viel erreicht, und diese Vergleiche sind doch sehr weit hergeholt.
Soll ich mal mit Ihrem Sportdirektor Rudi Völler schimpfen, der das gesagt hat?
Nein, das auch nicht. Ich will mir darauf aber nichts einbilden, sondern mich immer weiter verbessern. Rudi Völler hat ja auch gesagt, dass meine Entwicklung noch weitergehen muss und es viel Arbeit braucht, damit derartige Dinge vielleicht irgendwann mal real werden.
Lars Ricken, der das Dortmunder Nachwuchsleistungszentrum leitet, sagt, dass er heute gerne nochmal Profi wäre, aber nicht Nachwuchsspieler. Können Sie die Einschätzung teilen?
Das kann ich unterschreiben. Wenn man mehrere Aufgaben wie Schule, Fußball im Verein und sogar mit der U-Auswahl parallel bewältigen muss, ist das eine große Belastung. Man muss sich gleichzeitig auch Gedanken um die Zukunft machen, denn es sind nicht viele Jugendspieler, die es nachher in den Profibereich schaffen. Das ist schon eine enorme Last gewesen. Es gab auch für mich viele Rückschläge auf dem langen Weg, damit muss man als junger Mensch auch umzugehen lernen. Da ist man erleichtert und froh, wenn man es geschafft hat.

RN-Reporter Jürgen Koers traf Bayer-Youngster Kai Havertz zum Interview.
Hatten Sie Rückschläge? Das sieht bislang so gradlinig aus.
Na klar, wie jeder andere auch. Es gab ein Jahr in der U15, da war ich nicht gut drauf. Im ersten Jahr U17 saß ich nur auf der Bank. Das waren für mich Rückschläge. Daraus musste ich lernen, ich und bin hoffentlich stärker daraus hervorgegangen.
Auf dem Schulhof sagen viele, dass sie gerne Fußballprofi werden wollen. Wie sieht das aus, wenn man es tatsächlich schaffen kann?
Dann muss man die Chance nutzen. Es ist doch klar, dass viele Kinder und Jugendliche Fußballer werden möchten. Aber das erreichen eben nur wenige. Es macht mich ein bisschen froh und stolz, dass ich es geschafft habe und einen so großen Klub wie Bayer 04 Leverkusen vertreten darf.
Welche Alternativen hatten Sie im Kopf?
Auf jeden Fall wollte ich etwas im Sportbereich machen. Ich habe ja auch das Abitur gemacht, um eine Alternative zu haben, wenn es mit dem Fußball nicht geklappt hätte. Zum Glück ist es anders gekommen.
Sport liegt Ihnen im Blut, auch familiär. Gab es auch andere Themen?
Ja, unbedingt. Das ist auch wichtig. Wenn ich mal zu meiner Familie fahre, tut es gut, auch über anderes zu reden. Fußball war und ist da oft im Gespräch, aber eben nicht nur.
Sie lernen ein Instrument, wenn meine Informationen stimmen.
Ja. Ich lerne im Moment Klavier. Es macht mir Spaß, und ich kann gut vom Fußball abschalten. Musik mag ich eh gerne.
Sind die Finger so talentiert wie die Füße?
Leider noch nicht (lacht). Daran muss ich noch arbeiten.
Ein junger Fußballer, der klassische Musik mag - dürfte fast ein Einzelfall sein, oder?
Nicht unbedingt. Bei uns spielen mehrere Jungs ein Instrument. Vielen gefällt Musik, egal ob sie sie spielen oder hören.
Sie sind seit etwa eineinhalb Jahren im Kreis dieser Mannschaft. Genießen Sie noch Welpenschutz?
Am Anfang war das so. Inzwischen werde ich nicht mehr wie ein junger Spieler behandelt, sondern eher wie ein gestandener Profi. Da gibt es dann auch mal was auf die Ohren.
Das heißt, ein Spieler wie Charles Aranguiz lässt Sie im Training auch mal Härte spüren?
Das gehört dazu. Ich lerne viel von den älteren Spielern. Das tut in der Situation selbst manchmal ein bisschen weh, aber es hilft in der weiteren Entwicklung.
Im ersten Profijahr haben die Trainer Sie hin- und hergeschoben. Heiko Herrlich betraut Sie mit einer besonders wichtigen und verantwortungsvollen Aufgabe: Sie spielen zentral im offensiven Mittelfeld.
Das liegt mir auch am besten. Dort fühle ich mich am wohlsten, dort bin ich zumindest aus meiner Sicht derzeit am besten aufgehoben. Da habe ich auch immer in der Jugend gespielt.
Welche Rolle spielt Ihr Trainer Heiko Herrlich für Sie?
Eine große. Ich kann froh sein, dass er mich in dieser Saison so oft spielen lässt. Das empfinde ich durchaus als eine Wertschätzung für mich, das motiviert mich sehr. Ich verstehe mich auch ganz gut mit ihm.
Herrlich hat Erfahrung mit Jugendmannschaften. Ist das ein Vorteil für ihren jungen Kader?
Auf jeden Fall. Er kann sehr gut mit jüngeren Spielern umgehen, sie entwickeln. Er kennt sich da einfach gut aus, er tut uns gut. Wenn einer von uns jungen Spielern einen Fehler macht, dann lässt er uns nicht auf der Bank schmoren, sondern gibt uns im nächsten Spiel wieder neues Vertrauen. Das hilft jedem Spieler.
In einem Porträt im „Kicker“ wurde Ihr Trainer vor Kurzem als „Freak“ beschrieben. Zu Recht?
Ein bisschen übertrieben. Oder sagen wir es so: Jeder hier in der Mannschaft ist versessen auf Fußball. Das muss auch so sein. Mittlerweile haben das doch viele Trainer, es gehört zu ihrem Job: Sie müssen das Beste aus ihrer Mannschaft herausholen. Dazu müssen sie jedes System in- und auswendig kennen und im Hinterkopf haben, die Mannschaft immer wieder neu auf die kommenden Gegner einstimmen. Da muss man ein Stück weit besessen sein. Aber wie gesagt, das kann man bei uns für einen Großteil der Mannschaft behaupten. Ohne diese besondere Empathie kann man heute nicht mehr erfolgreich sein.
Als Erfolg würde ich auch 22 Torbeteiligungen in nur 50 Bundesliga-Spielen werten. Dafür brauchen viele andere Kicker eine halbe Karriere.
Ich freue mich, wenn ich zum Erfolg beitragen kann. Die Zahl hört sich nicht so schlecht an. Aber ich kann noch viele Sachen verbessern.
Wo gibt es noch Schwächen?
Der rechte Fuß könnte noch stärker werden. Und ich werfe mir manchmal selber vor, dass ich zu wenig Tore mache. Da könnten noch mehr dazukommen.
Fehlt noch Zielstrebigkeit?
Ja, schon. Ich lege mehr den Fokus auf Vorlagen, will die Mitspieler stärker aussehen lassen. Die gesunde Mitte wäre nicht schlecht.
Was zeichnet Leverkusener Fußball aus?
Im Moment unser Angriffsfußball. Wir spielen die Konter, die wir haben, ganz gut aus und kreieren viele Torchancen. Im Vergleich zum Vorjahr spielen wir auch gut hinten aus der Abwehr heraus und insgesamt besseren, attraktiveren Fußball. Und das auch noch relativ erfolgreich. Da kann man sich bis jetzt nicht beschweren.
Am Samstag geht es nach Dortmund. Der BVB schwankt in seinen Leistungen. Kommen die zur rechten Zeit?
Das würde ich nicht sagen. Die haben in den letzten Partien nicht ihre beste Seite gezeigt. Aber da stehen immer noch ausschließlich gestandene Bundesligaspieler und Nationalspieler auf dem Platz. Da gibt es auch Spieler, die eine Partie alleine entscheiden können. Das müssen wir sehr ernst und konzentriert angehen, das ist sicher. Wenn wir das schaffen, können wir auch etwas mitnehmen.
Was auffällt: Mit Ihnen, Julian Brandt (21) und Leon Bailey (20) stehen da ganz frische, unverfrorene Fußballer auf dem Platz. Was bewirkt das?
Da sind ja noch viel mehr junge, talentierte Kicker auf dem Platz wie Panos Retsos, Tin Jedvaj, Benny Henrichs, Jonathan Tah. Insgesamt ist es aber eine gute Mischung mit den älteren Spielern. Vorne merkt man uns manchmal an, dass wir noch nicht so erfahren sind. Bei einer Partie wie am Dienstag gegen die Bayern, wenn man fast perfekt spielen muss, hätten wir noch einige Situationen besser ausnutzen können. Das lernt man erst im Laufe der Jahre. Grundsätzlich können wir zufrieden sein mit dem, was wir mit dieser jungen Mannschaft bislang geleistet haben.
Sie stehen kurz davor, wieder in die Champions League einzuziehen. Erinnern Sie sich noch an Ihr Debüt?
Auf jeden Fall habe ich großen Bock auf Champions League. Nach WM oder EM ist es das höchste Niveau, das man als Spieler spielen kann. Mein Debüt war in Wembley - da will ich wieder hin, ich vermisse es. Noch vier Spiele, und wir packen das.
Wann fahren Sie zu einer WM oder EM?
Hoffentlich darf ich da in Zukunft auch mal mitspielen. Ein Traum, für den es sich zu arbeiten lohnt.
Sie haben mit Ihrem Rekord für das früheste 50. Bundesliga-Spiel immerhin Kollegen wie Julian Draxler, Mario Götze oder Timo Werner unterboten.
Dann hoffe ich mal, dass ich einen ähnlichen Weg einschlagen kann. Ich schaue auch darauf, was andere machen, da guckt man sich hier und da auch mal was ab.
Mesut Özil ist Ihr Vorbild. Warum?
Seine Spielweise, diese Ruhe am Ball, das ist einfach wunderschön anzuschauen, wenn er spielt.
Özil fehlt auch die Zielstrebigkeit in Richtung Tor …
Na, ein paar Törchen hat er ja auch schon gemacht, und nicht die schlechtesten. Da schaue ich dann doch nur auf mich. Das will ich persönlich künftig besser machen.
Schon als Kind wollte ich Sportreporter werden. Aus den Stadien dieser Welt zu berichten, ist ein Traumberuf. Und manchmal auch ein echt harter Job. Seit 2007 arbeite ich bei den Ruhr Nachrichten, seit 2012 berichte ich vor allem über den BVB. Studiert habe ich Sportwissenschaft. Mein größter sportlicher Erfolg: Ironman. Meine größte Schwäche: Chips.
