Es sollte weitergehen mit den Schmerzen. Nicht genug, dass die deutsche Fußballnationalmannschaft dermaßen unansehnlich Fußball gespielt hatte, dass die Augen hätten tränen und das Sportlerherz bluten müssen. Auf die Pfiffe der Fans in der Schalker Arena, die den Abpfiff 50.000-fach verstärkten und in die Länge zogen, reagierte die Stadionregie mit noch lauterer Musik aus den dezibelstarken Boxen.
Es dröhnte unangenehm in den Ohren. Einem Tinnitus ähnelnden Fiepen gleichen dürften auch die Kanonaden an Kritik, die nach dem 0:2 der DFB-Elf gegen Kolumbien vor allem bei Bundestrainer Hansi Flick nachhallen werden.
„Wenn wir es auf den Punkt bringen, ist es in die Hose gegangen. Das, was wir ausprobiert haben, hat in dieser Form nicht geklappt“, gestand der 58-Jährige. Nach vier Niederlagen in fünf Spielen des Jahres 2023 und ein Jahr vor der Europameisterschaft gehen Flick sämtliche Argumente aus. Eine verunsicherte Mannschaft hat er mit immer weiteren Experimenten in ein heilloses Durcheinander gecoacht, Spieler brüskiert (Süle, Füllkrug, Schlotterbeck, Ginter) oder sinnfrei überhöht (Kimmich). Handwerklich muss er sich vorwerfen lassen, außer Form befindliche Akteure mit Aufgaben außerhalb ihres natürlichen Spielfeldes noch weiter in die Schaffenskrise befördert zu haben. Aus unerfindlichen Gründen kicken bei ihm nahezu alle Spieler schlechter, als sie es eigentlich können.
Flick erhält Rückendeckung von Völler
Im Presseraum der Schalke-Arena wurde Flick in der Nacht zum Mittwoch gefragt, ob er persönliche Konsequenzen ausschließe. „Natürlich ist es eine Situation für mich, die ich so in dieser Form noch nicht erlebt habe. Ich gewinne Spiele sehr, sehr gerne. Und ich hasse wirklich zu verlieren“, antwortete der Heidelberger. „Ich habe gesagt, ich gehe kompromisslos im Juni diesen Weg“, schloss er an. Flick will also nicht von selbst den Stuhl räumen. Den massiven Vertrauensverlust, gerade auch bei den Fans, hält er für reparabel. Nach dem WM-Desaster und dem völlig vermurksten Neuanfang in diesem Jahr gibt es diesbezüglich mehr Zweifel als Zustimmung.
Statt des erhofften Stimmungsumschwungs und eines Hauchs von Vorfreude auf ein Fußballfest im Sommer 2024 hat der Lehrgang mit den drei Partien gegen die Ukraine (3:3), Polen (0:1) und Kolumbien (0:2) die Fans im eigenen Land im besseren Fall maßlos verärgert – und im schlechteren Fall eine endgültige Abkehr von einer Mannschaft bewirkt, die einst der Deutschen liebstes Kind war und nur noch ein ignoriertes Mündel ist. Einschaltquoten um die fünf Millionen zeigen: Wenn der DFB und seine Vorzeige-Elf so weitermachen, interessieren sie bald keinen mehr.
Rückendeckung erhielt der Bundestrainer noch am Spielabend von Rudi Völler. Flick sei doch „am Ende die ärmste Sau“, meinte der 63-Jährige, der müsse ja mit den Spielern arbeiten, die da seien. Wie bitte? Vor wenigen Monaten hatte der Sportdirektor für die Nationalmannschaften Deutschland noch auf dem gleichen Niveau gesehen wie Weltmeister Argentinien. Nun die Rolle rückwärts. „Es fehlt bei dem einen oder anderen an der Topqualität“, sagte Völler. „Wir haben einige gute Spieler, die ganz oben im Regal sind. Aber wir haben auch einige Spieler, die werden es nicht schaffen für die Europameisterschaft.“ Rumms! Einmal in Fahrt, bemängelte Völler auch gleich noch die Leidenschaft: „Für die Kolumbianer war das wie ein WM-Spiel.“ Man müsse daher genau schauen, „dass man die richtigen Spieler beim nächsten Länderspiel einlädt“, sagte er. Hat man das zuletzt nicht getan? Warum nicht? Völler, diese Befürchtung bewahrheitet sich immer mehr, ist mehr aufgrund der Aura verblasster Erinnerungen als durch inhaltliche Kompetenz ins Amt gehievt worden.

Es dürfte Fragen hageln bei den nächsten Treffen der DFB-Spitze. Ein Aus für den teuren Flick und sein Team kann sich der klamme Verband kaum leisten, die verfügbaren Alternativen stehen auch nicht gerade Schlange. Mit seinen Durchhalteparolen („Ich kann versprechen, dass wir im September eine andere Mannschaft sehen“) macht sich der einzige Hauptamtliche unter den Millionen deutschen Bundestrainern nicht vertrauenswürdiger. Verbesserungsversprechen alleine sollten den Entscheidern um Präsident Bernd Neuendorf, Liga-Boss Hans-Joachim Watzke und Krisenmanager Völler in den fast drei Monaten bis zu den nächsten Länderspielen gegen Japan und Frankreich nicht genügen. Dieses Vorgehen hatte schon in der Spätphase von Flick-Vorgänger Joachim Löw auf direktem Weg in den sportlichen Abstieg und den Abschied aus der erweiterten Weltklasse geführt. Ein Jahr vor der Euro ist Gastgeber Deutschland nicht einmal EM-tauglich.
Die DFB-Bosse stehen noch zu Flick. Auch die Spieler, die in seinen Versuchsanordnungen nicht liefern (können), hat er augenscheinlich nicht verloren. „Wir haben absolutes Vertrauen in ihn“, sagte etwa Torwart Marc-André ter Stegen. Leon Goretzka nannte die Situation jedoch „dramatisch“, Robin Gosens sprach von einem „Negativstrudel“. Es kommen aber auch Hilferufe aus der Mannschaft.
DFB: Zeichen für jahrelange Fehlentwicklungen
Defensivakteur Emre Can, völlig überraschend als zentraler Mann in die Dreierkette beordert, benannte eine Sofortmaßnahme, wenn er etwas zu sagen hätte: „Viererkette! Wir haben gesehen, dass wir keine Mannschaft sind, die Dreierkette spielen kann.“ Als Affront gegenüber Flick sei das nicht zu verstehen. „Deswegen müssen wir den Trainer aber nicht in Frage stellen. Wir Spieler sind dafür verantwortlich, unsere Leistung auf den Platz zu bringen.“ Profis, die ungefragt betonen, welche Ehre es für sie ist, für Deutschland aufzulaufen, spielen dann, als seien sie gerade aus einer Hypnose erwacht. Bald muss man den Spielern gratulieren, die für die aktuelle Maßnahme nicht nominiert worden sind – ihr Image nimmt beträchtlich weniger Schaden als das der Kollegen.
Nicht zuletzt steht hinter der DFB-Elf ein Verband, der trotz aller Bemühungen des pragmatischen Präsidenten Bernd Neuendorf nicht zur Ruhe kommt. Ihn plagen Steuerprobleme, mit der Akademie in Frankfurt verbaut ein Millionengrab den Weg in die Zukunft und beim Nachwuchs fehlt es an Masse und immer öfter an Klasse. Der Niedergang des Flaggschiffs Nationalmannschaft ist nur das eindringliche Beispiel für jahrelange Fehlentwicklungen. Wenn der DFB sich keine Alternative zu Flick leisten kann, ist dies das schwächste aller möglichen Argumente. Doch welcher Trainer könnte die Fußballnation wachrütteln, wäre ab sofort verfügbar und – wichtige Ergänzung – so schlecht beraten, sich dieses Himmelfahrtskommando DFB-Auswahl anzutun?
Trainerdiskussionen, Systemfragen, Qualitätsdebatten – nach den jüngsten Eindrücken stehen die Chancen schlecht, dass der DFB und die Nationalmannschaft in naher Zukunft die vielen Risse geflickt bekommt.
Mit dpa-Material