Borussia Dortmund gegen RB Leipzig ist auch ein Kampf der Kulturen. Das Konstrukt Rasenballsport trifft seit Jahren auf Ablehnung – bereits zu Beginn eskalierte der Streit. Eine Chronologie.

Dortmund

, 06.05.2021, 06:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

Seinen bislang negativen Höhepunkt erreicht die schwierige Beziehung zwischen RB Leipzig und Borussia Dortmund schon im ersten Jahr der Bundesliga-Zugehörigkeit der Sachsen. Genauer am 4. Februar 2017, als Aufsteiger Leipzig zum ersten Mal im Signal Iduna Park gastiert. Dortmund gewinnt dieses Spiel mit 1:0, doch das verkommt an jenem Samstagabend zur absoluten Randnotiz. Dass die Partie bundesweite Schlagzeilen schreibt und sogar die große Politik auf den Plan ruft, hat seine Ursache in einer Flut aus geschmacklosen, beleidigenden und zu Gewalt aufrufenden Plakaten im Stadion („Bullen schlachten“, „Burnout Ralle: Häng Dich auf!“), deren unerträglichen Anblick die Gäste über 90 Minuten ertragen müssen – und im Gewaltexzess einiger Dortmunder Anhänger aus der radikalen Ultra-Szene außerhalb der Stadionmauern.


Radikale BVB-Ultras attackierten Anhänger von RB Leipzig

Vor dem Stadion in Höhe der Roten Erde attackieren einzelne Mitglieder aus der gewaltbereiten Ultra- und Hooliganszene rund 1000 Gäste-Anhänger, die mit einem Sonderzug angereist sind. Leuchtraketen fliegen, Mülleimer, Farbbeutel, Essensreste und leere Bierflaschen. Sie treffen nicht nur Anhänger, die aufgrund ihrer Kleidung als solche zu erkennen sind. Der wütende Mob attackiert auch Familien mit Kindern. Der Hass auf das ungeliebte Konstrukt Rasenballsport Leipzig erreicht an diesem Abend eine neue Dimension.

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Die Schreckensbilanz: zehn Verletzte, darunter auch vier Polizisten, etliche Fußball-Fans im Schockzustand, traumatisierte Kinder. Der damalige Einsatzleiter der Polizei, Edzard Freyhoff, gibt im WDR-Fernsehen zu: „Wir hatten nicht erwartet, dass es zu einer solchen Gewaltexplosion kommt.“ Im Nachgang leitet die Polizei 168 Strafverfahren ein, 31 Stadionverbote werden nach Sichtung des Video-Materials ausgesprochen, 16 davon gelten bundesweit.

BVB gegen Leipzig: Tradition gegen Marketing

Nicht nur die Polizei, die diese Partie trotz der unverkennbaren Signale im Vorfeld und trotz der dringlichen Bitte des BVB nicht als Hochrisiko-Spiel einstuft und mit nur rund 250 Beamten vor dem Stadion präsent ist, gerät anschließend ins Kreuzfeuer der Kritik. Dort findet sich auch BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke wieder.

2017 zeigte die Südtribüne – teilweise beleidigende – Banner gegen Leipzig.

2017 zeigte die Südtribüne – teilweise beleidigende – Banner gegen Leipzig. © imago/MIS

Watzke ist der Retortenklub aus Sachsen seit seinem unaufhaltbaren Aufstieg ein Dorn im Auge. Damit bewegt er sich im Prinzip auf einer Linie mit der aktiven Fan-Szene, die das Fehlen jeglicher gewachsener Strukturen und Tradition ebenso anprangert wie das Finanzkonstrukt mit der Red Bull GmbH. Diese ist zu 99 Prozent Gesellschafter der „RasenBallsport Leipzig GmbH“, in die die Lizenzspieler-Abteilung und alle Nachwuchsmannschaften bis zur U15 nach dem Leipziger Aufstieg in die 2. Bundesliga 2014 ausgegliedert worden sind. Damit wird der Klub de facto von Red Bull kontrolliert, was im krassen Gegensatz zur geltenden „50+1-Regel“ steht.

RB Leipzig ließ bei BVB-Boss Watzke schon früh die Alarmglocken klingeln

Schon als RB Leipzig 2009 auf Initiative der Red Bull GmbH gegründet wird und zur Saison 2009/10 das Startrecht des fünftklassigen Nordost-Oberligisten SSV Markranstädt übernimmt, dürften beim Dortmunder Watzke die Alarmglocken geklingelt haben. Watzke hat einen Riecher für Strömungen im mit Geld überschwemmten Fußballmarkt, auf dem für Tradition und Romantik immer weniger Platz ist. Er hat den Aufstieg des VfL Wolfsburg mit ansehen müssen, den der TSG Hoffenheim. Und jetzt RB Leipzig.

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Der Aufstieg des emporstrebenden Klubs aus Sachsen ist unaufhaltsam und akribisch geplant. 2012, mittlerweile spielt RB in der Regionalliga, steigt Ralf Rangnick als Sportdirektor ein und verpflichtet nach dem Durchmarsch in die 3. Liga ein Jahr später den 19-Jährigen Yussuf Poulsen für kolportierte 1,5 Millionen Euro. Und einen gewissen Joshua Kimmich vom VfB Stuttgart.

Der BVB war der erste Gast bei Bundesligist RB Leipzig

Aufsehenerregende Transfers, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Die dritte Liga bleibt nur Durchgangsstation, in Liga zwei bleibt RB immerhin ein zweites Jahr. Im Sommer 2016 ist man am Ziel. Im ersten Heimspiel als Bundesligist kommt ausgerechnet Borussia Dortmund ins schicke Leipziger Stadion. Tradition trifft auf einen Emporkömmling, der durch ein Tor von Naby Keita in der 89. Minute seinen ersten Sieg in Deutschlands oberster Spielklasse feiern kann.

Watzke hat dem Konstrukt RB Leipzig immer kritisch gegenübergestanden und diese Kritik auch öffentlich geäußert. „Bei Rasenballsport, wie sie ja tatsächlich heißen, haben wir das erste Mal – auch im Gegensatz zu Hoffenheim oder Wolfsburg – den Fall, dass da nichts, aber auch gar nichts historisch gewachsen ist“, hat Watzke gesagt. Verbrieft ist auch der Satz „Rasenschach Leipzig, da wird Fußball gespielt, um eine Getränkedose zu performen“.

BVB gegen Leipzig: Watzke goss zusätzlich Öl ins Feuer

Bis zum Abend des 4. Februar 2017 gehen diese Sätze als pointierte Meinungsäußerung durch, an diesem Abend fliegen ihm die Sticheleien um die Ohren. Der renommierte Fanforscher Günter A. Pilz vertritt die Meinung, Watzke habe mit seinen Aussagen zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Watzke solle „mal in sich gehen und seine Aussagen überprüfen. Das würde wenn schon nicht zu einer Beruhigung, so wenigstens zur Verhinderung der Eskalation der Lage beitragen.“

Dass sich Watzke und BVB-Präsident Dr. Reinhard Rauball am Tag nach den Gewaltszenen mit eindeutigen Worten glaubhaft entschuldigen und klar distanzieren, spaltet die Dortmunder Fan-Szene und bringt dem Dortmunder Geschäftsführer später Morddrohungen ein. Sie werden dem rechten Spektrum der mittlerweile aufgelösten Dortmunder Hooligan-Gruppierung „0231Riot“ zugeschrieben.

Wegen Beleidigungen gegen RB Leipzig blieb die Dortmunder Südtribüne leer

Für die vom Ordnungsdienst nicht einkassierten Hass-Plakate im Stadion kassiert der BVB vom DFB-Sportgericht eine empfindliche Strafe. Im folgenden Heimspiel gegen den VfL Wolfsburg bleibt die Südtribüne leer, der Fan-Ausschluss von über 24.000 Anhängern macht die Gelbe zur Grauen Wand. Den Anblick der leeren „Herzkammer“ kann Watzke kaum ertragen. „Das sind schreckliche Bilder“, sagt er getroffen, „ich gucke da gar nicht mehr hin, das ist eine tiefe Zäsur.“ Der BVB schlägt die Wölfe 3:0, Jakub „Kuba“ Blaszczykowski, der im Trikot der Gäste zum ersten Mal wieder in Dortmund ist und von den Zuschauern, die da sein dürfen, frenetisch gefeiert wird, prägt einen Satz, der heute besondere Gültigkeit hat: „Fußball ohne Fans ist kein Fußball.“

Acht Monate nach den Gewaltexzessen rund um das Leipzig-Gastspiel formiert sich erneut der Protest. „Dietrich Mateschitz‘ Projekt ist heute genauso abzulehnen wie damals. Wir dürfen es niemals hinnehmen, dass ein Konzern den Fußball als Werbeplattform für sein Produkt missbraucht, allen Hofierungen und Anbiederungsversuchen zum Trotz“, teilte die Ultra-Gruppe „The Unity“ im Herbst 2017 in einem gemeinsamen Aufruf mit dem Fanclub-Zusammenschluss „Südtribüne Dortmund“ mit: „Alles, woraus unser Sport seine Faszination zieht, wird von RasenBallsport mit Füßen getreten.“

Die aktive BVB-Fanszene lehnt bis heute das Konstrukt RB Leipzig ab

Die aktive Fanszene bleibt bis heute bei ihrer strikten Ablehnung des Konstrukts RB Leipzig. Es ist das einzige Auswärtsspiel, zu dem die Fan-Abteilung keine Busreisen organisiert. Als Dortmund im August 2016 erstmals in Leipzig spielt, treffen sich die BVB-Fans stattdessen in der Roten Erde zum Rudelgucken.

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Auf der Funktionärsebene hat sich das Verhältnis mittlerweile normalisiert. Auffällig oft hat auch Hans-Joachim Watzke die geleistete Arbeit in Leipzig gelobt, „von Oliver Mintzlaff bis zu Julian Nagelsmann machen dort alle einen außerordentlich guten Job“, hat Watzke gesagt. Eine kritische Haltung zum „Brauseklub“, der sich anschickt, Borussia Dortmund als zweite Kraft hinter den Bayern anzugreifen, billigt er dennoch. Mit einer klaren Einschränkung: „Kritik darf sich niemals in Gewalt und persönlichen Beleidigungen äußern!“