„Ich stand da mit offenem Mund“ - der rasante Aufstieg von BVB-Youngster Jamie Bynoe-Gittens

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„Ich stand da mit offenem Mund“ - der rasante Aufstieg von BVB-Youngster Jamie Bynoe-Gittens

rnBorussia Dortmund

Jamie Bynoe-Gittens soll beim BVB in die großen Fußstapfen von Jadon Sancho und Ousmane Dembele treten. Schon im Jugendalter brachte er seine Trainer zum Staunen. Die Geschichte eines rasanten Aufstiegs.

Dortmund

, 14.04.2022, 06:00 Uhr / Lesedauer: 5 min

Jamie schaute etwas schüchtern, als er mit seiner Mutter Sharon auf den Sportplatz kam. Reading, westlich von London, Caversham Trents heißt der Klub. Blau-weiße Trikots, sieben gegen sieben, Trainer der U6: Andy Horn. „Ich erinnere mich noch genau, wie die beiden vor mir standen“, sagt der Coach im Gespräch mit den Ruhr Nachrichten. Ein Kollege aus dem Vorstand hatte Familie Bynoe-Gittens zu ihm geschickt, und er wollte den Jungen an jenem Samstagmittag gleich wieder wegschicken. Die Mannschaft hatte sich bereits umgezogen, einen neuen Spieler ohne ein einziges gemeinsames Training einzusetzen, widersprach Horns Prinzipien. Da klappte Jamie Bynoe-Gittens enttäuscht und traurig das Kinn runter, und der Trainer konnte nicht anders. „Ich habe ihm ein freies Trikot in die Hand gedrückt, er hat es übergestreift, ist sofort zu den anderen Jungs geflitzt. Und dann habe ich nur noch gestaunt.“

Jamie Bynoe-Gittens: „Dieser Junge ist etwas ganz Besonderes“

Die anderen sieben Minikicker der Trents verfolgten den neuen Jungen, der mit dem Ball quer über den Platz dribbelte. Doch wie sehr sie sich mühten, wie sie ihn auch attackierten, gemeinsam jagten: Jamie Bynoe-Gittens fand immer einen Ausweg, er schlug Haken, narrte sie mit Tricks und Körpertäuschungen. Keiner konnte ihm den Ball abnehmen. „Ich stand da mit offenem Mund. Ich konnte nicht einmal sagen, ob er Rechts- oder Linksfuß ist“, berichtet Horn. „Jamie war schnell, ungeheuer sicher in der Ballbehandlung. Wir hatten eine gute Mannschaft, aber jeder konnte auf den ersten Blick sehen: Dieser Junge ist etwas ganz Besonderes.“ Horn wechselte Bynoe-Gittens zum Ende des Spiels ein. Zehn Minuten, drei Tore. Nichts konnte ihn stoppen. Und er war erst fünf Jahre alt.

Knapp zwei Jahre blieb das Ausnahmetalent bei seinem ersten Klub. Die Mannschaft wurde Meister in ihrer Staffel, von 120 Toren erzielte Bynoe-Gittens 70 oder 80, das weiß Horn nicht mehr genau, die meisten der anderen Treffer legte er auf. Schnell kamen die Talentspäher aus London rüber, vom FC Chelsea, vom FC Arsenal, von den Queens Park Rangers. Die Eltern Sharon und Mike Bynoe-Gittens, die auch noch eine Tochter haben, wählten aus allen Offerten den lokalen Ausbildungsverein FC Reading. Dort blieb der Hochbegabte, bis er mit 14 Jahren in die Akademie von Manchester City wechselte. Und zwei Jahre später seine fußballerische Zukunft Borussia Dortmund anvertraute.

BVB-Youngster Bynoe-Gittens: Entertainer mit Experimentierkasten

Sein außergewöhnliches Talent führte beim BVB zu außergewöhnlichen Maßnahmen. Als die Dortmunder Scouts auf diesen Bynoe-Gittens aus der City-Jugend aufmerksam wurden, benötigten sie kaum Beobachtungen live vor Ort. Es mussten keine Mengen an Daten und keine Bündel an Papier erstellt werden. Die Besonderheiten dieses jungen, kindlich verspielten Fußballers stachen direkt hervor. Die Kurzfassung: Was der kann, kann man nicht lernen. Und was der noch nicht kann, das kann er lernen. Am besten beim BVB.

Jamie Bynoe-Gittens (r.) stand beim 2:0-Sieg in Stuttgart erstmals im Profi-Kader des BVB.

Jamie Bynoe-Gittens (r.) stand beim 2:0-Sieg in Stuttgart erstmals im Profi-Kader des BVB. © imago / RHR-Foto

Auf den Kunstrasenfeldern der Akademie in Manchester seien mittags manchmal 50 Spieler gleichzeitig dem Ball hinterhergesagt, erzählte Bynoe-Gittens „The Secret Scout“. Dass er dabei diesen immanenten Spieltrieb weiterentwickelte und die Fähigkeit, sich auf engstem Raum durchzusetzen, sei doch nur natürlich gewesen. Als Flügelspieler habe er von seinen Coaches immer gehört, er solle er selbst sein. Ein Entertainer mit einem reichlich gefüllten Experimentierkasten. Ein Junge, der zocken will. Geleitet von seiner Intuition, angetrieben von Kreativität, gesegnet mit Talent. Horn ließ seine Mini-Kicker damals bei den Caversham Trents die Übungen abwechselnd mit dem starken und mit dem schwächeren Fuß absolvieren. Bei Jamie Bynoe-Gittens machte das kaum einen Unterschied.

Die Caversham Trents 2009 - obere Reihe rechts Jamie Bynoe-Gittens, hinter ihm sein erster Trainer Andy Horn.

Die Caversham Trents 2009 - obere Reihe rechts Jamie Bynoe-Gittens, hinter ihm sein erster Trainer Andy Horn. © Andy Horn

BVB-Jugendchef Lars Ricken: „Jamie ist eine echte Waffe“

Unter anderem seine ausgeprägte Ballfertigkeit mit beiden Füßen ermöglicht es Bynoe-Gittens, sich in jeder Situation auf seine Umgebung zu konzentrieren. Was machen die Gegenspieler? Wo gehen Räume auf? Den Ball dribbelt er zwischen seinen Beinen leichtfüßig hin und her, ohne kognitiv größere Aufmerksamkeit mit der Nebensache zu verschwenden, die Kugel zu kontrollieren. Zu seinen außergewöhnlichen Stärken zählt die Erfolgsquote im Eins-gegen-Eins, weil er auch im Sprinttempo nicht die Balance und die Ballsicherheit verliert. Dadurch sei er „eine echte Waffe“, sagt Lars Ricken, Direktor des Nachwuchsleistungszentrums des BVB. Die schmalen 90.000 Euro Ausbildungsentschädigung zahlte man gerne. Nach eineinhalb durchaus schwierigen Jahren in Dortmund steht Bynoe-Gittens kurz vor seinem Profidebüt. Am vergangenen Freitag zählte er erstmals zum Bundesliga-Kader.

Zur Person:
Jamie Bynoe-Gittens (geboren am 8. August 2004) wuchs in Reading im Westen Londons auf. Wie sein Vater spielte er anfangs auch noch Cricket. Mit fünf Jahren trat er bei den Caversham Trents erstmals in einen Fußballklub ein, schon mit sieben ging es weiter zur nächstgrößeren Adresse, dem FC Reading, wo er trotz Angeboten unter anderem vom FC Chelsea bis zum 14. Lebensjahr blieb. Dann trat Manchester City auf den Plan. Das sei „eine leichte Entscheidung“ gewesen, sagte Bynoe-Gittens zu seinem Wechsel in die dortige hochprofessionelle Akademie. City brachte schließlich Spieler wie Phil Foden, Brahim Diaz oder Jadon Sancho hervor. Und nun auch Jamie Bynoe-Gittens.

An der Lernwilligkeit des Auserkorenen bestanden in Dortmund keinerlei Zweifel. Wie üblich beschäftigte sich die Borussia mit dem Persönlichkeitsprofil des Spielers (keine Bedenken), scannte seine Familie (stabile Verhältnisse), sein Umfeld (einwandfrei). Wer bei der extrovertierten Spielweise von Bynoe-Gittens auf einen Typ Hallodri spekuliert, liegt völlig falsch. Ein Wirbelwind auf dem Platz, die Ruhe nach dem Sturm außerhalb. Für den 17-Jährigen wurden die Attribute lernwillig, konzentriert und motiviert unterstrichen. In den Gesprächen und Videocalls mit dem BVB machte er, damals noch zwei Jahre jünger, einen kindlich-schüchternen Eindruck kombiniert mit der ausgeprägten Ernsthaftigkeit eines Hochbegabten, der sich nicht auf seinen bisherigen Fertigkeiten auszuruhen gedenkt. Bis heute gilt sein Arbeitseifer als vorbildlich.

Bynoe-Gittens auf dem Sprung zu den BVB-Profis

Das wird auch weiter nötig sein. Es mag für den jungen Bynoe-Gittens eine Aufgabe gewesen sein, mit 14 ins Internat nach Manchester im Norden Englands zu ziehen. Noch größer dürfte die Herausforderung gewesen sein, mit gerade einmal 16 Jahren aus England nach Dortmund zu ziehen. Keine zwei Jahre später kommt die Prüfung, auf die alle Trainer und der Spieler hinarbeiten: Erwachsenenfußball. Die entscheidende Gabelung, bis zu der es nur wenige Toptalente schaffen und bei der noch weniger von ihnen bei den erweiterten Anforderungen vor allem an die Physis bestehen. Hier versteckt sich die letztlich entscheidende Frage.

Noch steckt Bynoe-Gittens in einem jugendlichen Körper. Ein 1,75 Meter großes Leichtgewicht, das seine Explosivität unbedingt behalten soll und zugleich robuster werden muss. Kraft aufbauen ohne Agilität zu verlieren, diesen Spagat muss er hinbekommen. Seine fehlende Erfahrung mit der hohen Intensität im Seniorenbereich gehörte zu den Hauptgründen dafür, dass er dem BVB-Trainerteam um Marco Rose nicht schon früher wie gewünscht helfen durfte. Bis heute hat Bynoe-Gittens erst vier (!) Spiele über 90 oder mehr Minuten absolviert. Erst stoppte Covid-19 die gesamte Junioren-Bundesliga und den jungen Engländer, dann eine Schulterverletzung und zu Saisonbeginn ein Außenbandriss im Sprunggelenk. Im späten Herbst des vergangenen Jahres arbeitete er sich in der U19 heran – und startete sofort durch.

Defensivtaktisch muss Jamie Bynoe-Gittens noch dazulernen

13 Partien absolvierte er seitdem für die A-Junioren der Borussia, erzielte dabei zehn Tore, lieferte drei Vorlagen. Im Achtelfinale in der Youth League entzauberte er den hochgehandelten Nachwuchs von Manchester United mit zwei Toren und dem entscheidenden Strafstoß als „Man of the Match“. Sein verspielter Stil erinnert verblüffend an Jadon Sancho, der bei allem vorhandenen Können in den ersten Jahren ebenso noch Zielstrebigkeit zu seinem Portfolio ergänzen musste. In der Beidfüßigkeit und Ballkontrolle auch bei Höchstgeschwindigkeit ähnelt Bynoe-Gittens an Ousmane Dembele. An Trickreichtum steht er beiden in nichts nach. „Defensivtaktisch“ müsse er sich noch verbessern, sagte U19-Trainer Mike Tullberg, das galt seinerzeit auch für Sancho oder Dembele. Er ist „klasse im Eins-gegen-Eins“, staunte BVB-Cheftrainer Marco Rose.

Einer der wichtigsten Spieler in der BVB-U19: Jamie Bynoe-Gittens.

Einer der wichtigsten Spieler in der BVB-U19: Jamie Bynoe-Gittens. © Groeger

So dekorativ der Vorschusslorbeer auch sein mag, so berechtigt ist es, die Erwartungen zu dämpfen. Borussia Dortmunds Verantwortliche lassen große Vorsicht walten beim Umgang mit dem Flügelstürmer der Zukunft. Sie wollen ihn athletisch auf ein Niveau bringen, dass er im Sommer aufrücken kann, ohne nach drei Trainingseinheiten laktatüberschwemmt und überreizt auf der Strecke zurückzubleiben. „Er spielt in unseren Profikader-Planungen für die kommende Saison natürlich eine Rolle“, sagt der künftige Sportdirektor Sebastian Kehl.

Bynoe-Gittens erhält beim BVB einen Anschlussvertrag

Spieler, die sich in direkten Duellen offensiv durchsetzen können, sind rar gesät und heiß begehrt. Auch deswegen hat der BVB wie in vergleichbaren Fällen sichergestellt, dass nach dem 18. Geburtstag des Ausnahmespielers im August eine Anschlussvereinbarung über drei Jahre greift. Zeit und Raum für die individuelle Entwicklung bekommt Bynoe-Gittens mehr als er Zeit und Raum auf dem Rasen bekommen wird. Aber Enge und Drucksituationen haben ihn noch nie gestört. „Ich mag Druck“, sagt er. „Entweder du brichst durch oder du brichst zusammen. Ich will stark sein und den Leuten zeigen, was ich kann.“ So hält er es, seit er fünf Jahre alt ist.