Singapur, Somerset Drive 313. Marco Reus flimmert über die Video-Leinwände an der Fassade des Kaufhauses. Marco Reus schaut überlebensgroß von einer Plakatwand herunter. Und heute: Marco Reus steht im Ladenlokal, schreibt Autogramme, steht für Selfies bereit. Am Samstagmorgen um 11 Uhr Ortszeit hat sich eine 100 Meter lange Schlange gebildet. Hunderte Fans warten am Flagship-Store von Ausrüster Puma, viele von ihnen in Schwarz und Gelb. Sie wollen die sehr seltene Chance nutzen, ihren Helden zu sehen. Okay, neben Reus versorgen auch Emre Can, Donyell Malen, Roman Weidenfeller und Nobby Dickel die vielen asiatischen Anhänger mit Unterschriften. Gefragt ist aber vor allem Reus. Das Fan-Phänomen.
Wie wohl fühlt sich Reus als BVB-Botschafter?
Auf der ganzen Welt, aber vor allem in Asien, ist Marco Reus für die Fußballfreunde das Gesicht von Borussia Dortmund, das Aushängeschild des Vereins. Das spürt Sportartikelhersteller Puma, der den Klub und den Spieler unter Vertrag hat, immer wieder an den Rückmeldungen und Verkaufsbilanzen, das zeigen auch die Daten aus der Social-Media-Abteilung. Kein anderer Borusse wird hier so sehr nachgefragt, so leidenschaftlich begleitet, so laut gerufen. Seine lange Zugehörigkeit zum Verein prädestiniert ihn dafür, seit 2012 schnürt der einst beim BVB ausgebildete Rechtsfuß wieder die Schuhe für die Borussia.
Auch sein Aussehen mag eine Rolle spielen: blond und reichlich tätowiert, solche Typen garantieren in diesem Teil der Welt hohe Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt gehört der inzwischen 33-Jährige seit Jahren zu den besten Fußballern Deutschlands. Seine 156 Tore und 118 Vorlagen in 368 Partien sind für fast alle anderen im Dortmunder Trikot eine unerreichbare Benchmark, Bestwerte für die Ewigkeit. Seit 2018 trägt er die Binde des Mannschaftsführers, und als gebürtiger Dortmunder wäre er auch in diesem Punkt ideal dafür geeignet, nach der Rolle des Ballstreichlers auf dem Rasen als BVB-Botschafter auf unterschiedlichem Parkett zu wirken. Wenn er das denn will.
Reus arbeitet am x-ten BVB-Comeback
Denn offensichtlich wird auch in Asien: Marco Reus bewegt sich manchmal lieber galant und gekonnt zwischen den gegnerischen Abwehrreihen auf dem Fußballfeld als in einem Pulk von Menschen, die um ihn herum drängeln. Geduldig unterzeichnet er in Singapur Autogrammkarten, Fotos, Trikots, Poster, setzt für den Verschlussmoment ungezählter Smartphone-Linsen ein Lächeln auf. Es versiegt kurz darauf wieder. Diese Begegnungen lösen bei den Fans sichtlich mehr Begeisterung als beim Star. Ein Stück weit nachvollziehbar nach so vielen Jahren im Showbusiness. Ein Stück weit.

Ansonsten ist der Held in diesen Tagen ein schweigsamer Mann. Reus mag viel durch den Kopf gehen, Privates wie Sportliches. Statt in der Heimat zu bleiben, setzt er in Singapur seine Reha fort. In Dortmund wäre das auch möglich gewesen, aber seine stärkste Spielermarke, siehe oben, wollte der BVB gerne in Südostasien präsentieren. Also muss der 33-jährige Reus hier an der Fitness feilen und die verflixte Sprunggelenkverletzung überwinden. Sein Ziel ist es, beim Trainingsstart am 2. Januar schmerzfrei, voll belastbar und tatenhungrig auf dem Rasen zu stehen. Dann will er neu angreifen. Das gelte weiterhin, heißt es auch hier.
Reus-Vertrag beim BVB endet im Sommer
Es wäre sein x-tes Comeback in einer Laufbahn mit zu vielen Rückschlägen, die ihn mit der Weltmeisterschaft in Katar – erneut – um die Teilnahme an einem großen Turnier brachten. „Ich habe alles dafür getan, um bei dieser WM dabei zu sein“, sagte er bei Bild-TV, „leider hat mir das Sprunggelenk einen Strich durch die Rechnung gemacht.“ Womöglich hat er zu früh wieder aufs Gaspedal getreten, um für den interkontinentalen Nationenwettstreit in Form zu kommen. Der gute Wille wollte nicht zum Guten führen.
Denn auch der BVB hat Reus vermisst, der im August und September in starker Verfassung auftrumpfte. Ein Zahlenbeleg: In den zehn Pflichtspielen bis zu seinem Ausscheiden im Derby gegen Schalke holte Borussia Dortmund sieben Siege bei 16:9 Toren. Drei Tore und vier Vorlagen steuerte der „Capitano“ bei. Zwei Kurz-Comebacks bei Union Berlin (45 Minuten) und gegen den VfL Bochum (23 Minuten) ausgeklammert, gelangen seinem Team hernach in 13 Pflichtspielen nur noch fünf Siege bei 24:17 Toren. Das hatte seine Ursache in vielen Verletzungen, Spielen im Stakkato-Rhythmus, Formverlust, taktischen Nachlässigkeiten, individuellen Fehlern. Aber sicherlich lag es auch am fehlenden Reus, dessen Vertrag mit dem BVB im kommenden Sommer endet.
Werden sich Reus und der BVB nochmal einig?
Wie sehr er den Klub liebt, hat er oft genug betont. Werden sich Sportdirektor Sebastian Kehl und der Topverdiener der Mannschaft nochmal einig? Welche Abstriche müsste der Spielführer dafür machen, der wegen seiner eher introvertierten Art zu führen gelegentlich in der Kritik steht? Könnte der BVB ohne ihn oder den anderen Altersvorsitzenden, Mats Hummels, der in einer vergleichbaren Situation steckt? Wäre der forcierte Umbruch erst dann ein echter Cut, wenn die alten Zöpfe abgeschnitten werden? Sebastian Kehl hat angekündigt, „in aller Ruhe und sehr vertrauensvoll“ in diese Gespräche zu gehen. Im neuen Jahr.
Erst mal muss der Verkaufsschlager in Asien wieder auf die Beine kommen, damit die Bilder von dem Zuversicht und Stärke ausstrahlenden deutschen Fußballer, der in Singapur von den Plakaten blickt, wieder zum in sich gekehrten Menschen passen, der im Sportgeschäft neben der Werbebande mit seinem Gesicht an einem Pult steht und Autogramme schreibt. Es stehen mehr Leute an, als in zwei Stunden bedient werden können. Ein Fan-Phänomen.
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