Wohin mit dem Ball? Das Thema Einwürfe wird bei vielen Klubs sträflich vernachlässigt, meint Experte Thomas Grönnemark. © imago images/Moritz Müller
Borussia Dortmund
Experte: „Bei Einwürfen hat der BVB großes Verbesserungspotenzial“
Mehr Tore als manche Mittelstürmer erzielen einige Klubs in Europa nach Einwürfen. Der Däne Thomas Grönnemark erklärt, wie er zum Experten wurde. Und wie auch der BVB profitieren könnte.
Fehlanzeige. In den Bibliotheken suchte Thomas Grönnemark vergeblich, selbst im Internet tauchten keine Abhandlungen auf. „Seit 140 Jahren gibt es Fußball, und keiner hat sich mit dem Thema Einwürfe beschäftigt. Das habe ich nicht verstanden“, sagt der Däne. Also packte er das Problem an. Inzwischen engagieren ihn Nationalmannschaften und Klubs weltweit als Spezialtrainer. Mit bemerkenswertem Erfolg. Die Geschichte des langjährigen Weltrekordhalters (51,33 Meter) und warum Vereine wie Borussia Dortmund ihn beschäftigen sollten.
Wie sind Sie dazu gekommen, das Thema Einwürfe genauer zu studieren?
Ich hatte als Fußballer genau zwei Stärken: Ich hatte Tempo, und ich konnte weit einwerfen. Wegen meiner Schnelligkeit gehörte ich der dänischen Leichtathletik-Nationalmannschaft an und bin ich auch in der dänischen Bob-Nationalmannschaft als Anschieber gelandet. Ab 2002 war das. Bei den Leichtathleten habe ich mir viel von den Wurfdisziplinen angeschaut. Und beim Bobsport habe ich die Videoanalyse-Techniken kennengelernt.
Und dann?
Nach einem Bob-Lehrgang 2004 wollte ich wissen, was es über das Thema Einwürfe an Fachliteratur gibt. Ich habe nichts gefunden. Ich habe mit gewundert. Seit 140 Jahren gibt es Fußball, und keiner hat sich mit dem Thema Einwürfe beschäftigt. Das habe ich nicht verstanden und mir das Problem also zum Projekt gemacht, als Einwurf-Kurs im Selbstversuch. Dann habe ich innovativ die Erkenntnisse mit Nachwuchs- und Amateurmannschafen getestet.
Dabei ist es nicht geblieben, wie wir heute wissen.
Wir haben das Know-how bei meinem damaligen Verein Viborg FF umgesetzt. Zusammengefasst: Wir haben viele Tore nach Einwürfen geschossen, die genauen Daten habe ich leider nicht. Auf jeden Fall hat Viborg die beste Platzierung seiner Vereinsgeschichte in der Superlig erreicht. Auch dank der guten Strategie bei Einwürfen.
Wohin mit dem Ball? Das Thema Einwürfe wird bei vielen Klubs sträflich vernachlässigt, meint Experte Thomas Grönnemark. © David Inderlied/Kirchner-Media/pool
Weit oder punktgenau zu werfen, ist die eine Sache. Strategisch und taktisch das Bestmögliche aus diesen Standardsituationen herauszuholen, eine andere. Grönnemark entwickelte seine Expertise immer weiter, um die 50 verschiedene Grundvarianten hat er im Repertoire. Diese will er nicht als festgelegte Bewegungsabläufe verstanden wissen, sondern als Inspiration. Auch beim Spitzenklub FC Midtjylland, so etwas wie einem Innovations-Spitzenreiter im europäischen Fußball, stellte sich der Erfolg schnell ein. Zwischen 2015 und 2019 erzielten die Dänen 35 (!) Tore nach weiten Einwürfen. Dann rief Jürgen Klopp an.
Wie kam es zur Kontaktaufnahme mit dem FC Liverpool?Das war mein Durchbruch. Jürgen Klopp hatte sich meine Telefonnummer besorgt und direkt angerufen. Er war unzufrieden mit den Einwürfen seiner Mannschaft und fragte, ob ich helfen könne. Der Ball ging ihm zu oft verloren. Diese statischen Einwurf-Situationen sind ja oft heikel, weil der Gegner großen Druck ausüben kann.
Woran haben Sie gearbeitet?Es geht zum einen um die Einwurftechnik. Mit etwas Übung können die Spieler sehr bald 10 bis 15 Meter weiter werfen als vorher. Das erweitert die Optionen. Am Beispiel FC Liverpool kann ich sagen: Dort kamen nur 45,4 Prozent der Einwürfe an, als wir angefangen haben. Das bedeutete Platz 18 in der Premier League. Nach einer Saison haben wir die Quote der erfolgreichen Einwürfe, bei denen der Ball in den eigenen Reihen gehalten und zielführend weitergeleitet wurde, auf 68,4 Prozent gesteigert. Damit waren wir Spitzenreiter in England und die Nummer zwei in Europa hinter, Sie ahnen es, dem FC Midtjylland.
Dafür reichen präzise oder weite Würfe nicht aus.
Meine Erfolgskomponenten lauten schnell, weit und schlau zu werfen. Es geht darum, aus den Einwürfen heraus Platz zu schaffen. Wenn man auf diese Weise Räume kreiert, kann man sehr schnell zu Torchancen kommen. Nach vier Saisons kommt Liverpool pro Jahr auf 10 bis 14 Tore, die mehr oder weniger unmittelbar nach Einwürfen gefallen sind. Man kann auf diesem Weg sehr torgefährlich werden. Nicht nur in Strafraumnähe, sondern auch im Mittelfeld.
Wie?
Dazu müssen alle Feldspieler mitmachen und nicht nur diejenigen, die in der Nähe stehen. Ich kann mit einem weiten Einwurf hinter die Abwehrreihe überraschen. Oder mit einem gut getimten Einwurf ins Zentrum, von wo der Ball direkt auf die andere Spielseite weitergeleitet werden kann. Eine Spielverlagerung mit nur einem Kontakt, das ist brandgefährlich. Ich habe rund 50 verschiedene Grundvarianten im Repertoire. Dabei ist das Feld in verschiedene Zonen eingeteilt. Die Spieler nutzen außerdem ihre eigene Fantasie und Kreativität. Es gibt unendlich viele Lösungen.
Das betrifft den eigenen Einwurf. Wie sieht das bei der Verteidigung aus?
Auch da können sich fast alle europäischen Topklubs noch verbessern. Liverpool hat drei, vier Tore nach einer Balleroberung bei gegnerischen Einwürfen erzielt. Man kann den Gegner sehr gut pressen in solchen Momenten. Daraus können Umschaltmomente entstehen, in denen man dem Gegner richtig weh tun kann.
Sie haben in England, den Niederlanden, Belgien oder Brasilien gearbeitet. Wie gut können deutsche Klubs einwerfen?
Da sehe ich noch sehr viel Luft nach oben. Ein großes Potenzial. In der Premier League gibt es pro Partie zwischen 40 und 60 Einwürfe. Das darf man doch nicht dem Zufall überlassen. Wie oft wird das geübt in der Bundesliga?
Wenig bis gar nicht?
So sieht es zumindest aus, und das kann ich nicht glauben. Ein Milliarden-Business. Es gibt Experten für alle möglichen Aspekte rund um die Profis, von Physiotherapie über Ernährung zu Psychologie. Mit Einwürfen kannst du Spiele gewinnen, und hast theoretisch 50 Mal pro Spiel die Chance dazu. Borussia Dortmund oder der FC Bayern München haben da riesiges Verbesserungspotenzial. Es ist nicht okay, den Ball bei einem eigenen Einwurf zu verlieren.
Mein grober Eindruck beim BVB: Der Einwurf geht zu Haaland, der ihn mit seinem großen Körper gut abschirmen kann, oder zu Marco Reus, der den Ball dank seiner guten Technik behaupten oder weiterleiten kann.
Haaland ist robust, Reus hat einen super ersten Kontakt. Aber was ist mit den anderen? Alle Spieler sollten mitmachen. Sonst ist man doch viel zu leicht auszurechnen. Umschaltbewegungen, Laufwege, Torschüsse – das wird unendlich oft trainiert. Warum für das Thema Einwürfe keine Zeit bleibt, ist mir rätselhaft. Denn das kann den Unterschied ausmachen. Nach zweimal 30 Minuten Training sieht man schon die ersten Fortschritte.
Vielen Dank für Ihr Interesse an einem Artikel unseres Premium-Angebots. Bitte registrieren Sie sich kurz kostenfrei, um ihn vollständig lesen zu können.
Jetzt kostenfrei registrieren
Einfach Zugang freischalten und weiterlesen
Werden auch Sie RN+ Mitglied!
Entdecken Sie jetzt das Abo, das zu Ihnen passt. Jederzeit kündbar. Inklusive Newsletter.
Bitte bestätigen Sie Ihre Registrierung
Bitte bestätigen Sie Ihre Registrierung durch Klick auf den Link in der E-Mail, um weiterlesen zu können.
Prüfen Sie ggf. auch Ihren Spam-Ordner.
Einfach Zugang freischalten und weiterlesen
Werden auch Sie RN+ Mitglied!
Entdecken Sie jetzt das Abo, das zu Ihnen passt. Jederzeit kündbar. Inklusive Newsletter.