Der Cappuccino ist längst ausgetrunken, als Michael Meier (73) immer noch argumentiert. Hellwach und scharf analysiert der frühere Bundesliga-Manager im Interview mit Jürgen Koers zwei Stunden lang Entwicklungen in der Szene und die Lage bei Borussia Dortmund.
Herr Meier, kürzlich hat man Sie bei einem BVB-Spiel auf der Tribüne mitfiebern sehen. Haben Sie noch Freude am Fußball?
Sehr! Ich verfolge aufmerksam, was sich in der Bundesliga und in der Branche tut. Zuletzt habe ich mich aber vor allem geärgert, und zwar so richtig.
Warum?
Weil die Weltmeisterschaft in Katar dem internationalen Ansehen des DFB geschadet hat. Sportlich durch das Ausscheiden nach der Gruppenphase, vor allem aber auf Verbandsebene. Trotz der absehbaren Diskussionen ist es dem DFB nicht gelungen, sich von der Politik abzugrenzen, eine klare sportspezifische Strategie zu kommunizieren und diese auch durchzuhalten. Da sind in der Organisation und in der Netzwerkarbeit, beispielsweise beim Streit um diese „One Love“-Binde, handwerkliche Fehler gemacht worden, die letztlich dazu geführt haben, dass der deutsche Fußball nunmehr völlig isoliert dasteht.
Die Kritik an Katar und der FIFA war ja durchaus berechtigt und nachvollziehbar ...
Das steht außer Frage. Aber warum zu einem Zeitpunkt vier Wochen vor Austragungsbeginn der WM und dazu noch ohne einen direkten Draht zur FIFA-Spitze? Der DFB hat es nicht vermocht, statt mit Symbolmaßnahmen mit eigenen konkreten Aktionen außerhalb des Platzes die richtigen Zeichen zu setzen. Der Blick in die eigene Geschichte hätte dabei geholfen. Bereits bei der WM 1986 hat der DFB die sogenannte „Mexiko-Hilfe“ ins Leben gerufen, die dortige Waisenhäuser bis heute finanziell unterstützt. Ein DFB-Entschädigungsfonds für die Kinder der in Katar an den Stadionbauarbeiten tödlich verunglückten Gastarbeiter wäre eine solch konkrete Maßnahme mit Signalwirkung gewesen, die dazu ohne die Gestattung der FIFA realisierbar gewesen wäre.

Wie kann verhindert werden, dass sportliche Großereignisse wie die Fußball-WM oder Olympische Spiele nicht zunehmend von Staaten mit aus unserer Sicht fragwürdiger Haltung zum „Sportswashing“ missbraucht werden?
Es ist unbestritten, dass Sport-Events diesen Ausmaßes und dieser Güte zur Imageverbesserung des ausrichtenden Landes und deren positiven Reputation in den Medien beitragen. Auch die Fußball-WM 2006 im eigenen Land ist dafür ein Beispiel. Ehrlicherweise fällt es mir schwer, eine exakte Abgrenzung von fragwürdiger zu nicht fragwürdiger Haltung von Staaten zu ziehen. Ich weiß jedoch, dass der Kreis potenzieller Ausrichterländer sehr klein wäre, würden wir unseren Wertekanon zugrunde legen. Die FIFA sollte daher vorrangig Lösungen für die Probleme finden, die sie selbständig im eigenen Haus entscheiden kann. Immer wieder stehen Vorwürfe von Korruption bei den Vergaben von WM-Standorten im Raum und beschädigen die Integrität des Fußballwettbewerbs. Ein Beitrag, diese Korruptionsmöglichkeiten zu erschweren und dem immerwährenden Verdacht entgegenzuwirken, könnte die Änderung des Vergabesystems sein. Ich plädiere dafür, die Fußball-WM dauerhaft an feststehende Regionen verteilt auf die fünf Kontinente zu vergeben. Der Forderung von Nachhaltigkeit würde man auf diese Weise ebenso gerecht wie man sich in Zukunft die aufwendigen Bewerbungsverfahren für einen potenziellen Austragungsort spart.
Seine Probleme will der DFB mit zwei Arbeitsgruppen in den Griff bekommen, um bei der EM 2024 im eigenen Land wieder erfolgreich sein zu können. Ist das der richtige Weg und die richtig besetzte Kommission?
Es wird sicherlich helfen, wenn diese Gruppen von etablierten und erfahrenen Machern dem DFB-Präsidenten ihr Know-how andienen. Das von dem Präsidenten angestrebte kurzfristige Ziel im Hinblick auf die EM 2024 im eigenen Land wird man aber nur teilweise lösen können.

Woran denken Sie?
An die Ausbildung. Das von der Akademie des DFB zusammen mit der Liga entwickelte „Projekt Zukunft“ beinhaltet sehr gute Ideen zur Ausbildung unseres Nachwuchses. So zum Beispiel die Einführung einer neuen Wettbewerbsform im Bereich der U19. Leider dauert die Umsetzung beim DFB einfach zu lange. Unabhängig davon würde die Ernte einer verbesserten Nachwuchsausbildung erst weit nach 2024 eingefahren werden können. Ich denke dabei auch an die Vereine, die den Nachwuchs in ihren Klubs ausbilden. Auch hier ist zumindest bei den wirtschaftlich starken Vereinen eine für die Nationalmannschaft abträgliche Tendenz zu erkennen. Die Klubs bilden primär für den eigenen Bedarf aus und kaufen für ihre Teams in den Junioren-Bundesligen im Zweifel den Erfolg nicht im In-, sondern im Ausland.
Wie könnte diese Entwicklung geändert werden?
In Katar fehlte es der Nationalmannschaft neben einer Defensive von internationaler Klasse auch an einem klassischen Stürmer. Ich habe den Eindruck, dass wir den Schwerpunkt auf eine generelle statt auf eine positionsspezifische Ausbildung legen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass wir ein Überangebot an sehr guten Mittelfeldspielern haben. Die individuelle positionsspezifische Förderung sollte wieder in den Fokus unserer Ausbildung rücken.
Sie haben von 1981 bis 2010 in der Bundesliga als Manager gearbeitet, mit dem 1. FC Köln, Bayer Leverkusen und vor allem Borussia Dortmund große Erfolge eingefahren. Wie blicken Sie heute mit Abstand auf die Branche?
Diesen Abstand zu gewinnen war für mich ehrlich gesagt ein sehr schwerer Prozess. Ich war es gewohnt, viel zu arbeiten, das Telefon stand nie still. Und nach dem Aus in Köln 2010 hat sich dann irgendwann keiner mehr gemeldet. Damit konnte ich anfangs gar nicht gut umgehen und habe neidvoll auf die aktiven Kollegen geblickt. Eigentlich verrückt! (lacht) Dann habe ich begonnen, etwas zu tun, was mir früher sicher auch geholfen hätte: Ich habe als Berater und Coach gearbeitet, im Hintergrund. Aus meiner Zeit in vorderster Front kannte ich viele Situationen, Diskussionen, Konflikte, Krisen, die auch heute noch auftreten. Die Weitergabe meiner Erfahrungen an aktive Entscheidungsträger in diesem Geschäft hat mir das Gefühl gegeben, noch gebraucht zu werden. Deshalb mache ich das noch heute sehr gerne.
Wo hat sich der Fußball in Ihren Augen verändert?
Rein sportlich ist der Fußball sicher erheblich athletischer geworden. Organisatorisch sind die großen Stäbe von Trainern, Experten, Betreuern, Analysten und weiteren Fachleuten zu nennen. Das ist eine gute Entwicklung, weil dadurch mehr Wissen ins Team transformiert und die Aufgaben diversifiziert werden. Aber die Sportdirektoren und vor allem die Trainer müssen neben ihrer fachlichen Kompetenz dann auch entsprechende Managementqualitäten haben, um die Anzahl von Spezialisten zu koordinieren und zu führen. Sobald Verantwortlichkeiten der Spezialisten als Selbstzweck oder Selbstverwirklichung umgesetzt oder nur wahrgenommen werden, entstehen Risse oder Grüppchen in so einem großen Gebilde, und der gemeinsame Erfolg wird gefährdet. Das zu händeln, ist eine diffizile Angelegenheit und braucht Erfahrung.
Mit Blick auf den BVB gefragt: Ist diese fehlende Geschlossenheit ein Kernproblem?
Ich habe nur den Blick von außen. Für die Mannschaft wirkt das teilweise auf mich so. Da scheint es Spieler zu geben, die überhaupt nicht integriert sind, und Führungsspieler, die nicht im selben Boot sitzen.
Elf Freunde gibt es nicht mehr.
Nein, die muss es nicht geben und die gab es auch früher nicht. Aber Mannschaft und Trainerteam müssen einheitlich, geschlossen und kompromisslos für den Erfolg zusammenarbeiten. Borussia Dortmund hat in der Vergangenheit dafür zwei mögliche Wege aufgezeigt.

Welche meinen Sie?
In den 1990ern, die ich selbst mitgestalten durfte, kamen diese Impulse aus der Mannschaft. Da gab es Anführer, die haben es nicht geduldet, wenn einer aus der Reihe getanzt ist oder nur für sich spielen wollte. Ottmar Hitzfeld als Trainer hat es dann auf sensationelle Weise verstanden, diese fortwährenden Konflikte zu managen. Das gemeinsam auf dem Platz gelebte Ziel, siegen zu müssen, hat alle vorhandenen individuellen Animositäten auf dem Platz vergessen lassen. Diese Mannschaft wollte nur Titel und hat diesem Ziel alles untergeordnet.
Was ist der andere Weg?
Wenn dieser Antrieb nicht aus der Mannschaft kommt, muss es der Trainer vorleben. Jürgen Klopp hat sich darauf verstanden wie kaum ein anderer. Wer bei ihm nicht mitgezogen hat, war eben draußen. Geschlossenheit und konsequente Vorgaben, daraus kann Erfolg entstehen.

Ist es ein Dilemma für den BVB, dass er den FC Bayern nun mal vor sich hat, immer wieder an den Erwartungen scheitert und enttäuschen muss?
Zunächst einmal sind die Münchner zehnmal in Serie Deutscher Meister geworden, weil sie wirtschaftlich mit ganz anderen Beträgen handeln können. Diesen Unterschied von, ich schätze mal, 150 oder 200 Millionen Euro mehr für den Gehaltsetat gegenüber dem BVB wird man auf Strecke immer sehen. Bei allem Verdruss darüber sehe ich es trotzdem als eine anzuerkennende Leistung an, sich eine so lange Zeit als Hauptkonkurrent zu Bayern München im Ringen um die Deutsche Meisterschaft zu etablieren. Das ist nachhaltig. Die Tatsache, dass Borussia Dortmund bei ähnlichen Budget-Relationen 2011 und 2012 dennoch Meister geworden ist, sollte aber Motivation im weiteren Kampf um die Meisterschaft sein. In einem hat Borussia Dortmund die Bayern allerdings gerade überholt.
Wo genau?
Auf der Funktionärsebene. BVB-Chef Hans-Joachim Watzke hat nicht nur die Position von Dr. Reinhard Rauball bei der DFL übernommen, sondern vertritt den Klub auch in anderen Gremien und beim DFB. Überall sitzen die Dortmunder inzwischen mit am Tisch. Und die Bayern haben es nach den Abgängen von Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß versäumt, ihre Hausmacht bei DFL und DFB zu übertragen. Das nenne ich strategisch sehr gute Arbeit des BVB-Managements.
Wie bewerten Sie als früherer Manager die Transferpolitik?
Der BVB ist hochgradig erfolgreich damit, junge Talente anzuwerben, sie zu entwickeln und teuer zu verkaufen. Das ist ein Markenkern geworden. Auch dadurch kann die Borussia ganz oben mitspielen. Aber dieses Kalkül hat auch seine Tücken.
Welche?
Die Identifikation mit der Mannschaft kann abnehmen, wenn Topspieler wie Dembele, Sancho oder Haaland den Verein nach kurzer Zeit wieder verlassen. Dann spüren auch deren Mitspieler, dass das so eine Art Durchgangsstation wird.
Dass der BVB heute trotzdem zum europäischen Establishment gehört, ist auch ihrem Nachfolger zu verdanken. Was sagen Sie zur Ausnahmekarriere von Michael Zorc, der ja im Sommer als Sportdirektor aufgehört hat?
Was er für Dortmund geleistet hat als Spieler und als Manager, ist einzigartig …

Sie schmunzeln …
Eine Vertragsverlängerung für Michael Zorc gehörte zu den ersten Aufgaben, als ich 1989 beim BVB anfing. Ich wusste, was er für den Klub bedeutet, und was der Klub für ihn bedeutet. Beim Lüner SV hatte ich seinen Vater noch spielen sehen. Ich war unsicher, wie ich diese Verhandlung führen sollte. Da habe ich etwas getan, was ich sonst nie wieder getan habe.
Bitte? Haben Sie ihm den Vertrag blanko hingelegt?
Ganz genau. Ich wollte ihm damit Respekt zeigen. Ihm hat das damals gar nicht so gut gefallen und es führte fast zu einem Gewissenskonflikt. Er hätte lieber einen Vorschlag gesehen und eventuell nachverhandelt. Nach einer kurzen Bedenkzeit hat er seinen Wert sehr anständig und fair eingeschätzt. Er hat beim BVB den Abschied bekommen, den er verdient hat. Ein Borusse, wie er im Buch steht.
Was trauen Sie Sebastian Kehl als neuem Sportdirektor zu?
Viel! Er ist intelligent, er hat sich sehr gut vorbereitet auf diese Aufgabe und arbeitet sehr gewissenhaft und strukturiert. Er hat Werte, die er lebt, und eine hohe soziale Kompetenz. Ich gehe davon aus, dass er viele richtige Dinge angestoßen hat und weiter vorantreibt, von denen Borussia Dortmund profitieren wird. Er wird aber auch wissen: Sein Job ist zwar faszinierend, aber sehr undankbar. Mitunter muss man Sachen ausbaden, die man nicht oder nur zum Teil zu verantworten hat. Er benötigt einen langen Atem und viel Geduld. Wenn man sich vor Augen führt, dass die Verweildauer der Manager oder Sportdirektoren in der Liga immer kürzer wird, braucht man schnell Erfolg, um dann in Ruhe arbeiten zu können. Vor allem aber brauchst du Vertrauen.
Das haben Sie selbst erlebt beim BVB. Statt für die Titelsammlung in den 90ern bringt man Ihren Namen häufiger mit der Beinahe-Insolvenz Mitte der 2000er-Jahre in Verbindung.
Ich bin Kaufmann, und als solcher als Pleitier angesehen zu werden, schmerzt, zumal es faktisch nicht stimmt. Borussia Dortmund war nicht insolvent, und eine „Beinahe-Insolvenz“ gibt es nicht. Alle Gläubiger haben ihr Geld zurückbekommen. Aber diese Geschichte ist nunmehr so geschrieben.
Sind Sie verbittert?
Nein, ich bin mit mir im Reinen und dankbar für meine Zeit beim BVB. Sagen wir es mal so: Dieses einzigartige Stadion in seiner heutigen Größe ist ein Aushängeschild und Alleinstellungsmerkmal von Borussia Dortmund. Und die Corona-Krise hat der Klub trotz erheblicher Verluste gut überwunden, weil er als börsennotierte KGaA mit einer Kapitalerhöhung mehr als 80 Millionen Euro einsammeln konnte. Die dafür erforderlichen Strukturen wurden damals geschaffen und sind dem BVB also auch heute noch nützlich. Es kann nicht alles schlecht gewesen sein, was damals gemacht wurde.
Welche finanziellen Probleme werden die Auswirkungen der Pandemie noch zutage fördern?
Sehr viele Klubs haben in der Corona-Krise Staatshilfen in Anspruch genommen, die zurückgeführt werden müssen. Nicht alle haben die Möglichkeit einer Kapitalerhöhung wie der BVB und sind daher auf zusätzliche Einnahmen angewiesen. Mir fehlt allerdings das Detailwissen, um hier eine seriöse Prognose abgeben zu können.
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