Am 14. März 2005 entscheidet sich die Zukunft von Borussia Dortmund. Steht der Klub vor dem Aus, oder gibt es bei der Vertreter-Versammlung des Stadionfonds Molsiris die Zustimmung für einen Sanierungsplan, der den BVB noch retten kann? In der tiefsten Finanzkrise des Klubs haben sich auch die Fans eingemischt. Ex-Ultra Jan Philipp Platenius, eines der ersten Mitglieder der Dortmunder „Desperados“, hat ein Buch über diese Zeit geschrieben. „Als der BVB pleite war und wir die Gelbe Wand wurden“, hat er es genannt. Herausgekommen ist ein episodenhaftes Werk über Jugendkultur, Liebe zum Fußball und einen der spannendsten Wirtschaftskrimis der deutschen Sportgeschichte. Redakteur Jürgen Koers hat mit dem 41-Jährigen gesprochen.
Wie kommt ein ehemaliger Ultra zu der Idee, ein Buch zu schreiben über die Saison 2004/05?
Ich hatte die Idee schon länger in mir. Es kommt nicht von ungefähr, ich habe Germanistik studiert und halt ein Faible für Bücher. Und natürlich für Fußball! Viele Ereignisse aus der Fast-Pleite-Saison sind bei mir sehr präsent geblieben, und da dachte ich: zum 20-Jährigen, das wäre doch ein guter Anlass.
Sie schreiben liebevoll über größere und kleinere Begebenheiten, über Freundschaften und Scharmützel. War es für Sie selbst eine Zeitreise?
Ja, total. Einerseits war ich in der Saison vorne dabei bei den Fans und habe viele Entwicklungen in der ersten Reihe miterlebt. Andererseits habe ich zu der Zeit an dem Fanzine mitgeschrieben, das wir damals als „Desperados“ herausgegeben haben. Da konnte ich einiges nachlesen und habe auch Themen wiedergefunden, die völlig aus meinem Kopf verschwunden waren. Das hat die Recherche auch für mich selbst spannend gemacht.
Wann gab es damals Momente, in denen Sie gemerkt haben: Beim BVB läuft es in die ganz falsche Richtung, und wir müssen etwas dagegen unternehmen?
Diese Entwicklung zog sich über einen längeren Zeitraum hin. Im Winter 2003 gab es die ersten Hinweise und Berichterstattung darüber, dass Borussia Dortmund hoch verschuldet sein könnte. Anfangs hat das keiner so richtig glauben können. Diese Themen aus der Wirtschaft hatten ja auch mit unserem Fanerlebnis auf der Südtribüne erst einmal wenig zu tun. Aber dann wurden mehr und mehr Details bekannt. Nach der Bilanzpressekonferenz im Oktober 2004 wurde dann für alle deutlich, dass es bei unserer Borussia den Bach runter geht. Die Sorgen waren so groß, dass wir Fans da aktiv geworden sind.

In welcher Form?
Die Gründung der heutigen Fan- und Förderabteilung fällt zum Beispiel in diese Zeit. Wir haben uns eingemischt, wir wollten unseren Frust loswerden und uns Gehör verschaffen. Das hat mit Gerd Niebaum und Michael Meier nicht mehr geklappt, aber mit vielen Leuten, die ebenfalls für das Überleben des BVB gekämpft haben. Die Mitstreiter kamen aus der Fanszene, von den Ultragruppen oder vom Fanzine „schwatzgelb“, eine bunt gemischte Gruppe. Wir haben uns organisiert und strukturiert. Heute hört sich das komisch an, aber damals hatte nicht jeder ein Handy oder eine E-Mail-Adresse. Wir haben viel telefoniert (lacht).
Zu einem ersten Höhepunkt der Fan-Aktivitäten kam es beim Auswärtsspiel in Hannover im Februar 2005.
Vorher war bekannt geworden, dass der BVB die Nutzungsrechte am Vereinsnamen und am Vereinslogo bereits im September 2000 an den Versicherungskonzern Gerling verpfändet hatte. Der zwielichtige Florian Homm war Großaktionär und sprach öffentlich davon, dass er sich auch einen FC Dortmund vorstellen könne. Das hat bei uns Fans das Fass zum Überlaufen gebracht, weil das auch viel plakativer war als eine unvorstellbar hohe Summe an Schulden. Zur Demonstration mit dem riesigen Banner „Not for Sale“ haben sich sehr viele BVB-Anhänger aufgerufen gefühlt. Es war eins vor zwölf, wenn man so will.

Singende, Bier trinkende Fans auf der Südtribüne zu Akteuren in diesem Wirtschaftskrimi zu machen, wie ist das gelungen? Wie hat die Aktivierung funktioniert?
Thematisch war das, was sich um den BVB herum abgespielt hat, für viele von uns eine andere Welt. Wer sich mit Finanzen auskannte, hat die anderen gebrieft. Manche haben die Satzung des eingetragenen Vereins gelesen, um Möglichkeiten zu finden, wie wir uns engagieren und mitbestimmen können. Der Einwurf stimmt ja: Vorher haben wir über Fangesänge und Doppelhalter nachgedacht. Plötzlich ging es um das Überleben unseres Klubs. Da konnten wir nichts unversucht lassen und haben unsere Reichweite und die hohe Mobilisierung genutzt. Das Forum bei „schwatzgelb“ bekam eine große Bedeutung. Es ging erst mal viel um Information und um Aufklärung. Da haben Hunderte BVB-Fans intensiv mitgearbeitet, Ultras und Normalos, einige nicht einmal 20, andere über 40 und älter. Die Angst um den BVB hat uns zusammengeschweißt.
Wo gab es Situationen, in denen das Gefühl aufkam: Ja, wir können was bewegen?
Diese Situationen gab es mehrfach. Spontan fällt mir ein, dass die Jahreshauptversammlung, bei der dann auch die Fan- und Förderabteilung ins Leben gerufen wurde, in den großen Saal der Westfalenhalle verlegt werden musste, weil so viele aktive Fans abstimmen wollten. Es gab dann auch Kontakt zu Reinhard Rauball, der als Präsident zurückgekehrt war, und zu Hans-Joachim Watzke, der dann den Laden dann übernommen hat. Das hat uns darin bestätigt, die Fans als elementaren Bestandteil des Klubs zu sehen. Rauball hat sich ja auch als „Anwalt der Fans“ bezeichnet. Wir hatten ein gemeinsames Anliegen: den BVB retten.

Wie denn? Auf der einen Seite stehen da ein börsennotiertes Unternehmen, Finanzjongleure und ein unglaublich großes Defizit auf dem Vereinskonto. Und auf der anderen Seite einige Fans. Welche konkreten Maßnahmen und kreativen Mittel konnten genutzt werden?
Die Spruchbänder im Stadion gehören dazu, die Demo „Not for Sale“, das Banner mit der „Gelben Wand“. Wir haben das Problem in die Öffentlichkeit getragen und für die breite Masse verständlich gemacht. Der Organisationsgrad unter uns Fans war davor noch nie so groß wie zu der Zeit. Wir haben uns in Stellung gebracht und eingemischt. Der personelle Umbruch in der Vereinsführung war auch eine Chance für uns, weil wir angehört und einbezogen wurden. Die Stimmung war: Wir haben es nicht verbockt, aber wir müssen jetzt alle anpacken und die Karre aus dem Dreck ziehen. Das hat eine große Geschlossenheit und Einheit ausgelöst, auch wenn der eine vielleicht Präsident war und der andere seine Dauerkarte auf dem Stehplatz hatte. Wir mussten befürchten, dass der Verein ausgelöscht wird. Das durften wir nicht zulassen.

In der Dramaturgie lief es dann auf diesen Molsiris-Montag zu, auf den 14. März 2004. Wie haben Sie das erlebt?
Es gab einen Spannungsbogen bis dahin. Wir waren mit den Nerven fast am Ende. Am Tag vorher hat der BVB mit 0:2 gegen Stuttgart verloren, und das Stadion war nicht einmal ausverkauft. Keiner wusste, ob das vielleicht das letzte Heimspiel war. Ist der BVB am nächsten Tag vorerst gerettet, oder dreht einer den Schlüssel um und sperrt zu? Da haben wir uns machtlos gefühlt, weil keiner wusste, wie das ausgeht da in Düsseldorf bei dieser Abstimmung. Das war wie ein Elfmeterschießen: Man muss es bei aller Anspannung ertragen und einfach abwarten. Wir wurden gebeten, dort nicht bei der Versammlung aufzutauchen. Ein paar Jungs waren trotzdem da und haben schwarzgelbe Herzen verteilt.
Zur Person / Zum Buch
- Jan Philipp „Pini“ Platenius (41) kam Ende der 90er-Jahre als aktiver Fan zum BVB. Er war „Mitglied Nummer 6“ bei der Ultragruppe Desperados und war unter anderem an der Entstehung der Fan- und Förderabteilung von Borussia Dortmund beteiligt.
- Sein Buch „Als der BVB pleite war und wir die Gelbe Wand wurden“ gibt es bei Amazon als Print-on-demand zum Preis von 11,99 Euro als Taschenbuch oder 19,09 Euro als Hardcover. Darin beschreibt Platenius mit vielen Details und Anekdoten aus der Fansicht die Fast-Pleite-Saison 2004/05 mit Episoden Jugendkultur, Fußballliebe und Wirtschaftskrimi. www.bvb20042005.de
Wie haben Sie das Ergebnis aufgenommen?
Mit unglaublicher Erleichterung. Ich war körperlich und mental fix und fertig, hätte mich am Nachmittag schon wieder ins Bett legen können, das weiß ich noch genau. Der BVB war gerettet, das war erst mal beruhigend. Aber keiner hatte auf dem Schirm, dass da noch ein paar üble Kröten auf uns zukamen wie etwa der Verkauf des Stadionnamens Ende 2005 oder die Einbeziehung der Investmentbank Morgan Stanley. Es gab noch Abwicklungen, die kompliziert und nicht unbedingt im Sinne der Fans waren, aber die vielleicht nötig waren, um den Verein zu sanieren.
Wie blicken Sie heute auf diese Zeit?
Für den BVB war das Jahr 2004/05 eine existenzbedrohende Situation, das berühmte „Vorzimmer der Pathologie“. Es hätte schlimm enden können. Doch aus diesen schweren Zeiten ist viel Positives erwachsen. Die Zusammenarbeit von Fans über unterschiedliche Gruppen und Blöcke hinweg, die Fan- und Förderabteilung wurde gegründet, es gab in der Folge ein viel größeres Engagement in der Fan-Politik, also über das eigene Stadion-Spaß-Erlebnis hinaus. Harte Zeiten sind im Nachhinein auch manchmal gute Zeiten. Vom Zusammenhalt war es unter den Fans vermutlich nie wieder so stark wie vor 20 Jahren.
Würden Sie sagen, dass der Aufstand der Steher prägend war für die Szene?
Sogar in zweierlei Hinsicht: Ohne das Schreckensszenario der Pleite hätte sich die BVB-Szene vielleicht nicht so weiterentwickelt und wäre nicht so über die Jahre gereift. Der BVB war fast am Ende, aber die Fanszene hat in der Zeit richtig Konturen bekommen, von denen sie heute noch zehrt. Das betrifft das große Ganze. Im Einzelnen merkt man meines Erachtens heute noch den Unterschied bei den Fans zwischen denen, die diese Jahre mit durchlitten haben und jenen, die erst in der Kloppo-Zeit dazugekommen sind. Die jüngeren Fans haben eine ganz andere Erwartungshaltung, das muss man schon sagen. Wer damals dabei war, hat die Erfolge in der Zeit danach mit viel größerer Demut genossen.
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