Aus den Lautsprechern dröhnt die passende musikalische Untermalung über den perfekt gepflegten Rasen am Frankfurter DFB-Campus. Während die ersten Bälle von Fuß zu Fuß rollen beim Aufwärmprogramm der deutschen Fußball-Nationalspieler, rappt Kontra K: „Erfolg ist kein Glück, sondern nur das Ergebnis von Blut, Schweiß und Tränen.“ Damit ist der Ton gesetzt. Den Schwerpunkt der Trainingseinheiten hat Bundestrainer Julian Nagelsmann klar benannt: „Unsere Baustelle ist stabiles Verteidigen, das wollen wir jetzt hinkriegen.“
Deutschland muss dicht machen
Es bedarf keiner Tiefenanalyse, um den Ansatz nachzuvollziehen. In den neun Länderspielen des Jahres 2023 hat die DFB-Elf 17 Gegentore geschluckt, auch gegen Gegner, die international nicht in die oberste Kategorie einzusortieren sind. Bei den ersten zwei Tests unter Nagelsmann kamen auch die USA (3:1) und Mexiko (2:2) jeweils zu einer Handvoll Großchancen. Zu viel. Die Devise lautet daher: Deutschland muss dicht machen. Leon Goretzka, im Zentrum in alle Spielrichtungen gefordert, begrüßt das: „Es ist richtig, dass Julian das herausgeboten hat. Es ist zu einfach, gegen uns Tore zu schießen.“
Taktisch soll es unter dem 36-jährigen Cheftrainer weniger Experimente geben als unter seinem glücklosen Vorgänger Hansi Flick. Der Bundestrainer gibt ein klares System vor. Im 4-2-2-2 angeordnet, sind auch in Frankfurt die eisernen Stellfiguren in den Rasen gepflockt. Zwei zentrale Mittelfeldspieler vor der Viererkette, die Außen einen Tick offensiver. Verteidigt wird nach vorne. „Wir haben bei den defensiven Abläufen oder im Pressing noch viel Luft nach oben“, sagt Mittelstürmer Niclas Füllkrug. „Da hat Julian viel kommuniziert, auch mit mir.“ Es geht nicht nur um das Verteidigen im Strafraum, sondern auch darum „die richtigen Momente zu finden, um aus dem kompakten Zentrum herauszuschieben“, ergänzt Goretzka, und um die Frage, „wann wir anfangen, den Gegner unter Druck zu setzen und in welchen Bereichen“.

Nach der festgelegten Struktur folgt die Frage nach dem Personal. In der Innenverteidigung setzt Nagelsmann auf Antonio Rüdiger (Real Madrid) und Mats Hummels. Der erfahrene Abwehrmann von Borussia Dortmund ließ sich auch von Rückenschmerzen nicht abhalten, wollte unbedingt beim aktuellen Lehrgang dabei sein. Er gilt als gesetzt, auch wenn er in diesen Tagen noch nicht mit der Mannschaft trainieren konnte. Der Bundestrainer schätzt seine Erfahrung und will ihn unbedingt auch jetzt beim Team haben. Es ist ja bereits der vorletzte Block, bevor der Kader nominiert wird. Die Zeit ist ein limitierender Faktor bis zum EM-Turnier, das im Juni beginnt.
Als Alternativen zu den beiden Routiniers hat der Bundestrainer Jonathan Tah (Bayer Leverkusen) und Niklas Süle (BVB) eingeladen. Beide könnten bei Bedarf auch auf der rechten Abwehrseite aushelfen, wobei der Borusse bei der USA-Reise auf dieser Position keine glückliche Figur abgegeben hat. Süle ist ein Herausforderer bei der Nationalmannschaft, eine recht verlässliche Größe, aber derzeit nicht erste Wahl. In Dortmund hat Nico Schlotterbeck Süle den Rang abgelaufen, weil er unter anderem größere Stärken im Spielaufbau verkörpert. Beim DFB hat „Schlotti“ nach einer Reihe von Patzern im Adlertrikot aktuell keinen guten Stand. Es fehle ihm an Konstanz auf dem höchsten Niveau, heißt es. Sein Klubtrainer Edin Terzic meinte zwar, sein Schützling hätte es sich „mit Leistung verdient“, auch zur Auswahl dazuzugehören. Doch Nagelsmann sieht das momentan anders, der Borusse blieb erneut außen vor.
Chance für BVB-Profi Can fraglich
Was nichts heißen muss: Noch sind Plätze zu vergeben, noch hält der Cheftrainer den Kader groß, um sich Eindrücke zu verschaffen. „Richtung März werden es weniger Spieler werden, dann wird der Kreis etwas konzentrierter“, sagte Nagelsmann. Ob dann auch BVB-Kapitän Emre Can seine Chance bekommt, der wegen seiner Verletzung an Oberschenkel und Knie seit drei Wochen nicht Fußball spielen kann, ist fraglich.
Im Mittelfeld gehörten Joshua Kimmich, Leon Goretzka (beide FC Bayern) und Ilkay Gündogan (FC Barcelona) zum harten Kern. Neulinge Pascal Groß (Brighton) hat einen guten Eindruck hinterlassen. Auch Grischa Prömel (TSG Hoffenheim) und Robert Andrich (Bayer Leverkusen) dürfen sich Hoffnungen machen. Can wird bis März bei Borussia Dortmund für sich werben müssen.
Eine Herausforderung bleibt die Besetzung der beiden Außenbahnen, kein neues Problem. Rechts wie links hat Benjamin Henrichs (RB Leipzig) Vorzüge in Defensive und Offensive. Bei allen anderen Kandidaten hapert es entweder im Verteidigungsverhalten, wie bei Robin Gosens (Union Berlin) und David Raum (Leipzig). Oder die Spielfläche jenseits der Mittellinie gehört eher zur terra incognita, wie bei Süle oder Tah.
Zur endlosen Debatte, ob Kimmich statt im Mittelfeld die Fäden zu ziehen nicht doch besser die Lücke hinten rechts schließen sollte, hat sich Nagelsmann noch nicht positioniert. In der gemeinsamen Zeit in München tauchte er nur selten dort auf. „Joshua ist ein sehr guter Rechtsverteidiger und ein sehr guter Sechser“, sagt Goretzka. „Wir brauchen ihn, egal auf welcher Position.“

Nagelsmanns Defensivkonzept mit Pressing auf verschiedenen Höhen, Konterabsicherung und Restverteidigung steht bereits in den kommenden Länderspielen gegen die Türkei (Sa., 20.45 Uhr in Berlin) und in Österreich (Di., 20.45 Uhr in Wien) vor der nächsten Nagel-Probe. Für ein erfolgreiches Heimturnier bei der Euro 2024 muss die Abwehr stehen. „Es ist eine kleine Floskel, aber uns allen bewusst: Eine stabile Defensive ist der Schlüssel zum Erfolg“, betont Goretzka. „Das haben wir nicht so gut hinbekommen bei den großen Turnieren zuletzt, deswegen arbeiten wir daran.“ Aus den Lautsprechern erklärt die nächste Zeile aus dem Hit von Kontra K, warum die Vorarbeit dafür jetzt erledigt werden muss. „Das Leben zahlt alles mal zurück“.
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