Hans-Joachim Watzke hat den 22. Dezember 2003 einmal als den „Urknall“ bezeichnet, weil an diesem Tag schlagartig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte, dass Borussia Dortmund finanziell in eine extreme Schieflage geraten war. Süddeutsche Zeitung und kicker deckten nach wochenlangen Recherchen auf, dass das Geld beim BVB knapp geworden war. Schlimmer noch: dass der Klub, der jahrelang über seine Verhältnisse gelebt und Unsummen verpulvert hatte, am Abgrund stand.
BVB-Bosse Niebaum und Meier in Erklärungsnot
Präsident Dr. Gerd Niebaum und Manager Michael Meier gerieten in Erklärungsnot. So eine drangvolle Enge wie an jenem Morgen, als die beiden Bosse der Borussia ihre gewagten Transaktionen und den alarmierenden Zustand des BVB zu verharmlosen versuchten, hatte im Presseraum des Stadions niemals zuvor geherrscht. Regionale und überregionale Medien entsandten alle verfügbaren Reporter nach Dortmund. So inflationär der Umgang mit diesem Begriff auch sein mag: Hier war es tatsächlich ein Beben, das die Bundesliga erschütterte.

Womöglich hätten alle Nachforschungen von Journalisten viel früher begonnen, wenn sie von einem Vorfall Kenntnis erlangt hätten, von dem Torsten Frings jetzt berichtet. Der frisch von Werder Bremen verpflichtete Mittelfeldspieler war 2002 nach der WM in Japan gerade erst aus dem Urlaub zurückgekehrt, als er im Trainingslager in Bad Radkersburg (Österreich) im Hotelrestaurant von den BVB-Chefs zu einem Gespräch gebeten wurde. Frings wurde schon mehr als ein Jahr, bevor man offiziell von den Dortmunder Geldsorgen erfuhr, im Beisein seines Beraters Norbert Pflippen gefragt, ob er bereit sei, auf 20 Prozent seines eben erst ausgehandelten Gehaltes zu verzichten. „Ja, wenn die ganze Mannschaft mitmacht“, habe er nach seiner Erinnerung geantwortet. Anschließend sei die Aktion wohl im Sande verlaufen: „Sie kam aus dem Nichts. Und es ist auch nichts passiert.“
BVB: Frings-Anekdote wirft Fragen auf
Frings‘ Anekdote wirft die Frage auf, ob sich der Himmel über Dortmund tatsächlich erst mit dem Aus in der Champions-League-Qualifikation gegen den FC Brügge verfinstert hatte. Bisher war angenommen worden, dass der 23. August 2003, Marcio Amorosos verschossener Elfmeter und der dann vorgenommene Kassensturz den BVB-Bossen Schweißperlen auf die Stirn getrieben hatten: Durch den K.o. in der Königsklasse fehlten dem BVB fest eingeplante 30 Millionen Euro. Jetzt wurden alle Profis – umgehend und ausnahmslos – mit 20 Prozent ihres Gehaltes zur Kasse gebeten. „Wir haben das ohne großes Murren akzeptiert“, verrät Frings. „Dass wir unseren Teil beitragen mussten, konnten wir zu 100 Prozent verstehen.“ Später gehörte der Vize-Weltmeister zum Tafelsilber, das der Verein in seiner wirtschaftlichen Not verkaufen musste: Für knapp zehn Millionen Euro wechselte er auf Drängen Niebaums nach nur zweistündiger Bedenkzeit zum FC Bayern München. „Ich wäre gern geblieben“, betont Frings heute. „Es hat mir unheimlich viel Spaß gemacht, für Dortmund zu spielen.“

Wie schon in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als Borussia Dortmund bei den Verpflichtungen von Matthias Sammer, Stefan Reuter, Andreas Möller, Julio Cesar, Jürgen Kohler, Heiko Herrlich und Paulo Sousa gewaltige Investitionen wagte, zwei Meisterschaften feierte (1995, 1996), aber wohl nur durch den anschließenden Champions-League-Sieg über Juventus Turin schon 1997 schwere finanzielle Turbulenzen verhindern konnte, befand sich der Verein 2001 erneut im Kaufrausch. Der nicht für die Tilgung der schon damals aufgelaufenen Schulden benötigte Teil des zuvor beim Börsengang erlösten Geldes (130 Millionen Euro nach Abzug aller Kosten) musste unters Volk gebracht werden: Allein für Tomas Rosicky, Jan Koller und Marcio Amoroso wechselten zusammen mehr als 46 Millionen Euro den Besitzer – eine für damalige Verhältnisse atemberaubende Summe, und die Spielergehälter kamen noch on top.
Bittere BVB-Wahrheit kommt ans Licht
In Dortmund ließ sich ein Leben wie im Schlaraffenland führen. Erfolge wie die Meisterschaft 2002 waren in die Rechnung der Bosse schon eingepreist. Sie waren teuer erkauft. Das schwarzgelbe Geschäftsmodell basierte auf einem Best-Case-Szenario. Salopp formuliert: Läuft der Laden, ist alles gut. Läuft er nicht, sitzt der Verein auf dem Trockenen. Der Borussia galoppierten die Kosten davon. Analyst Peter-Thilo Hasler, der als einer der ersten Finanzexperten vor dem „GAU mit Ansage“ in Dortmund warnte, hat sich oft gefragt, wie ein Fußballverein derart in die Bredouille kommen kann. Seine Erklärung: „Entweder er kann nicht rechnen, was ich aber niemandem unterstellen will. Oder er hat zu optimistisch geplant – und weniger Einnahmen als erwartet.“

Rechercheerfolge verschiedener Medien, darunter auch den Ruhr Nachrichten, brachten scheibchenweise die bittere Wahrheit ans Licht: Borussia hatte die Rechte an Vereinsnamen und Vereinslogo ebenso verpfändet wie die Transferrechte an verschiedenen Spielern (Rosicky, Ewerthon, Metzelder). Außerdem verkaufte der BVB das bis dahin vereinseigene Westfalenstadion für 75 Millionen Euro. Nur 27 Millionen Euro waren davon frei verfügbar, 48 Millionen Euro wanderten auf ein Festgeldkonto. Und auch wenn Niebaum und Meier nach dem „Urknall“ kurz vor Weihnachten 2003 weiter verschleierten und vertuschten: Das ganze Ausmaß der Finanzkrise, die den BVB fast in den Ruin geführt hätte, wurde immer deutlicher. Im Frühjahr 2005 lag der Verein in Trümmern.
BVB-Horrorschulden in Höhe von 119 Millionen Euro
Horrorschulden in Höhe von fast 119 Millionen Euro katapultierten Borussia Dortmund in eine „existenzbedrohende Situation“. Erst als 94,4 Prozent der Gläubiger des Molsiris-Stadionfonds einem Sanierungsplan zustimmten, der als Kern den Rückkauf des Stadions vorsah, entdeckte man wieder Licht am Ende des Tunnels. Die Restrukturierung der Borussia konnte beginnen. Niebaum gab im November 2004 sein Präsidentenamt – und drei Monate später die Geschäftsführung ab. Meiers im Juni 2005 auslaufender Vertrag wurde nicht verlängert. Bis heute wehrt sich der frühere Manager dagegen, als Pleitier dazustehen. Im RN-Interview sagte er vor einem Jahr: „Borussia Dortmund war nicht insolvent, und eine Beinahe-Insolvenz gibt es nicht.“