Daniel Rios (44) ist halb Spanier und halb Deutscher – und vor allem ein Fußball-Fachmann. Seit 2016 arbeitet der gebürtige Dortmunder als Co-Trainer bei der U19 von Borussia Dortmund. Dort hat er auch das Kicken selbst gelernt, ehe er als Spieler und Coach im Dortmunder Amateurfußball erfolgreich war. Vor dem EM-Viertelfinale am Freitag blickt er im Gespräch mit RN-Redakteur Jürgen Koers auf das Spiel, dass die Fußballwelt elektrisiert.
Herr Rios, warum macht es wieder Spaß, Spanien zuzuschauen?
Spanien war in der glorreichen Zeit unter Trainer Vicente del Bosque zweimal Europa- und einmal Weltmeister mit seinem einzigartigen Spielstil. Daran hat man erst einmal festgehalten, aber die einzelnen Spieler besaßen nicht mehr diese Qualität, das Tiki-Taka mit langen Ballbesitzphasen so auszuführen. Häufig haben die Mannschaften nach 2012 den Moment verpasst, um Torgefahr zu entwickeln. Es fehlte an Tempo, das Stilmittel der „falschen Neuner“ hatte sich vielleicht auch abgenutzt. Dadurch wurde das Spiel statisch und erfolgloser. Deswegen war die Erwartungshaltung in Spanien vor der EM auch gar nicht groß. Seit 2014 ging es bei Welt- und Europameisterschaften nur einmal über das Achtelfinale hinaus. Eine gewisse Skepsis war also angebracht, aber sie hat sich in große Begeisterung und Vorfreude auf das Spiel gegen Deutschland gewandelt.
Was sind die besonderen Kniffe von Trainer Luis de la Fuente?
Der Trainer kennt fast alle Spieler in- und auswendig, weil er sie lange im U-Bereich trainiert hat. Die Jungs sind alle durch seine Schule gegangen. Bei ihm wird Fußball gespielt. Mit Kontrolle, aber auch zielstrebig, sogar hohe und flache Flanken gehören zum Repertoire. Diese Flexibilität zahlt sich aus. Spanien spielt mutiger, risikoreicher und weniger abwartend, sondern aktiver und zielgerichteter in Richtung Tor. Ausgehend von dem hohen Grundniveau führt das dazu, dass das Spie insgesamt attraktiver aussieht. Auffällig bei dieser EM sind natürlich die Außenspieler Lamine Yamal und Nico Williams. Sie bringen unfassbares Potenzial mit, und ihre Fähigkeiten werden bestens genutzt und eingesetzt.

Dann sprechen wir doch gleich über Lamine Yamal und Nico Williams. Welche Worte finden Sie?
Von Williams wusste man aus Bilbao, dass er eine gute Saison gespielt hat und in Form ist. Er ist ein Außenspieler, der das Eins-gegen-Eins sucht, er bringt die nötige Geschwindigkeit mit und hat mit seinen erst 21 Jahren bereits mehrere Saisons in der LaLiga hinter sich. Er agiert wie Yamal mit dem „falschen“ Fuß, also als Rechtsfuß auf der linken Seite. Das ermöglicht es beiden Flügeln, noch geradliniger zum Tor zu ziehen. Der große Durchbruch der beiden bei dieser EM kommt nicht gänzlich überraschend, aber dass sie so stark abliefern, gerade in ihrem jungen Alter, das ist absolut außergewöhnlich! Yamal ist erst 16, bei ihm sieht man auch diese jugendliche Leichtigkeit in seinem Spiel, er traut sich alles zu und strotzt vor Selbstvertrauen. Er ist ein typischer Zögling aus der Akademie des FC Barcelona, wo Trainer Xavi den Mut hatte, ihn früh einzusetzen. Seine Unbekümmertheit und der gute Turnierstart sorgen bei ihm für einen weiteren Schub.
Aber Vorsicht: Spanien ist mehr als die Flügelzange, oder?
Das Herzstück ist Rodri, der bei Manchester City seit vielen Jahren auf der Sechser-Position ein Niveau zeigt wie kaum ein anderer Sechser. Er verfügt über ein sehr gutes Gespür für das Spiel, kann gut organisieren, im Mittelfeld seine Vorderleute Pedri und Fabian unterstützten. Rodri bringt seine Erfahrung mit ein, er hat die Champions League und die Premier League mehrfach gewonnen. Pedri ist der Freigeist im offensiven Mittelfeld, Fabian hat seinen Rhythmus bei Paris Saint-Germain gefunden und kann sich frei bewegen, ist auch wieder torgefährlich geworden. Im Mittelfeld passt die Mischung.

Ballbesitz ist ein Schüssel bei den Spaniern, aber Deutschland will den Ball auch haben.
Wenn beide Teams auf Ballbesitz bestehen, wird es entscheidend sein, bestimmte Phasen auszuhalten, wo man auch verteidigen muss. So wie ich beide Trainer einschätze, werden beide mutig spielen, vorne attackieren, ihr eigenes Spiel durchdrücken wollen. Dann wird es für die Fans ein sehr interessantes Spiel. Aber es ist auch ein K.o.-Spiel mit großer Bedeutung. Vielleicht halten sich beide am Anfang noch etwas bedeckt, weil der Respekt auf beiden Seiten groß ist.
Ist das Viertelfinale gegen Deutschland auch für Sie ein vorgezogenes Finale?
Es treffen die beiden Teams aufeinander, die bisher mit Abstand den besten Fußball gespielt haben. Das wird sehr spannend und ich tippe mal auf ein sehr schön anzuschauendes Spiel.
Worauf müssen die Spanier bei der DFB-Elf achten?
Es gilt für beide Seiten zu vermeiden, dass die Offensivspieler frei auf die Abwehrkette zulaufen können. Mit der individuellen Qualität von Jamal Musiala, Kai Havertz oder Ilkay Gündogan zwischen den Linien wird es dann brandgefährlich. Genauso anders herum: Wenn Wiliams, Yamal oder Pedri aufdrehen und ins Dribbling gehen können, wird es für die Abwehr schwierig. Man braucht im Spiel gegen den Ball enge Abstände, das wird für beide Mannschaften entscheidend sein.

Spanien und Deutschland werden also ganz anders gefordert als bisher im Turnierverlauf?
Absolut! Beide wollen das Spiel machen, werden aber defensiv mehr gefordert werden. Die Mischung aus hohem Pressing, kompaktem Anlaufen und guter Restverteidigung wird für beide Teams eine extrem herausfordernde Aufgabe sein. Beide haben ähnliche Stärken, beide sind ballsicher im Spielaufbau, beide werden mehr gegen den Ball arbeiten müssen als bisher. Das wird auch eine Frage der Geduld und der Ausdauer.
Wer ist denn defensiv stärker?
Ich glaube, da tun sich beide Mannschaften nicht viel. Je nachdem, wer spielt, gibt es hier oder dort ein kleines Plus. Antonio Rüdiger ist vielleicht der stärkste von allen Innenverteidigern. Hinten rechts hat sein Teamkollege Dani Carvajal von Real Madrid eine brutal starke Saison gespielt. Aber ich kann kaum sagen, dass er jetzt viel besser ist als ein Joshua Kimmich. Bemerkenswert ist auch, dass beide Trainer eine Reihe von Defensivspielern mit unterschiedlichen Vorzügen im Kader haben. Jeder kann das auswählen, was am besten zu passen scheint.
Also: Wie geht es aus?
Das ist sehr, sehr schwer vorherzusehen. Vom Niveau her finde ich Spanien einen Tick besser. Aber es ist eine Heim-EM, das ist ein Faktor, der für Deutschland spricht. Ich denke, es kann alles passieren, viele Spieler können diese Partie alleine entscheiden. Am Ende geht es um Kleinigkeiten. Beide Mannschaften müssen an ihre Leistungsgrenze kommen, um die andere zu schlagen.