Champions-League-Sieg 1997
BVB-Stratege Sammer: „Vielleicht bin ich manchmal übers Ziel hinausgeschossen“
Matthias Sammer hat den Champions-League-Sieg mit dem BVB noch genau vor Augen. Im Exklusiv-Interview spricht er über Streitkultur im Team, Respekt vor Michael Zorc und seine tiefe Liebe zum Fußball.
Am 28. Mai 1997 besiegt Borussia Dortmund im Finale der Champions-League den großen Favoriten Juventus Turin mit 3:1 - es ist einer der größten Erfolge der BVB-Vereinsgeschichte. Heute jährt sich der Triumph zum 25. Mal. In einer fünfteiligen Serie blicken wir zurück auf den legendären Abend von München und die folgenden Feierlichkeiten. Im Exklusiv-Interview spricht Matthias Sammer (54) über eine besondere Mannschaft, Ottmar Hitzfeld, eine neuartige Libero-Interpretation und sein bitteres Karriereende.
War der Sieg in der Champions League 1997 der Höhepunkt Ihrer Karriere?
Auf Vereinsebene war das auf jeden Fall mein persönlicher Höhepunkt, wenn man die Entwicklung und die Altersstruktur betrachtet. Ich bin in der DDR groß geworden, um die Wende erleben zu dürfen, dann über den VfB Stuttgart und nach einem kurzen Abstecher nach Italien bei Borussia Dortmund gelandet. Dort gab es die erste Meisterschaft 1995, die zweite Meisterschaft 1996, und dann dieser Erfolg 1997 mit einer Mannschaft, die in dem Jahr auch viele Probleme hatte in der Bundesliga. Die Champions League zu gewinnen ist das Größte, was man mit einem Klub erreichen kann.
Welche Gedanken kommen bei Ihnen hoch, wenn Sie an dieses Spiel an diesem Abend und die Zeit drumherum denken? Denken Sie an den Spielverlauf? Oder an Taktik? Oder an die Emotionen, die dieser Triumph hervorgebracht hat?
Mir kommt tatsächlich immer wieder der Gedanke, dass es gut war, dass Juventus Turin drei Tage zuvor italienischer Meister geworden ist. Mit ein wenig Abstand weiß man, was der Scudetto in Italien für einen Wert hat und was so ein großer Erfolg dann auch psychologisch und emotional mit den Spielern macht. Und dass es nach einem so berauschenden Erlebnis gar nicht so einfach ist, sich kurz danach komplett auf die Champions League zu konzentrieren. Turin hat auch in der ersten Hälfte die etwas feinere Klinge geschlagen. Ein paar Prozentpunkte haben Juventus zum Beispiel bei den Standards gefehlt. Davon unbenommen: Wir hatten auch eine super Mannschaft.
Aber Turin war Favorit.
Ich würde sagen, Juve war damals die beste Mannschaft der Welt. Um sie zu schlagen, brauchten wir besondere Umstände. Und die hatten wir.
Welche waren das?
Wir hatten auch etwas Spielglück, wie die Treffer gefallen sind. Kalle Riedle hat vermutlich das Spiel seines Lebens gemacht. Das steht auch sinnbildlich für den Erfolg, den wir hatten: Alle haben diese absolute Bereitschaft mitgebracht, diese kleine Chance zu nutzen, die wir gegen Juventus hatten. Und das war eine Qualität, die das Glück auf unsere Seite gezogen hat.
Viele BVB-Spieler waren damals auf dem Zenit ihrer Leistungsfähigkeit. Aber die Mannschaft bestand nicht aus elf Freunden, oder?
Wir hatten viele hervorragende Fußballer dabei, die der BVB unter der Führung von Gerd Niebaum und Michael Meier geholt hatte. Trainer Ottmar Hitzfeld hat das zusammengefügt und ist mit den Führungsspielern lange sehr gut klargekommen. Insgesamt war die Qualität der Mannschaft, dass sie auch immer wieder Rückschläge weggesteckt hat. Wir hatten eine sehr hohe Geschlossenheit, eine hohe Professionalität und den Siegeswillen. Einer Meinung waren wir nicht immer, gar keine Frage. Aber alle waren verlässlich auf den Punkt da. Alle wollten etwas Großes erreichen. Um so ein Finale zu gewinnen, musst du eine besondere Energie, einen eigenen Spirit auf dem Feld haben. In der Bundesliga haben wir das nicht immer geschafft, aber in der Champions League ist uns das nahe an der Perfektion gelungen. Der Zusammenhalt war da.
Matthias Sammer (r.) behauptet den Ball gegen Zinedine Zidane. © imago / Liedel
Ihr Einsatz im Endspiel galt lange als gefährdet.
Ich war in der Saison oft angeschlagen, so dass dann Wolfgang Feiersinger eingesprungen ist, der mich zum Beispiel im Halbfinale gegen Manchester United glänzend vertreten hat. Im Finale bekam er leider keinen Platz im Kader, weil ich spielen sollte. Und dann durfte ich die Mannschaft als Kapitän aufs Feld führen und nicht Michael Zorc. Das war eine schwierige Konstellation.
Zorc haben Sie bei der Pokalübergabe aber den Vortritt gelassen. Warum?
Ich hatte gespürt, dass das so richtig wäre. Das sollte auch eine Form der Wertschätzung und der Anerkennung ausdrücken. 1994 kam Ottmar Hitzfeld mal auf mich zu und meinte, er wolle auch hierarchisch Dinge verändern. Hitzfeld konnte wie kein Zweiter mit den Spielern umgehen. Und als wir über die Kapitänsbinde sprachen, habe ich ihm signalisiert, dass ich gerne die Verantwortung übernehmen und anführen wolle, dafür aber nicht den Stoff am linken Arm bräuchte. Unser Kapitän war und blieb Michael, das war auch ein wichtiges Signal für die Fans. Er kommt aus der Region, verkörpert hohe Glaubwürdigkeit und war mit seinen Qualitäten auch ein wichtiger und zentraler Spieler.
Darauf haben Sie in dem Moment Rücksicht genommen?
In diesem Zusammenhang hatte diese Entscheidung ihren Ursprung. Nach dem Finale war für mich klar, dass Michael unser Kapitän für die gesamte Saison war, auch wenn er an diesem Abend nur ein paar Minuten gespielt hat. Und für mein Selbstverständnis nimmt der Kapitän der Saison der Mannschaft den Pokal entgegen. Vollkommen logisch und für mich nicht diskutierbar.
Mit dieser Mannschaft gelang dem BVB die große Final-Überraschung gegen Juventus Turin. © imago / Horstmüller
In allen Berichten über Sie aus der Zeit damals werden Sie als Anführer, Motivator, Antreiber beschrieben, als Feuerkopf oder Feldherr oder auch als Motzki. Was können Sie heute mit diesen Beschreibungen anfangen?
Also, so falsch sind diese Attribute nicht (lacht). Sie sind ein Bestandteil von mir. Sicher nicht ausschließlich, aber wichtig. Natürlich ist Fußball ein Mannschaftssport, aber manchmal wünscht man sich etwas mehr Energie auf dem Platz. Zuhause knipst man den Lichtschalter an. In einer Mannschaft muss man das anders versuchen. Da gibt es verschiedene Methoden, die geeignet sein können. Im Laufe der Jahre erkennst du die Gemengelage, ob es Ablenkungen gibt oder eben nicht alle beim selben Thema sind. Das kann negative Ausstrahlungen haben. Wenn man das erkennt, und diese Fähigkeit hatte ich womöglich, dann muss man darauf Einfluss nehmen. Sonst wird man keinen Erfolg erzielen.
Brauchte es diese Reibung damals, und heute auch noch?
Das ist bis heute meine feste Überzeugung. Egal ob als Spieler, als Trainer, im Nachwuchsbereich oder in meiner Funktion als Berater bei Borussia Dortmund. Man braucht diese Grundhaltung, sich und die Mannschaft immer verbessern zu wollen. Natürlich muss man jeweils anders reden, aber es bleibt immer das Ziel, diese Energie und Lebendigkeit in die Gruppe zu tragen. Grundsätzlich hat sich daran bis heute nichts geändert. Und deshalb bin ich auch im Nachhinein froh über diese Attribute, die Sie genannt haben. Nicht alle Beschreibungen sind schmeichelhaft, vielleicht bin ich auch manchmal übers Ziel hinausgeschossen, aber ich bin alles andere als sauer darüber.
Früher sah man Sie wild gestikulieren, Sie haben auch mal Mitspieler angestachelt. Heute ist Ihre Emotionalität aber weniger lautstark ausgeprägt, oder?
Das ist so. Wenn man älter wird, denkt man lösungsorientierter, stellt sich auch argumentativ anders auf. Wobei ich immer sage: Auf dem Spielfeld hattest du keine Zeit, jemanden lang zu überzeugen. Da musste es auch mal rau zugehen, mit dem harten Ton, um eine sofortige Reaktion auszulösen. Wenn es mehr Zeit gibt, sollte man auch anders miteinander umgehen, dann kann man auch mehr die positiven Aspekte sehen. Das verändert sich auch im Alter, wenn etwas mehr Ruhe einkehrt, vielleicht auch mehr Vernunft. In mir drin spüre ich aber nach wie vor die gleichen Themen wie vor 30 Jahren. Das ist auch gut so.
Prototyp Führungsspieler: Matthias Sammer. © imago / Uwe Kraft
Wenn Sie in Dortmund auf der Tribüne sitzen und dann ein 3:4 gegen den VfL Bochum sehen, dann pulsiert es in Ihnen heute genauso wie früher?
Da geht es mir heute noch genauso, ja. Auch wenn ich dann nicht ausspreche, was in mir vorgeht. Ich sehe das Spiel zwar mit anderen Augen, suche immer auch gleich die Erklärungen. Aber ja: Diese Lebendigkeit ist heute immer noch da, und ich hoffe, dass sie mir auch bis zum letzten Tag erhalten bleibt.
Diese tiefe Begeisterung und dieser ungezügelte Ehrgeiz haben Sie neben der fußballerischen Klasse ausgezeichnet. Macht das einen Leadertypen aus?
Wenn wir über Hierarchie sprechen, werden heute allgemein flache Hierarchien propagiert. Aber ich bin da anderer Meinung. Eine Hierarchie bedeutet einfach eine Ordnung, egal ob in der Familie, bei der Arbeit oder innerhalb einer Mannschaft. Manch einer ist ein bisschen introvertierter in seinem Handeln, andere extrovertierter. Jeder darf seine Meinung sagen. In manchen Situationen muss man aber schnell entscheiden, da kommt es dann auch auf eine natürliche Ausstrahlung an. In einer flachen Hierarchie kann man nicht so schnell lösungsorientiert handeln. Natürlich immer unter dem Aspekt der Qualität der Argumente, nicht der Lautstärke.
Sie konnten sich das erlauben, weil Sie auch mit Leistung vorangegangen sind.
Ohne eine gewisse Leistung auf dem Feld fehlt die Anerkennung.
Ottmar Hitzfeld hat gesagt, in der Mannschaft habe es 1997 immer irgendwo gelodert. Stört das nicht irgendwann die Konzentration aufs Wesentliche?
Was ist zu viel Feuer, was ist zu wenig? Ich bin ein Verfechter davon, dass es lebendig zugeht. Harmonie, Respekt, Anstand – das sind Grundvoraussetzungen. Aber dabei fehlt der wesentliche Aspekt der Dynamik. Und ich glaube, dass Entwicklungen, egal ob sportlicher oder geistiger Natur, nur aus Widersprüchen entstehen können. Es geht mir dabei ja um die Gruppe. Der Begriff des Streitens ist so negativ behaftet. Aber eine gute und respektvolle Streitkultur hilft, das Bestmögliche herauszukitzeln. Wenn eine Mannschaft so funktioniert, wird sie besser sein und mehr Ziele erreichen als mit Harmonie und Friede, Freude, Eierkuchen.
War die Mannschaft von 1997 nach außen geschlossen, nach innen meinungsfreudig?
Harmonie erkennt man in der Niederlage. Da sieht man, wer sich aus der Verantwortung stehlen möchte und mit dem Finger auf andere zeigt. Jeder sollte frustriert sein, aber dann muss man erst die Emotionen abkühlen, ehe man wieder kontrovers diskutieren kann.
Was aus Ihrer aktiven Zeit noch hängengeblieben ist, ist die neuartige Interpretation der Rolle als Libero. Wie hat sich das ergeben? Aus taktischen Gesichtspunkten, oder aus der Analyse heraus?
Sie müssen wissen, dass ich in der Jugend Mittelstürmer war und erst nach und nach auf die hinteren Positionen gerückt bin. Ich hatte, glaube ich, immer ein ganz gutes Gefühl für die Räume auf dem Platz. Eines Tages kam Ottmar Hitzfeld auf mich zu und fragte mich, ob ich mir das vorstellen könnte. Wir hatten ein Trainingsspiel in der Roten Erde, ich erinnere mich noch sehr genau. Das klappte gut, und dann haben wir das ausgebaut.
Von da an waren Sie mehr Spielmacher als Abwehrchef.
Es war sehr wichtig, in dieser Position auch verteidigen zu können. Aber gleichzeitig bot dieses Modell die wunderbare Chance, der Mannschaft eine Unberechenbarkeit, eine Kreativität zu geben, die aufgrund dieser Position einfach prädestiniert war. Das hat sich dann mehr und mehr herauskristallisiert.
Die Abwehrarbeit mussten dann andere übernehmen.
Die Stopper neben oder hinter mir waren natürlich meine Lebensversicherung. Beim BVB Jürgen Kohler, Julio Cesar oder Martin Kree. In der Nationalmannschaft bei der EM 1996 waren es Thomas Helmer und Markus Babbel. Wenn du klasse Spieler um dich herum weißt, kannst du dich auch mal offensiver einbringen. Die Qualität der Nebenleute hat diese Möglichkeiten erst eröffnet.
Was Sie noch nicht erwähnt haben: 1997 waren Sie bereits mehrfach am Knie operiert worden. Wie schmerzhaft war das? Wie sehr hat es Sie beeinträchtigt?
Das Knie hatte schon zu DDR-Zeiten aufgemuckt, aber ich bin eigentlich ganz gut durchgekommen. Vor der Operation im Herbst 1997 hatte ich Probleme mit einer Schleimhautfalte im Knie. Was dann bei der Operation passiert ist, war eigentlich keine notwendige Tatsache. Es kam zu einer Infektion mit Bakterien, es stand Spitz auf Knopf um mich. Das war Schicksal und leider schade, dass meine Karriere dann mit 30 Jahren leider zu Ende war.
Das letzte Pflichtspiel seine Karriere absolvierte Matthias Sammer (r.) am 4. Oktober 1997 gegen Arminia Bielefeld. Nach einer Knie-Operation kämpfte der BVB-Spieler zweieinhalb Jahre um sein Comeback - vergeblich. © imago / Team2
Ist es ein Trost, dass Sie vorher auf dem gefühlten Höhepunkt standen?
Man sagt ja, dass man aufhören soll, wenn es am schönsten ist. Aber mir ist das sehr, sehr schwergefallen. Wie Sie mich kennen, hätte ich gerne noch drei oder vier Jahre weitergespielt. Ob ich heute noch kicken würde, kann ich nicht sagen. Aber diese Liebe und die Faszination sind immer noch da. Ich weiß nicht, ob ich als Säugling schon gegen den Ball getreten habe, aber bestimmt als Kleinkind. Fußball war immer das große Thema, weil mir dieses Spiel unbeschreibliche Stunden und Gefühle geschenkt hat. Aufhören zu müssen, war damals ein bitterer Verlust für mich. Die Liebe zum Fußball ist von der Intensität her bei mir nur mit der Liebe zur Familie zu vergleichen.
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