Wie die Medienwelt so tickt heutzutage, das scheint für Edin Terzic auch nach Stationen als Co-Trainer in der Türkei und in England sowie als Chef in seiner zweiten Saison in Dortmund manchmal noch eine große Überraschung zu sein. Terzic hat Borussia Dortmund nach einem, nun ja, durchwachsenen ersten Halbjahr im Mai fast noch zur Deutschen Meisterschaft geführt. Beim Scheitern nur Millimeter vor der Ziellinie vergoss er, als er fast entschuldigend vor den Fans auf der Südtribüne stand, bittere Tränen. Wie so viele rund um Borussia Dortmund.
Titel-Drama wirkt beim BVB nach
Jeder hätte dem BVB die Meisterschaft gegönnt, das Scheitern hatte tragische Züge, weil sich eine Geschichte, die sich Terzic mit einem emotional aufwühlenden Video zu seinem Amtsantritt gewünscht hatte, fast bewahrheitet hätte. „Lasst uns so hungrig sein wie noch nie, lasst uns so positiv sein wie noch nie“, hatte er damals an die Fans adressiert in dem Video gesagt, „vor allem lasst uns so laut sein wie noch nie. Dann können wir gemeinsam etwas Großes erreichen.“ Nach dem 27. Mai aber, am Ende seiner ersten Saison, waren Terzic und der BVB wieder 34 Spieltage von einem möglichen Titelgewinn entfernt. Selten zuvor war ein Dortmunder Team so knapp vor dem Ziel und auf so dramatische Art und Weise gescheitert. Das sollte nachwirken. Bis weit in die neue Saison.
Als der BVB und sein Trainer in die aktuelle Spielzeit starteten, lag eine schwierige Vorbereitung hinter Terzic und der Mannschaft. Die Nachwirkungen der verpassten Meisterschaft, das sollte sich zeigen, konnten nicht alle Spieler im Urlaub lassen. Spät ins Training eingestiegene Nationalspieler, das kennt man bei der Borussia seit Jahren. Doch der BVB hatte mit vielen weiteren Hürden zu kämpfen. In Jude Bellingham war das Herzstück des Mittelfelds weggebrochen, wie gut dieser Spieler ist, zeigt er seit Wochen in seinem neuen Verein. Erfahrene Spieler wie Mats Hummels und Marco Reus verlängerten zwar ihre Verträge, aber sie wollten raus aus dem medialen Fokus, zurück in die zweite Reihe treten und Verantwortung beim Führen der Mannschaft in jüngere Hände legen. Neue Hierarchien mussten sich ausbilden, eine anstrengende und wenig Training ermöglichende USA-Reise kam erschwerend hinzu.
Holpriger BVB-Start in die neue Saison
Der Start in die Saison verlief entsprechend holprig. Köln wurde glücklich besiegt, in Bochum spielte Dortmund wieder nur 1:1, gegen Aufsteiger Heidenheim nur 2:2 nach 2:0-Führung. Und plötzlich sah sich Terzic inmitten einer vom Boulevard aufgeworfenen Mediendiskussion darüber, ob er wirklich der richtige Trainer sei, der den BVB auch zum letzten Schritt über die Ziellinie führen könne.
Wie schnell und wie groß die Unruhe in Dortmund werden kann, wenn nach drei Spielen gegen keine übermächtigen Gegner nur fünf Zähler auf dem Habenkonto sind, das sorgte beim 41-Jährigen für große Irritationen. Denn es gab ja Gründe für die Probleme zu Beginn. Dass Borussia Dortmund im Kalenderjahr 2023 nur eine Bundesliga-Partie verloren hatte, Anfang April in München, schien Mitte September nichts mehr wert zu sein.
BVB-Serie bleibt bestehen
Die Serie, das ist beeindruckend, hat bis heute, zweieinhalb Monate später, Bestand. Die Kritik am Auftreten der Mannschaft und auch am Trainer ist verstummt. In den vergangenen Wochen hat Borussia Dortmund Schritte nach vorne gemacht. Nicht mit Siebenmeilen-Stiefeln, aber stetig. Woche für Woche wurde das Spiel besser, die Mechanismen griffen besser, die Stabilität wuchs. Die Ergebnisse stimmten sowieso. Keine Mannschaft in Europa hat im Jahr 2023 im Liga-Betrieb verlässlicher gepunktet.
Und so kommt es heute Abend (18.30 Uhr, live auf Sky) auf Augenhöhe zum nächsten Gipfeltreffen mit den Bayern, kurioserweise aus einer für beide Vereine ungewohnten Position heraus. Über Jahre war der deutsche Clasico das Duell Tabellenführer gegen ärgster Verfolger. Aktuell trifft der Vierte auf den Zweiten. Für den Glanz sorgen in der Bundesliga aktuell andere, Bayer Leverkusen zum Beispiel.
BVB bleibt auch in schwierigen Situationen geduldig
Den Stellenwert des Bayern-Gastspiels in Dortmund kann diese Tatsache nicht mindern. Anders als zum Beispiel in Spanien, wo sich Real Madrid und der FC Barcelona weitgehend auf Augenhöhe bewegen, haben die Bayern zuletzt die Bundesliga dominiert wie kein Klub jemals zuvor. In den 70er-Jahren schickte sich Borussia Mönchengladbach an, in die Phalanx der Münchner einzudringen, seither aber gab es nur sporadisch mal Aufbegehren, auch von Borussia Dortmund. Seit elf Jahren aber gab es keinen anderen Meister, und es war häufig der Verfolger aus dem Ruhrpott, der als einzige Mannschaft trotz allen Scheiterns unverdrossen die Bayern jagte.
Was macht den BVB zu einem ebenbürtigen Gegner? Vor allem bewegt sich die Mannschaft aktuell deutlich organisierter über den Rasen, steht defensive stabiler (die ersten 45 Minuten in Frankfurt war ein Ausreißer) und beeindruckt auch durch klar erkennbare Muster im Angriffs- und Verteidigungsverhalten. Vor dem 3:3 am vergangenen Sonntag in Frankfurt gab es fünf Siege, die nicht alle glanzvoll, aber mit einer klar erkennbaren Strategie herausgespielt wurden. Die Comeback-Qualitäten der Mannschaft haben nach Rückständen schon zu acht Punkten geführt, bemerkenswert dabei ist, dass der BVB selten die Brechstange auspackt, stattdessen geduldig bleibt und auf seine individuellen Fähigkeiten ebenso vertrauen kann wie auf das erkennbar verbesserte Zusammenspiel miteinander. So auch beim 1:0-Erfolg im Pokal gegen Hoffenheim am Mittwoch.
BVB-Gegner München blamiert sich in Saarbrücken
Noch gut in Erinnerung ist das 2:2 aus dem vergangenen Jahr, als Anthony Modeste in der Nachspielzeit das Stadion zum Beben brachte und eine Dortmunder Aufholjagd krönte, die die ganze Wucht zeigte, die im Signal Iduna Park im Zusammenspiel mit den Fans entstehen kann. Es ist nicht allzu weit hergeholt zu vermuten, dass das auch heute Abend notwendig sein wird. Restlos überzeugen konnten die Bayern bislang in keinem ihrer Pflichtspiele – dann folgte die Blamage beim Drittligisten 1. FC Saarbrücken.

Es gab für Edin Terzic sicher genügend Ansätze, wie man diesen Bayern beikommen und sie auch besiegen kann. Dennoch beeindruckt die Konstanz, mit der die Münchner ihre Punkte einfahren und auch permanenten personellen Rückschlägen trotzen. Kein anderer Kader in der Liga ist so ausgeglichen und gut besetzt. Sicher auch nicht der der Dortmunder Borussia, doch den Vergleich der einzelnen Positionen als Kriterium für den Ausgang des Spiels anzuführen, hat in der Vergangenheit fast nur funktioniert, wenn Dortmund in München angetreten ist – und meistens chancenlos war.
BVB wartet seitfünf Jahren auf einen Sieg
Daheim ist hingegen ein offenes Spiel zu erwarten, wenn es der Borussia gelingt, Mut mit Stabilität zu kombinieren. „Wenn man dem Gegner Platz und Raum gibt, wird es schwer“, meinte Dortmunds Trainer im Nachgang zum 3:3 in Frankfurt, was als Warnung gelten dürfte. Wie konsequent die Bayern offene Flanken des Gegners bespielen und auch für ihr Spiel ausnutzen, davon kann Aufsteiger Darmstadt ein Lied singen. Weiterhin gilt: Es muss ein Rädchen ins andere greifen und viel passen bei Borussia Dortmund, um am Ende gegen die Bayern siegreich zu sein. Der bislang letzte Bundesliga-Sieg gegen den Rekordmeister datiert vom 10. November 2018, fünf Jahre ist das her. Danach gab es nur noch einen (recht unwichtigen) Triumph im Supercup. Aber viel zu viele Niederlagen.