BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl im Exklusiv-Interview „Wir werden überzeugen müssen“

BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl im Exklusiv-Interview: „Wir werden überzeugen müssen“
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Eine Bundesliga-Saison mit vielen Höhen und Tiefen endet am Samstag. Mit welchen Erwartungen und Gefühlen gehen Sie in den letzten Spieltag?

Es wird ein besonderes Spiel, das wir auf mehreren Ebenen nutzen möchten. Wir wollen im Rhythmus bleiben, der Trainer wird sicher eine starke Formation aufs Feld schicken. Darüber hinaus möchten wir für Marco Reus einen besonderen Abschied kreieren. Die Stimmung wird gut sein, erneut ein 34. Spieltag mit vielen Emotionen. In diesem Jahr freuen sich alle für Marco und auf Wembley. Unsere Saison ist ja noch nicht zu Ende.

Sie haben mit Marco Reus selbst noch zusammengespielt. Was bedeutet das für ihn, wie hat er sich auch entwickelt zu jemandem, der nun als Legende abtritt?

Es ist schon so lange her, aber es stimmt, wir haben zusammengespielt (schmunzelt). Das zeigt ja, wie lange er schon bei uns ist. Es wird ihm nicht leicht fallen, zum letzten Mal als aktiver Spieler durch diesen Tunnel ins Stadion einzulaufen. Und für den Verein ist es auch ein Moment, in dem man mal innehält, weil so ein außergewöhnlicher und verdienter Spieler abtritt. Ich ahne, was ihn in dieser Woche emotional beschäftigt. Das sind Tage, die nicht einfach sind. Man realisiert, was das alles bedeutet am Ende einer so langen gemeinsamen Zeit. Aber ich erlebe Marco sehr fokussiert, mit einer gewissen Frische und Leichtigkeit und einer Vorfreude auf das, was in zwei Wochen auf uns wartet. Es wäre für alle großartig, wenn wir diese Saison für ihn und seine Karriere mit diesem Titel in Wembley krönen könnten.

Können Sie sich an die ersten Tage mit Marco Reus im Sommer 2012 erinnern? War er sehr schüchtern?

Marco war nie der Typ, der große Reden geschwungen hat. Er war immer sehr bescheiden und zurückhaltend.

Und frisurentechnisch damals noch nicht am Optimum…

(lacht) Sagen wir es mal so: Er hat sich auch in diesem Bereich weiterentwickelt. Im Ernst: Er ist einer der herausragendsten Spieler, die wir hier in diesem Klub je hatten. Allein durch seine Torbilanz wird er den BVB-Fans ewig in Erinnerung bleiben.

Reus‘ Karriere war leider auch geprägt von vielen Verletzungen. Was hat das mit ihm gemacht, wie konnten Sie in Ihrer Zeit als Kapitän da unterstützen?

Ohne diese Verletzungen wäre seine Karriere noch deutlich erfolgreicher verlaufen. Marco war aber immer einer, der schnell zurückgekommen ist, weil er sehr ehrgeizig und zielstrebig war. Und auf dem Platz war er sehr intelligent, sehr schlau. Er wusste, in welchen Räumen er sich bewegen musste. Von seinem Potenzial her hätte er vor allem auch in der Nationalmannschaft einen höheren Stellenwert verdient gehabt. Aber ich habe ihn immer erlebt als jemanden, der keinen Groll gehegt hat und der nicht mit dem Konjunktiv auf den Lippen in den Rückspiegel geschaut hat.

Auch in dieser Saison ist seine Quote mit fünf Toren und acht Assists in der Liga ordentlich …

Er ist immer noch in der Lage, unserem Spiel wichtige Impulse zu geben. Mir ist ein anderer Punkt aber auch wichtig: Selbst wenn er zuletzt manchmal nicht die Spielzeit hatte, die er sich selbst gewünscht hätte, ist er immer noch ein Gesicht dieses Vereins, nicht nur im In-, sondern vor allem auch im Ausland. Sein Stellenwert ist sehr hoch, weil er immer der Marco aus Dortmund geblieben ist, der er sein ganzes Leben lang war. Er hat hier zwölf Jahre bei den Profis gespielt, insgesamt mehr als sein halbes Leben beim BVB verbracht. Er wird eine Lücke hinterlassen.

Warum fiel dennoch die Entscheidung, nicht um ein weiteres Jahr zu verlängern?

Das war das Ergebnis intensiver Überlegungen, die beide Seiten anstellen. Am Ende schaut man sich in die Augen und hat in diesem Fall beschlossen, etwas Neues zu machen. Marco will noch weiterspielen, es wartet eine neue, spannende Erfahrung auf ihn. Wir als Klub müssen uns auch auf die sportliche Zukunft vorbereiten.

Weitere Verträge laufen aus, Mateu Morey und Marius Wolf stehen vor dem Abschied, bei Ian Maatsen und Jadon Sancho ist alles offen…

Seitdem Klarheit herrschte über unsere sportliche und wirtschaftliche Situation für die kommende Saison, haben wir Gespräche geführt. Mateu Morey und Marius Wolf haben wir mitgeteilt, dass wir ihre Verträge nicht verlängern. Im Fall von Mateu ist es sehr schade, er hatte viel Pech mit Verletzungen und konnte nie über einen längeren Zeitraum zeigen, was in ihm steckt. Marius hatte unterschiedliche Phasen, war zeitweise Nationalspieler, hat als BVB-Profi fünf Länderspiele gemacht. Ihn reizt auch die Möglichkeit, vielleicht im Ausland noch eine neue Erfahrung zu sammeln. Beide werden am Samstag verabschiedet, genauso wie Otto Addo, der Ghana als Nationaltrainer zur WM führen soll.

Sie ahnen, wir müssen auch nach Mats Hummels fragen…

(lacht) Klar, aber was Mats angeht, ist noch keine Entscheidung getroffen. Da steht erst das klare Ziel im Vordergrund, das Finale erfolgreich zu bestreiten. Das hat er selbst ja auch immer wieder betont.

Bleibt es bei Ihrem Wunsch, bei den bisher nur ausgeliehenen Maatsen und Sancho alles zu versuchen, um sie beim BVB zu halten? Wie realistisch ist ein Verbleib?

Es war zunächst einmal eine gute Entscheidung, dass wir sie im Winter zum BVB geholt haben. Beide haben uns einen klaren Mehrwert geliefert, haben sich extrem schnell integriert und sich reingehauen. Und daher werden wir natürlich auch Gespräche führen, aber darüber im Detail zu sprechen, dafür ist noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen. Wir werden überzeugen müssen, und das wird aus wirtschaftlichen Gründen nicht einfach werden, denn das Steuer halten ihre jeweiligen Klubs in der Hand.

Sie gelten ja als kreativer und harter Verhandler …

Ich versuche natürlich, das Beste für unseren Klub herauszuholen. Kreativität werden wir auf jeden Fall benötigen.

Sie könnten ja auch andere Dinge in die Waagschale werfen. Zum Beispiel gibt es immer wieder Gerüchte, Donyell Malen sähe sich gern auf der Insel…

Bislang gibt es kein Angebot für irgendeinen Spieler. Und ich möchte auch keine Gerüchte kommentieren. Wir stehen im Finale der Champions League, das ist die größtmögliche Bühne im internationalen Klubfußball. Aber momentan legen wir alle den klaren Fokus auf Wembley. Alles andere schieben wir erst einmal zur Seite.

Stellen Sie sich auf einen langen Transfersommer ein? Die Tendenz scheint dahinzugehen, dass man mehr Geduld benötigt, um Transfers fix zu machen…

Wir wissen, dass die Engländer traditionell sehr spät agieren, also kann es sein, dass wir auch zum Beispiel spät damit konfrontiert werden, dass ein Spieler weg möchte. Das heißt aber auch, dass es zum Ende hin noch Möglichkeiten geben kann. Grundsätzlich sind wir auf alles vorbereitet. Natürlich hätte jeder Trainer gern seinen Kader schon beim Trainingsstart komplett beisammen. Das ist aber zumeist leider Wunschdenken.

Sebastian Kehl sitzt an einem runden Tisch.
BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl (M.) während des Interview mit den Ruhr Nachrichten in der Geschäftsstelle Sport. © Groeger

Drei Spieler sind aktuell verliehen. Wie planen sie mit Giovanni Reyna, Soumaila Coulibaly und Tom Rothe?

Alle haben ab dem 1. Juli gültige Verträge bei uns. Wir analysieren gemeinsam mit den Beratern und den Spielern die Situation: Was ergibt Sinn? Eine erneute Ausleihe, eine Rückkehr oder ein Verkauf? Das schauen wir uns in Ruhe an. Die Entwicklungen waren bei allen drei Spielern unterschiedlich. Tom Rothe zum Beispiel hat sich sehr gut entwickelt, auch Soumaila Coulibaly war bis zu seiner Verletzung Stammspieler.

Rothe soll das Interesse mehrerer Bundesligisten geweckt haben…

Er ist mit Kiel in die Bundesliga aufgestiegen, hat fast alle Spiele bestritten. Dass da Bewegung drin ist, ist nur verständlich. Und er spielt auf einer Position, die Begehrlichkeiten weckt. Wir machen uns Gedanken, wie wir damit umgehen. (schmunzelt) Wir werden erstmal unsere Kaderplanung vorantreiben, bevor wir Probleme anderer Klubs lösen.

Wo liegt die Priorität in der Kaderplanung, was die Zugangsseite anbelangt?

Das ist jetzt kein Thema für die Öffentlichkeit! Es ist ja auch davon abhängig, welche Entscheidungen noch auf der Abgangsseite fallen, welche Spieler zurückkommen oder bleiben. Es kann ja im Markt auch immer mal was Verrücktes passieren.

Dazu das Endspiel in Wembley. Sie können umfangreicher shoppen gehen, als es vor drei Monaten möglich schien.

Dieses Finale haben wir uns absolut verdient! Wenn ich bedenke, wie wir die schwerste Gruppe als Sieger gemeistert und uns in den K.o.-Runden gegen Eindhoven, Atletico Madrid und Paris Saint-Germain durchgesetzt haben. Aber die Qualifikation für die nächste Saison hat für die sichere wirtschaftliche Planung eine bedeutendere Größenordnung.

Sebastian Kehl schaut zur Seite.
BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl blickt auf eine turbulente Saison. © Groeger

Es gibt eine starke Diskrepanz zwischen den beiden Wettbewerben Bundesliga und Champions League. Wie frustrierend ist das im Rückblick?

Diese Diskrepanz war in der gesamten Saison immer wieder ein Thema, auch mit der Mannschaft, im Trainerteam, hier unter den Verantwortlichen. Wir alle wollten dem entgegensteuern, aber es gibt nicht das eine Patentrezept dafür. Platz fünf in der Bundesliga ist nicht unser Anspruch. Wenn wir bei 63 Punkten landen, ist das unter dem Schnitt der letzten Jahre. Und wir müssen in der nächsten Saison in der Liga wieder einen Schritt nach vorne machen.

Wie wird sich das Feld verändern in der Bundesliga? In den letzten zehn Jahren war es gesetzt, die Bayern sind oben und der BVB versucht, so lange wie möglich dran zu bleiben. Das hat sich in diesem Jahr gewaltig verändert.

Leverkusen war unglaublich konstant. Und die Stuttgarter haben auch eine sehr gute Saison gespielt. Häufig waren wir in den vergangenen Jahren Zweiter, auch das zeugt ja von einer gewissen Konstanz. In dieser Saison haben wir es national nicht immer geschafft, an unser Limit zu kommen. Wir werden unsere Ableitungen daraus treffen. Es wird ein Ziel sein, in der nächsten Bundesliga-Saison besser abzuschneiden. Und trotzdem ist es gut für die Liga, dass wir in diesem Jahr einen anderen Deutschen Meister haben. Leverkusen hat das nahezu perfekt gemacht und es mehr als verdient.

Wie sehr übertüncht das Abschneiden im Europapokal die schwache Bundesliga-Spielzeit in der Saisonanalyse?

Wir müssen eine bessere Balance finden zwischen Liga und Champions League und werden das in unsere Saisonanalyse einfließen lassen. Wir hatten in diesem Jahr Phasen, in denen wir sehr viel Kritik einstecken mussten. Am Ende war es sehr begeisternd aufgrund der Champions League, übrigens haben wir auch in den Jahren der anderen beiden Champions-League-Finalteilnahmen, 1997 und 2013, in der Liga nicht überzeugt. Wir müssen also daran arbeiten, Maß und Mitte zu finden. Es ist unsere Verantwortung, sowohl im Erfolgs- als auch im Misserfolgsfall einen klaren Blick zu behalten.

Verspüren Sie persönliche Genugtuung?

Nein, das ist nicht die Art und Weise wie ich denke. Ich kenne das Fußballgeschäft seit vielen Jahren aus unterschiedlichen Perspektiven. Alle, die mit diesem Wahnsinn tagtäglich zu tun haben, können dieses Schwarz und Weiß sehr gut einschätzen.

Abgesehen von Kaderplanung und Transfers, welche Themenfelder haben Sie als Sportdirektor zufriedenstellend vorangetrieben?

Ich möchte jetzt nicht über mich und meine Arbeit urteilen, das sollten andere tun. Wir versuchen, jeden Tag besser zu werden. Das ist der Anspruch, den ich an jeden Mitarbeiter habe. Und auch an mich selbst. Diese vielen kleinen Prozentpunkte aller Menschen in diesem Klub tragen dazu bei, dass man am Ende etwas Großes erreichen kann.

In der neuen Aufgaben- und Rollenverteilung ist der Posten des Geschäftsführers Sport an Lars Ricken gegangen. Wie groß ist Ihre Enttäuschung, welche Chancen und Risiken sehen Sie in der neuen Konstellation?

Die Entscheidung ist getroffen, ich habe mich inzwischen mehrfach dazu geäußert. Meine Aufgabe ist eine sehr spannende, und ich bin voller Tatendrang.

Sebastian Kehl steht neben Jürgen Koers und Dirk Krampe.
Die RN-Reporter Jürgen Koers (l.) und Dirk Krampe trafen BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl zum exklusiven Interview. © Groeger

Dann würden wir gerne noch kurz über Wembley sprechen. Nach dem Darmstadt-Spiel gibt es zwei Wochen Vorbereitung. Was wird da entscheidend sein?

Wir bereiten uns inhaltlich selbstverständlich sehr intensiv auf Real Madrid vor, das Trainerteam und die Analyseabteilung befinden sich längst mitten in diesem Prozess. Wir werden uns im Training speziell auf deren Stärken und Schwächen konzentrieren, aber auch weiter an unseren eigenen Stärken arbeiten, die wir entwickelt haben und die uns auszeichnen. Am Ende möchten wir im Vorfeld des Endspiels so viel wie möglich an Normalität beibehalten. Wir wollen im Rhythmus bleiben und werden sukzessive im Hintergrund alle organisatorischen Themen abarbeiten, alle Unruhefaktoren minimieren und uns ausschließlich auf Fußball konzentrieren. Das erwarte ich auch von den Jungs, denn so ein Champions-League-Finale gibt es in der Karriere eines Spielers normalerweise nicht so häufig. Und ich glaube daran, dass wir das packen können.

Was stimmt Sie optimistisch?

Real Madrid ist einer der schwerstmöglichen Gegner. Sie haben allein in den vergangenen zehn Jahren fünfmal den Henkelpott geholt. Aber es ist nur ein einziges Spiel, und wir werden uns mit allem wehren, was wir haben. Das gilt für das Team auf und um den Rasen, aber auch für alle Kolleginnen und Kollegen, die wir nach London einladen und natürlich auch für unsere Fans, die ihren herausragenden Support diese Saison wieder mehr als eindrucksvoll unter Beweis gestellt haben. Real ist der klare Favorit, aber London wird an diesem Wochenende schwarzgelb sein, und wir haben auf jeden Fall eine Chance!

Was bedeutet der Einzug in dieses große Finale für Borussia Dortmund als gesamten Verein?

Auf dem Weg dorthin haben wir schon eine Duftmarke hinterlassen als BVB, mit unseren schwarzgelben Farben. Jetzt im Finale zu stehen, bringt uns höchste sportliche Anerkennung. Es erhöht unsere Attraktivität im In- und Ausland, bei Fans, Spielern oder Partnern, und es bringt uns wirtschaftlich in eine bessere Lage. Da kommen viele Parameter zusammen. Wir möchten diesen letzten Schritt zum Titel auch noch gehen und wissen aber auch, dass dafür alles passen muss.

Haben Sie sich schon mit Pfosten und Latte in Wembley angefreundet?

Latte oder Pfosten dürfen gerne mal helfen in so einem Finale! (lacht)