Wer in den Tagen von Marbella Sebastian Kehl beobachtet hat, sah einen recht entspannten Dortmunder Sportdirektor – zumindest nach außen hin strahlte Kehl, nunmehr sechs Monate in der Verantwortung als Nachfolger des Langzeit-Managers Michael Zorc, gute Laune und Gelassenheit aus. Nur manchmal, wenn sein Knie ihn an die Folgen einer Operation vor Weihnachten erinnerte, verzog er kurz sein Gesicht. Kehl trägt noch eine Schiene, die OP war eine Spätfolge seiner aktiven Karriere und irgendwann unaufschiebbar.
BVB-Streitthema Moukoko
Wenn man möchte, kann man das wunderbar als sinnbildlich für den aktuellen Status in Borussia Dortmunds Personalplanungen beschreiben: Kehl humpelte noch über die Trainingsanlage „Dama de Noche“ – und auch seine Bemühungen, offene Personalfragen zu klären, laufen nicht gerade rund. Ob der Aufgabenfülle und Komplexität jeder einzelnen Personalie würde man dem neuen starken Mann in der „Direktion Sport“ so manchen Seufzer verzeihen. Die Zukunft Youssoufa Moukokos war seit Wochen ein Streitthema, weil es einfach nicht voranging und weil es längst nicht mehr nur darum ging, eines der größten Talente der vergangenen Jahre nicht ablösefrei zu verlieren.
Es ging auch darum, als Klub das Gesicht zu wahren, sich nicht von einem 18-Jährigen und seinem Berater auf dem Kopf herumtanzen zu lassen. Immerhin dieses Thema steht nun vor dem Abschluss, man hat sich angenähert. Und Kehl hat der Seite Moukoko unmissverständlich mitgeteilt, dass es weitere Verhandlungen nicht geben wird. Noch in dieser Woche wird Klarheit erwartet, Tendenz: Moukoko wird dem BVB erhalten bleiben.
Doch Moukoko ist beileibe nicht die einzige Baustelle, wegen der Kehls Telefon nicht stillsteht und auch im Kurzurlaub über Weihnachten ein Abschalten kaum möglich war. Sieben weitere Verträge laufen aus, darunter die absoluter Leistungsträger wie Kapitän Marco Reus und Abwehrchef Mats Hummels, die wegen ihres Alters allerdings einen Sonderfall darstellen. Mit beiden wird im Frühjahr gesprochen. Aber es gibt auch noch die „werthaltigen“ Spieler wie Mahmoud Dahoud (Marktwert 15 Mio. Euro) und Linksverteidiger Raphael Guerreiro (Marktwert 20 Mio.), die ab dem 30. Juni ablösefrei wechseln könnten. Im Sommer 2024 sind es dann gar ein Dutzend Spieler, deren Vertrag mit der Borussia endet. Auch darum muss Kehl sich parallel schon in den kommenden Wochen kümmern.
BVB-Umbruch trägt Kehls Handschrift
Der 42-Jährige ist die neue Aufgabe im Sommer 2022 mit großer Entschlossenheit angegangen. Schon die Transferoffensive mit zehn Neuzugängen und ebenso vielen Spielern, die die Borussia verlassen haben, trug maßgeblich seine Handschrift. Sie war der erste Schritt des von ihm initiierten großen Umbruchs, der dafür sorgen soll, dass Stück für Stück die zuletzt verloren gegangene eigene Identität wieder erkennbar wird.

Eine neue Leistungskultur wolle er etablieren, hat Kehl bei seinem Amtsantritt gesagt. Spieler sollen sich für den BVB zerreißen, ihr Herz auf dem Platz lassen. Speziell unter diesem Gesichtspunkt wurden die Neuverpflichtungen ausgewählt. Die Hinrunde hat allerdings gezeigt, was im Klub Konsens war: Der Prozess wird nicht von heute auf morgen abgeschlossen sein. Noch stockt der Motor, noch greifen auf dem Platz nicht alle Rädchen ineinander. Überraschend kam das nicht, dennoch nervt die sportliche Entwicklung vor allem im Tagesgeschäft Bundesliga.
Verkrustete BVB-Strukturen aufgebrochen
Dazu hat Kehl auch verkrustete Strukturen aufgebrochen: Im Umfeld der Mannschaft setzte er weitreichende Veränderungen um mit dem Ziel einer engeren Verzahnung der Abteilungen untereinander, mit einem regelmäßigeren Austausch und gestrafften Abläufen. Ein Teil der medizinischen Abteilung wurde umstrukturiert, in Shad Forsythe kam ein neuer Chef für die Athletik-Abteilung. Kehl war an allen Fronten gefordert – und ging die Probleme tatkräftig und umtriebig an.
Dass eine schwierige erste Saison in allein verantwortlicher Rolle auf ihn warten würde, war ihm im Juli bewusst. Eine Fülle am Saisonende auslaufender Verträge, finanzielle Beschränkungen durch die immer noch spürbaren Folgen zweier Corona-Jahre mit einem Verlust in dreistelliger Millionen-Höhe – keine vier Wochen offiziell im Amt, musste Kehl dann auch noch eine Antwort auf den Schock der Haller-Erkrankung finden. Er habe ja einen langen Onboarding-Prozess durchlaufen, hat Hans-Joachim Watzke mal über Kehl gesagt, drei Jahre an der Seite von Michael Zorc mit immer mehr Eigenverantwortung, „er ist also bestmöglich auf den Job vorbereitet.“ Was mit Sebastien Haller passierte, stand jedoch in keinem Manager-Lehrbuch und war nicht vorauszusehen.
Nerviger Moukoko-Poker
Schon mit Beginn der neuen Saison bekam Kehl aber auch zu spüren, dass nicht alle Anstrengungen automatisch zu sofort messbarem Erfolg führen. Die Verhandlungen mit Moukoko nervten ob der nur minimalen Fortschritte zunehmend. Dass Kehl beim letzten Treffen mit Moukoko-Berater Patrick Williams in Marbella eine Deadline für eine Entscheidung kommunizierte, war ein überfälliges Zeichen, auf das auch viele Fans lange gewartet haben, die der Personalie mittlerweile ziemlich überdrüssig sind.

Er spüre den Druck, sagt Kehl, aber er stelle sich der großen Aufgabe sehr gern. Schon als Spieler ging der 42-Jährige voran, „ich bin es gewohnt, Verantwortung zu übernehmen.“ Mit dem Abschied von Zorc ging eine gewaltige Machtfülle auf dessen Nachfolger über. Neben Kehls alter Position als Leiter der Lizenzspieler-Abteilung ist auch die ehemalige Stelle von Cheftrainer Edin Terzic als Technischer Direktor noch nicht wieder neu besetzt. „Das“, bekräftigte Kehl jetzt in einem Interview mit dem Kicker erneut, „ist ein Prozess, der gut überlegt sein will. Es geht nicht um eine schnelle Lösung, sondern um eine, die uns im täglichen Geschäft, aber auch in der Weiterentwicklung hilft.“
Die Zahl der losen Fäden, die Sebastian Kehl momentan in der Hand hält, ist immens. Kehl befindet sich auf einer schwierigen Mission, mit der Rückkehr aus Marbella und der Entscheidung in Sachen Moukoko soll aber eine Phase anbrechen, in der viele Lösungen gefunden werden sollen. Und bald soll auch die Schiene an seinem operierten Knie verschwinden.
BVB-Sportdirektor Kehl erwartet Moukoko-Entscheidung: „Angebot annehmen – oder wir trennen uns“
BVB-Spieler Mahmoud Dahoud im Exklusiv-Interview: „Habe es manchmal auch als unfair empfunden“
Der BVB darf optimistisch ins Jahr 2023 gehen: Er sollte aber häufiger wie Borussia Dortmund spielen