BVB-Innenverteidiger Niklas Süle musste Ende Mai gleich zwei sportliche Tiefschläge verkraften. Zunächst verspielte der 27-Jährige mit Borussia Dortmund am letzten Bundesliga-Spieltag die sicher geglaubte Meisterschaft, dann strich Bundestrainer Hansi Flick ihn aus dem DFB-Kader und kritisierte den Ex-Bayern-Spieler öffentlich. Im exklusiven Interview mit den Ruhr-Nachrichten-Reportern Jürgen Koers und Kevin Pinnow äußert sich Süle nun erstmals zu diesen Themen – und bezieht klar Stellung.
Wie haben Sie den Jetlag überstanden? Sind Sie wach und fit?
Mir geht‘s gut, vielen Dank! Ich kann nicht im Flugzeug schlafen. Daher war ich die ganze Zeit wach, das war krass bei zwölf Stunden. Aber dann bin ich abends ins Bett gefallen und habe lange geschlafen. Mir geht’s gut!
Als junger Familienvater kennt man sich mit wenig Schlaf ja auch aus …
Das stimmt. Da habe ich mich dran gewöhnt, in der Nacht mal wach zu werden. Wobei: Mein Sohn ist ein guter Schläfer. Zum Glück.
Auf seinem Spielhaus im Garten ist eine BVB-Fahne gehisst. Ist Familie Süle schon nach einem Jahr komplett schwarzgelb eingefärbt?
(lacht) Die Fahne hat tatsächlich mein Vater aufgehängt. Ich hätte, aus optischen Gründen, da jetzt nicht unbedingt eine drangehängt. Aber mein Sohn freut sich drüber und sagt immer, sobald er sie oder sonst was mit Logo sieht, „Heja BVB“.

Wie haben Sie sich eingelebt in Ihrem ersten Jahr in Dortmund. Fühlen Sie sich schon heimisch?
Es gab ein paar Startschwierigkeiten mit der Wohnungssuche, ich musste zunächst zweieinhalb Monate im Hotel leben. Aber mittlerweile haben wir ein schönes Zuhause gefunden und ich fühle mich sehr wohl. Ich finde die Menschen hier wirklich klasse. Sie sind sehr ehrlich und direkt. Das mag ich sehr.
Sie haben den Schritt also noch nicht bereut?
Auf gar keinen Fall, weder sportlich noch privat. Ich fühle mich sehr, sehr wohl innerhalb des Vereins. Die Mannschaft ist top. Ich habe den Schritt zu keiner Sekunde bereut.
Wer sich so wohl fühlt, ist auch in der Lage und bereit, Verantwortung zu übernehmen für den Verein, an dem er hängt.
Das habe ich auch in meinem ersten Jahr versucht, auch bei meinen vorherigen Stationen. Ich habe Erfahrungen in diesem Geschäft gesammelt, schließlich gehe ich jetzt in meine elfte Profisaison. Dass ich mich dadurch angesprochen fühlen muss, wenn es um Verantwortung geht, ist normal. Für mich stellt das kein Problem dar, weil ich das sowieso mache. Ich versuche direkt anzusprechen, was mir auffällt. Ansonsten bin ich ein ruhiger, lockerer Typ.
Ist die Erwartungshaltung an einen Führungsspieler nicht automatisch, dass er auch lauter werden kann?
Es geht nicht um Lautstärke oder Alibi-Brüllen. Nur laut sein macht keinen Führungsspieler aus. Es geht um einen guten Kontakt zu den Mitspielern, um offene und ehrliche Gespräche. Es geht um Wahrnehmung. Man muss sehr genau spüren, wie die Stimmung in und um die Mannschaft ist. Das erwarte ich von einem Führungsspieler. Und deswegen versuche ich das in meiner Form bestmöglich umzusetzen.

Von einem dritten Kapitän, der Sie jetzt sind, werden auch Führung und Verantwortung erwartet.
Ich war bislang nie Kapitän einer Mannschaft. Es wird auch nichts an meiner Persönlichkeit ändern. Ob mit oder ohne Binde, ob als erster, zweiter oder dritter Kapitän – ich bin mir meiner Verantwortung für die Mannschaft bewusst.
Sie sollen nach dem Saisonfinale der Erste in der Kabine gewesen sein, der zur Mannschaft gesprochen hat. Was haben Sie ihr gesagt?
Das geht außer uns niemanden etwas an. Ich muss das jetzt auch nicht im Nachhinein verraten, weil es womöglich gut klingt. Das mache ich nicht. Wissen Sie: der ganze Tag war unfassbar emotional. Das habe ich in so einer Form noch nie erlebt. In der Stadt herrschte so eine unbeschreibliche Euphorie. Als wir am Stadion ankamen, standen da gefühlt 200.000 Menschen. Eine ganze Region wollte unbedingt Deutscher Meister werden. Ich kann Ihnen gar nicht in Worten beschreiben, wie sehr ich das auch wollte.
Und dann kam der K.o. ...
Diese verpasste Chance tat sehr lange richtig weh. Da haben wir echt etwas liegen lassen. Aber, und ich will da nichts schönreden, was man bei aller Enttäuschung nicht vergessen sollte: Wir waren in der Winterpause nur Sechster und haben eine klasse Rückserie gespielt. Wir gehörten 2023 zu den besten Mannschaften in Europas Top-Fünf-Ligen!
Wie haben Sie persönlich dieses Drama verkraftet?
Ich war erstmal ein paar Tage nur zu Hause bei meiner Familie. Ich hatte schon den einen oder anderen Rückschlag in meiner Karriere, ich habe schon Endspiele verloren und andere enttäuschende Dinge erlebt. Deswegen glaube ich, dass ich damit ganz gut umgegangen bin. Es hat aber gedauert. Ich habe immer wieder daran gedacht, wie geil es gewesen wäre oder wo ich wäre, wenn wir das Ding geholt hätten.
Sie hatten ja mit dem Bierkönig konkrete Pläne …
(lacht) Wir hätten schon ausreichend gefeiert. Es ist ja oft so: Du gewinnst etwas und darfst nicht richtig stolz sein. Weil es dann schnell heißt: Der ist jetzt satt. Ich muss sagen, man genießt solche Momente zu wenig. Und unser Fall war das komplette Gegenbeispiel. Ich muss nicht direkt am nächsten Tag nach so einem Rückschlag an die nächste Saison denken und herausposaunen, dass wir Deutscher Meister werden wollen. Ich habe ein paar Wochen gebraucht. Und abgestreift habe ich es auch jetzt noch nicht. Aber du hast im Fußball relativ früh die Chance, es wieder besser zu machen. Dafür sind wir jetzt hier. Wir arbeiten hart und wollen einen neuen Versuch starten.

Wenn Sie sich so viele Gedanken gemacht haben: Haben Sie irgendeinen Erklärungsansatz, was da am 34. Spieltag passiert ist? Warum die Mannschaft die Leistung nicht abrufen konnte, die sie in der Rückrunde ja konstant gezeigt hat?
Es wurde viel darüber gesprochen, wie wir die Spiele in Stuttgart oder gegen Bremen herschenken konnten. Man darf aber auch nicht vergessen: Wir hatten auch einige Spiele, in denen wir Glück hatten. In Frankfurt, wo wir an die Wand gespielt wurden und trotzdem drei Punkte geholt haben. Das gleicht sich in der Saison aus. Und trotzdem hatten wir mit diesen zehn Siegen in zehn Spielen unglaublich viel Boden gut gemacht. Auf einmal wussten wir: Wir können das schaffen! Wenn du dann aber in dieser besonderen Situation bist, die für den einen oder anderen Spieler auch neu ist, in der noch extreme Emotionen dazukommen, weil es ein einzigartig geiles Gefühl im und am Stadion war, haben vielleicht auch die Nerven geflattert. Wir hatten Möglichkeiten, das Spiel zu gewinnen. Aber wenn du nur Zweiter wirst, hast du es am Ende einfach nicht verdient. So ehrlich müssen wir sein. Dann muss man gucken, welche Hebel wir bewegen müssen, dass wir es uns noch mehr verdienen.
Welche Hebel könnten Sie in Bewegung setzen?
Ich habe abgesehen von wenigen Phasen ein gutes erstes Jahr beim BVB erleben dürfen. Ich habe meinen Teil dazu beigetragen, gerade in der Rückrunde, dass wir uns in diese Position zurückgebracht haben. Ich wollte hier gleich eine Schlüsselrolle einnehmen. Trotzdem kann ich nicht behaupten, dass ich immer an meinem absoluten Leistungslimit gespielt hätte. Du kannst nicht 34 Spieltage top sein. Gerade als Innenverteidiger ist es wichtig, dass du ganz wenig schlechte Spiele hast. Diesbezüglich war ich zufrieden. Ich hatte drei, vier Spiele, wo ich sage, die waren nicht gut. Aber ansonsten war meine Saison sehr solide. Da möchte ich anknüpfen und für die Mannschaft noch wertvoller werden.
Das trifft unsere Einschätzung. Nicht viele Ausreißer nach oben, aber auch ganz wenige nach unten. Solide bis gut, würden wir sogar sagen. Und dann kam im Juni die Kritik des Bundestrainers, der sagt, der Süle ruft höchstens 90 Prozent seines Levels ab. Hat Sie das überrascht – und getroffen?
Ich war sehr zufrieden mit meiner Saison. Ich hätte es nach meinen Leistungen verdient gehabt, zur Nationalmannschaft eingeladen zu werden. Und dann drei, vier Tage nach dem Mainz-Spiel informiert zu werden, dass ich nicht dabei bin und diese Kritik zu lesen, das war ein Brett. Ich hatte ein langes Telefonat mit Hansi Flick, den ich lange kenne. Ich sehe mich als Nationalspieler. Ich sehe mich in dieser Mannschaft und hätte es mir meiner Meinung nach per Leistung verdient. Wenn der Bundestrainer anders entscheidet, muss ich mich damit abfinden. Es war, wie gesagt, nicht der erste Tiefschlag in meiner Karriere. Und auch dieses Mal werde ich vernünftig damit umgehen, es für mich gut und richtig einordnen können und weiter meinen Weg gehen.
Hören wir da den Anreiz heraus, dass Sie es sich und allen anderen nochmal beweisen wollen?
Ich tue nichts für jemand anderen. Sie werden nie von mir Dinge hören oder sehen, die ich berechnend sage oder mache, weil es bei anderen gut ankommen könnte. Ich habe an mich sehr hohe Ansprüche, denen ich gerecht werden möchte. Ich habe schon bewiesen in meiner Karriere, dass ich Titel gewinnen und meinen Mannschaften helfen kann. Ich bin sehr froh und auch stolz darauf, und das ist eigentlich die wichtigste Erkenntnis in meiner bisherigen Karriere, dass ich weitgehend immer so geblieben bin, wie ich war. Meine Haltung werde ich für niemanden ändern. Also auch nicht dafür, ob ich dann Nationalspieler bin oder eben nicht.
Der Vorwurf fehlender Fitness steht im Raum.
Ich habe jedes Spiel gemacht in der heißen Phase der Saison, alle drei Tage. Wenn du das machst, dann bist du fit. Dieser Fitness-Vorwurf haftet an mir. Ich gehe ja offen mit dem Thema um wenn ich sage, ich gehe gerne auch mal zu McDonald’s. Aber ich bin meiner Meinung nach ein guter Profi. Ich habe dafür viel investiert und viel erreicht. Ich weiß, was mir als Spieler und als Mensch guttut. Genauso werde ich in die nächste Saison gehen und wie immer versuchen, das Beste für die Mannschaft zu geben.
Fazit: Niklas Süle bleibt sich selbst treu und so, wie er eben ist.
Das klingt verdächtig nach der bekannten Schlagzeile. Für mich ist die wichtigste Aussage: Ich mache das für mich, nicht für jemand anderen. Mein Arbeitgeber und meine Mitspieler haben das gute Recht zu fordern, dass ich auf dem Platz gute Leistungen bringe. Das ist mir in den vergangenen Jahren immer gelungen. Deswegen muss ich mich nicht in eine Richtung zwängen oder tagelang als Fettsack bezeichnen lassen. Ich bin auch noch nicht fertig mit meiner Karriere. Ich will noch ein paar Titel gewinnen und hoffe weiter auf eine Nominierung durch den DFB.
Berührt Sie diese teils undifferenzierte Debatte noch? Beim Trainingsstart wird gleich geschaut, ob ihr T-Shirt stramm sitzt …
Ich rege mich nicht mehr darüber auf. Wenn auf Schalke beim Aufwärmen zehn Besoffene rufen, ich sei ein Fettsack, dann muss ich darüber eher lachen. Dieses Thema wird mich wohl immer weiter begleiten. Ich habe übrigens vergangene Saison den Top-Speed meiner Karriere erreicht (34,59 km/h, Anm. d. Red.). Aber es wirkt halt anders bei mir.
Dass es zum Dauerthema geworden ist, mag auch am offenen Umgang Ihrerseits damit liegen. Das würden nicht alle Profis so tun.
Ich bin bestimmt auch kein typischer Fußballer. Ich habe meinen Weg gefunden. Ich weiß, was ich tun muss, um mich in eine sehr gute Verfassung zu bringen. Gerade deswegen bin ich auch stolz darauf, dass ich bei meiner Linie geblieben bin. Das ist in der heutigen Zeit gar nicht so einfach.
Es braucht Mut, um sich nicht zu verbiegen. Mut haben Sie bewiesen, als Sie als Neuzugang den Meistertitel als Ziel ausgegeben haben.
Ich bin doch nicht von Bayern München zum BVB gewechselt, um Zweiter zu werden! Ich habe auch noch an die Meisterschaft geglaubt, als wir im Winter Sechster waren. Ich habe so eine Aufholjagd selbst erlebt, als wir 2019 mit den Bayern neun Zähler hinten dran waren. Das ist eine Einstellungssache. Ich will immer gewinnen. Mentalität bedeutet für mich nicht, immer am meisten zu trainieren, die meiste Zeit im Kraftraum zu verbringen oder am lautesten zu brüllen. Da hat jeder unterschiedliche Stärken und Schwächen, andere Präferenzen. Ich will den größtmöglichen Erfolg. Und dieses Jahr wieder versuchen, Deutscher Meister zu werden.
Sie waren nahe dran. Der BVB hat vor einem Jahr einen Umbruch gestartet, der weiter vorangetrieben wird. Mit Marcel Sabitzer haben Sie noch in München zusammengespielt. Wie lautet Ihre Einschätzung?
Ich habe bis jetzt einen guten Eindruck. Wir haben zwei sehr gute Spieler verloren, Jude Bellingham und Raphael Guerreiro. Wir haben aber auch viel Qualität dazubekommen und sowieso schon einen starken Kader. Ich bin sehr, sehr zuversichtlich, dass wir eine sehr gute Saison spielen können. Hoffnung macht mir auch, dass wir eine richtig gute Einheit sind. Das Mannschaftsgefüge passt bei uns sehr, sehr gut. Wir haben viel Spaß!

Wie haben Sie die Diskussion um die Verpflichtung von Felix Nmecha wahrgenommen? Wie erleben Sie ihn?
Ich habe wenig damit zu tun, weil ich auch in den sozialen Medien nichts mehr mache.
Wie meinen Sie das?
Der Fokus liegt oft auf den falschen Punkten. Es wird zu viel über das Negative geredet. Beispiel WM in Katar. Ja, lass uns Probleme benennen. Lass uns mit offenen Augen und klarem Verstand durchs Leben gehen. Lass uns erkennen, wenn wir etwas verbessern können. Aber bei der WM gab es gar kein anderes Thema mehr als die Debatte um die Regenbogenbinde: Wir spielen eine Weltmeisterschaft, was ein Kindheitstraum gewesen ist. Ich bin auch ziemlich sicher, dass aus meiner klaren Aussage hier wieder etwas Negatives gemacht wird. Dabei sage ich nur ehrlich und unaufgeregt meine Meinung und beantworte die mir gestellten Fragen.
Erklärt das auch Ihren Verzicht auf Instagram und Co.?
Ja. Ich finde das erschreckend, diese Kultur, das Private in die Öffentlichkeit zu ziehen und so viel Negativität zu verbreiten, wie es im Internet oft geschieht. Ich möchte gerne mit Fußballfragen konfrontiert werden und über meinen Beruf sprechen, weil der nun mal in der Öffentlichkeit stattfindet. Von mir aus auch über mein Gewicht, weil das halt in den Job mit hineinspielt. Aber ich ziehe klare Grenzen, spätestens im Privaten und bei meiner Familie. Vielleicht ticke ich da anders. Aber auch da werde ich mir treu bleiben, egal, was andere denken oder sagen.