Früher stand Daniel Lörcher, Jahrgang 1985, als BVB-Fan auf der Südtribüne. 2011 organisierte er die erste Bildungsreise in die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. 2013 wurde er Fanbeauftragter, später Leiter der Abteilung Fanangelegenheiten und Leiter der Corporate Responsibility. Er prägte die Antidiskriminierungsarbeit im Fußball weit über den BVB hinaus. Borussia Dortmund erhielt mehrere Auszeichnungen unter anderem für sein Israel-Engagement. Im Interview mit RN-Redakteur Jürgen Koers spricht Lörcher über die Auseinandersetzung im Nahen Osten, das Israel-Engagement der Schwarzgelben und ein Gespräch mit Ramy Bensebaini.
Borussia Dortmund pflegt seit Jahrzehnten eine intensive Partnerschaft zu Israel. Was löst das Aufflammen des Konflikts im Nahen Osten aus?
Die ersten Nachrichten vom Terrorangriff der Hamas haben auch hier einen Schockzustand ausgelöst. Wir haben erst einmal Informationen gesammelt, getragen von der Sorge um unsere Freunde in Israel und deren Angehörige. Es gibt vor Ort kaum jemanden, der nicht direkt betroffen war und ist, der Krieg ist allgegenwärtig. Fast jeder kennt einen der Ermordeten, manche vermissen Angehörige und nach wie vor werden in Gaza Geiseln festgehalten. Das Schicksal dieser Geiseln bewegt mich sehr und bedarf einer besonderen Aufmerksamkeit.
Was bedeutet das hier in Dortmund, aus einer gewissen Entfernung, aber auch mit einer gefühlten Nähe?
Das läuft auf zwei Ebenen. Wir haben unmittelbar nach dem Angriff unsere Solidarität mit Israel bekundet auf den verschiedenen Kommunikationskanälen des BVB. Das ist unsere unumstößliche Position, die wir auch bewusst nach außen tragen. Außerdem sind wir auf unsere Partner zugegangen, nicht nur in Israel, sondern auch hier in der jüdischen Gemeinde. Die Eskalation hat auch eine riesige Auswirkung auf die Jüdinnen und Juden in Dortmund und Deutschland. Sie werden bedroht, und der Krieg versetzt alle in Sorge.

Wie kann ein Fußballverein mit einer so großen Strahlkraft und Reichweite die Menschen unterstützen?
Aus meiner Perspektive hat der Fußball eine verbindende Kraft, darin liegt auch die Stärke dieses langjährigen Engagements. Zu unserem Fanclub in Israel, als ein Beispiel, gehören Juden, Muslime, Christen, Beduinen. Sie eint die Sympathie für den BVB. Eine andere Säule ist die Bildungsarbeit, die wir betreiben. Wir bringen Menschen miteinander ins Gespräch, die sich ausgehend von der nationalsozialistischen Geschichte Deutschlands und dem Holocaust mit verfolgten Gruppen, mit Diskriminierung, mit Rassismus und Antisemitismus auseinandersetzen.
Der BVB hat schnell nach der ersten Terrorwelle eine Stellungnahme veröffentlicht, in der vergangenen Woche zur Teilnahme an einer Kundgebung in Dortmund aufgerufen. Wie funktioniert die konkrete Unterstützung für die Menschen?
Wir unterstützen eine Spendenkampagne unseres israelischen BVB-Fanclubs, der unter anderem für die betroffenen Familien aus den Kibbuzim Geld sammelt. Und wir sind hier in Dortmund im engen Austausch mit der jüdischen Gemeinde.

Klubchef Hans-Joachim Watzke hat den Kampf gegen Antisemitismus zu einer Kernaufgabe von Borussia Dortmund erklärt. Wie können Sie die Öffentlichkeit des Profifußballs nutzen?
Was in Israel passiert, mit den Raketen der Hamas und der Verteidigung durch die israelische Armee, hat direkte Auswirkungen auf Jüdinnen und Juden in Deutschland. Oftmals richtet sich der Hass gegen Jüdinnen und Juden weltweit, die in keinerlei Verantwortung für die Politik des israelischen Staates stehen. Wenn wir Antisemitismus bekämpfen wollen, können wir es nicht dulden, dass heute Jüdinnen und Juden in Deutschland Angst haben müssen. Da müssen wir den Mund aufmachen und Stellung beziehen. Das tut Borussia Dortmund. Wir möchten eine Plattform bieten, die Menschen verbindet.
Wir sprechen auch miteinander, weil BVB-Profi Ramy Bensebaini am vergangenen Donnerstag vor dem Spiel seiner Nationalmannschaft einen Schal getragen hat, auf dem die Flaggen Algeriens und Palästinas zu sehen sind. Wie haben Sie das aufgefasst, wie reagieren Sie darauf?
Wir haben direkt mit dem Spieler Kontakt aufgenommen und nach seiner Rückkehr ausführlich mit ihm gesprochen. Seine Aktion ist vor dem Hintergrund seiner Sozialisierung in Algerien zu betrachten. Sein Heimatland pflegt eine enge Verbindung zu den palästinensischen Gebieten. Die Nationalmannschaft hat mit den Schals zum Ausdruck gebracht, dass sie die Opfer in der Zivilbevölkerung in Gaza beklagt, zu denen viele Kinder zählen. Ramy hat uns gegenüber im persönlichen Gespräch versichert, dass er sich ausschließlich mit der palästinensischen Zivilbevölkerung solidarisiert. Und auch diese leidet nun unter den Folgen des Angriffs der Hamas auf Israel. Auch in Gaza sterben viele unschuldige Menschen.
Im ersten Moment könnte man die Aktion, das Foto mit der Palästina-Fahne um seinen Hals aktiv mit seinen 3,2 Millionen Followern auf Instagram zu teilen, auch als Affront gegenüber Borussia Dortmund verstehen, wo sich der Klub so klar auf Seiten Israels positioniert. Wie lief das Gespräch?
Wir haben ihm die Haltung und die Position des BVB geschildert, er hat seine Sicht geäußert. Dann sind wir zu dem Schluss gekommen, dass die Aktion für uns in Verbindung mit seinen Aussagen unproblematisch ist. Wir halten uns an die Arbeitsdefinition zu Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die wir vor zwei Jahren übernommen haben. Dort wird beschrieben, welche Äußerungen problematisch sind, und sein Post war das im Gegensatz zu anderen, die gerade diskutiert werden, sicher nicht.

Der Kampf gegen den Antisemitismus ist im Grundwerte-Kodex des BVB verankert. Ist das Bensebaini bewusst gewesen?
Das ist ihm bewusst gewesen. Er hat einen sehr klaren Blick auf die Lage. Der Spieler hat keine Grenze überschritten und etwa Israel das Existenzrecht abgesprochen. Nur weil jemand Muslim ist, muss er sich auch nicht von Terror distanzieren, zu dem er sich nie bekannt hat.
Es gab in der Bundesliga andere Fälle.
Genau darin liegt die Komplexität in diesem Konflikt. Eine Solidarisierung mit Palästina ist etwas anderes als der Aufruf zu Hass und Gewalt gegenüber Israel oder Antisemitismus. Wir dürfen nicht den legitimen Hinweis, dass auch die Zivilbevölkerung in den palästinensischen Gebieten leiden muss, mit einer Unterstützung für den Terror der Hamas gleichsetzen. Das wäre grundfalsch und gefährlich. Es gibt das klare Recht zur freien Meinungsäußerung und zugleich klare Grenzen für das, was sagbar ist. Das ist die Grundlage für eine funktionierende Gesellschaft.
Sie haben die verschiedenen Fälle in Deutschland angesprochen, bei Spielern von Schalke, Union Berlin, Bayern München oder Mainz 05. Die Reaktionen variierte von Ignoranz bis hin zur Suspendierung. Wie ordnen Sie das ein?
Man muss jeden Fall für sich betrachten. Viele Klubs in der Bundesliga und in Europa haben die angesprochene Arbeitsdefinition Antisemitismus übernommen. Anhand der Leitlinien und des Kontextes kann man die Aussagen sachlich einordnen und bewerten. Wir müssen aufpassen, dass die Debatte nicht vergiftet wird. Wenn Meinungsäußerungen oder Nachrichten vorschnell nur danach gefiltert werden, ob sie zur eigenen Position passen und dann damit polarisiert wird, haben wir ein Problem mit Blick auf humanitäre Werte und das Leid der Menschen. Denn Opfer lassen sich nicht gegeneinander aufwiegen.

Eine Mannschaft aus Profifußballern ist multikulturell und plural geprägt. Was für eine Herausforderung ist es, diese bunt gemischte Gruppe mit den etablierten Werten eines 114 Jahre alten Vereins unter einen Hut zu bringen?
Ich sehe darin vor allem eine Chance. Es braucht die Debatte und unterschiedliche Meinungen und Sichtweisen, solange die Roten Linien von Rassismus und Antisemitismus nicht überschritten werden. Die Verurteilung von Terror ist selbstverständlich ein Punkt, auf den sich alle einigen können müssen.
Es wird eine Schweigeminute vor dem Bundesliga-Spiel am Freitag gegen Werder Bremen geben.
Das ist eine Empfehlung der deutschen Fußball Liga, die wir gerne aufgreifen und vor unserem eigenen BVB-Hintergrund inhaltlich anpassen. Es ist wichtig, dass wir in der Bundesliga am Wochenende mit den Opfern und den Betroffenen Solidarität zeigen.