BVB-Cheftrainer Nuri Sahin seit 100 Tagen im Amt Zwischen Kindheitstraum und Prügelknabe

Cheftrainer Nuri Sahin beim BVB: Ein ganzes Leben und 100 Tage
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Aufregender hätten die Tage nicht sein können. Nuri Sahin war soeben von Borussia Dortmund zu Real Madrid gewechselt, zum größten Klub der Welt. Neben dem Schwarz und Gelb des BVB liebte der junge Mittelfeldspieler nichts mehr als das strahlende Weiß der Königlichen. Ein Kindheitstraum ging in Erfüllung, sogar zweifach, weil seine Frau Tugba Nachwuchs erwartete. Für das erste Trainingslager reiste der Tross von Real im Juli 2011 nach Los Angeles, kombinierte Saisonvorbereitung und Werbetour. Und im ersten Training … verletzte sich Sahin am Knie. Es dauerte Monate, bis er wieder richtig fit war. So gut, wie er vorher beim BVB unter Jürgen Klopp gespielt hatte, wurde er nie wieder.

BVB-Trainer Nuri Sahin kennt alle Seiten des Fußballgeschäfts

Nuri Sahin kennt die ganze Palette der Emotionen, die das für ihn schönste Spiel der Welt bereithält. Er hat das alles selbst erlebt. Seit er als Siebenjähriger von Borussia Dortmund angesprochen und zum Training eingeladen wurde. Seit er als Zwölfjähriger von Lüdenscheid nach Dortmund zog. Seit er als 16-Jähriger als jüngster Debütant in der Bundesliga spielte. Meisterspieler und Dauerpatient. Wunderkind und Auslaufmodell. In aller Munde und aus den Augen verloren.

Seit dem 1. Juli, seit nun 100 Tagen, ist er Cheftrainer seines Herzensklubs. Nach Spieler, Balljunge und Co-Trainer ist es die vierte Funktion, die er übernimmt. Die kurze Zeitspanne hat noch nicht die maximalen Ausschläge an Höhen und Tiefen hervorgeholt. Doch spätestens in der vergangenen Woche ist der 36-Jährige angekommen in der knallharten Realität auf seinem Posten: 7:1-Gala gegen Glasgow, 1:2-Pleite in Berlin. Borussia Dortmund im Schnelldurchlauf.

Sahin liebt die Begeisterung, die dieser Verein entfachen kann, nachdem er in den 90er-Jahren die großen Titelgewinne mit bestaunte. Doch Triumphe sollen längst Normalität sein im schwarzgelben Kosmos, Trophäen sollen her, sagt das Volk. Sahin hat mit den Erfolgen vor mehr als zehn Jahren selbst dazu beigetragen, dass die Erwartungshaltung sich bei den Westfalen mindestens am oberen Limit bewegt, oft ein Stück darüber hinaus, aber niemals darunter. Er hat bei seiner Rückkehr einen veränderten Blick auf die Borussia wahrgenommen und mahnt: „Wir müssen lernen, Siege wieder zu genießen. Es ist wichtig, sich darüber zu freuen“, sagte er. Anspruch mit Anstand.

BVB-Hoffnungen ruhen auf Sahin

Wer ihn kenne, der wisse, dass er sehr hungrig sei, meinte Sahin kürzlich, „wir wollen in Dortmund immer um Titel mitspielen“. Doch das ist leichter gesagt als getan. Fakt ist, dass seit der Klopp-Ära „nur“ zwei DFB-Pokalsiege gelungen sind. Acht Cheftrainer haben ihr Glück versucht. Viele ihrer (teils gegenteiligen) Ansätze, Ideen und Träume sind verglüht in den Schmelzöfen des Ruhrpottklubs. Jetzt ruhen die Hoffnungen auf Sahin. Das ist ein zweifach bemerkenswerter Vorgang.

Nuri Sahin hält die Meisterschale in der Hand.
Sahin mit Schale: 2011 wurde der BVB mit ihm und dank ihm Deutscher Meister. © imago sportfotodienst

Bereits als er als Co-Trainer im Winter zurückkehrte, munkelten mehrere Spieler, dass es doch nur eine Frage der Zeit sei, bis er den umstrittenen Edin Terzic ablöse. Und als Terzic im Juni von innerer und äußerer Kritik entnervt tatsächlich das Handtuch warf, gab es keinen längeren Abwägungsprozess. „Nuri übernimmt“, hieß es sofort. Kein international renommierter Toptrainer. Sondern ein Eigengewächs mit der überschaubaren Erfahrung von ein paar Spielen in der ersten türkischen Liga. Eine typische BVB-Entscheidung, die so wohl nur im Sport möglich ist. Oder kann sich jemand vorstellen, dass ein Konzern der Unterhaltungsbranche mit mehr als 600 Millionen Euro Umsatz seine wichtigste Abteilung einem in dieser Position unerfahrenen Newcomer anvertraut?

BVB-Trainer Sahin zwischen Entwicklung und Ergebnissen

Eben noch stand Borussia Dortmund im Champions-League-Finale, viel mehr geht ja nicht, und trotzdem sollte alles besser werden. Der Fußball. Die Stimmung. Das Miteinander. Sahin brachte sofort frischen Wind dank seiner positiven, zugewandten Ausstrahlung und seines ehrlichen Umgangs. Voller Energie, mit Elan und Ehrgeiz konnte er es kaum abwarten, endlich loszulegen. Zum Trainer, der früher bei Real Madrid gespielt hat, schauen alle auf. Er bietet und erbittet Respekt, er bietet und erbittet Offenheit. Seine natürliche Autorität unterfütterte Sahin mit Fachwissen. Bereits in der vorherigen Rückrunde profitierte die Mannschaft von seinem Input. Er sei ein „Fußball-Nerd“ hat er über sich selbst gesagt, er hat unzählige Spiele gesehen, seziert und analysiert, „ich habe mir sogar jede PK von Pep oder Jürgen (Guardiola und Klopp, Anm. d. Red.) angeschaut“.

Bei den Besten wollte er sich das Beste abschauen, genauso bei den innovativen Trainern wie Ruben Amorim (Sporting Lissabon), dazu die eigene Vorstellung vom Fußball mit großer Dominanz und elektrisierender Offensive einbringen. All das lässt sich nicht in wenigen Tagen, Wochen oder gar Monaten realisieren. Das weiß auch Sahin. Sein Wissen über dieses Spiel und seine Vermittlungskompetenz sind exorbitant. Dennoch benötigt er alle drei Tage Ergebnisse, um in Ruhe arbeiten zu können.

BVB-Prozess in vollem Gange

„Wenn etwas zusammenwachsen soll, braucht man einfach Zeit“, erklärt er, wohlwissend, dass Geduld in diesem Geschäft wenig verbreitet ist. „Ich sage ja nicht „trust the process“ nur weil es sich gut anhört.“ Jeder Tag, den er mit seiner Mannschaft und seinem Trainerteam – bei denen nahezu alle seine Wünsche bedient wurden - verbringt, sei wichtig, wertvoll, gewinnbringend. Bei seinen öffentlichen Auftritten spricht Sahin klar und ohne Umschweife, er zeigt sich selbstkritisch nach dem Stuttgart-Spiel (1:5) und gelassen nach dem Kantersieg gegen Celtic. Er gestaltet seine neue Rolle, diesen Traumposten als Cheftrainer vom BVB, und erlebt die Mühen des Alltags, die genauso dazugehören.

Nuri Sahin feiert mit seinen Co-Trainern Lukasz Piszczek (M.) und Joao Tralhao (r.).
Siege genießen: Nuri Sahin feiert mit seinen Co-Trainern Lukasz Piszczek (M.) und Joao Tralhao (r.). © IMAGO/osnapix

Profifußball ist ein manchmal erbarmungsloses Business mit zwei Dutzend Ich-AGs auf dem Rasen, einem Geschwader an Einflüsterern dahinter und einem halben Dutzend Ich-AGs in den eigenen Büros. Rückendeckung gibt es mal mehr, im Zweifel mal weniger. Lucien Favre oder Marco Rose waren einst verzweifelt an den Dortmunder Verhältnissen. Hier hat man es zugelassen, dass die Spieler einen nicht unerfolgreichen Trainer wie Terzic vergraulen konnten, anstatt die Profis ernsthaft in die Pflicht zu nehmen. Es gibt kaum spannendere Jobs als Trainer. Und kaum schwerere.

BVB-Trainer Sahin braucht Erfolg und Vertrauen

Sahin kennt alle diese Eigenheiten. Er muss die Ungerechtigkeiten ertragen, wenn die Mannschaft schwach spielt und der Trainer sich böse Fragen gefallen lassen muss, er sogar selbst in Frage gestellt wird, wenn Fans in den sozialen Netzwerken Stimmung machen, weil sie keine Spielidee erkannt haben wollen. Bei Misserfolgen richtet sich der Blick unmittelbar auf den Coach, dann wird er auch mal unverschuldet zum Prügelknaben. Bei Erfolgen haben die Spieler wiederum alles richtig gemacht. Das ist oft eine verquere Wahrnehmung der Tatsachen. Sahin deutet an, dass er diese Konflikte aushalten kann.

Intern muss er sogar mal provozieren, um für Reibung und Aufmerksamkeit zu sorgen. Marcel Sabitzer oder Niklas Süle werden nach den ersten Wochen kein Loblied auf den Trainer singen. Es gilt viele Interessen auszugleichen. Die Liste der geforderten Fähigkeiten eines modernen Cheftrainers findet kaum ein Ende. Deswegen hat der BVB über Jahre Mitarbeiter hinzugeholt, die man für fachlich top in ihren Bereichen hält. Sahin hat den Stab noch erweitert. Ein perfektes Spiel gibt es nicht. Aber er will alles dafür tun, dass die Grundvoraussetzungen dafür gegeben sind.

Zum Thema

Die wichtigsten Gesprächspartner: Wem hört Nuri Sahin zu?

  • „Ich arbeite sehr eng mit Sebastian Kehl zusammen, weil wir uns täglich über den Weg laufen“, sagt Nuri Sahin. Der Sportdirektor sei sein wichtigster Ansprechpartner. „Wir reden viel, tauschen uns aus, kennen uns seit Jahren.“ Auch mit Lars Ricken stehe er häufig in Kontakt. Bei Bedarf, wenn es um Themen wie Transfers oder Kaderplanung gehe, auch mit Sven Mislintat.

  • Auch beim externen Berater hört Sahin viel zu. „Mit Matthias Sammer hat sich in den Monaten, seit ich hier bin, ein guter Austausch entwickelt, eine Art ,Freundschaft‘.“ Sammer sei jemand, mit dem er über Fußball und „Gott und die Welt“ reden könne.

  • „Es wäre fatal von mir, wenn ich auf die Expertise von all diesen Menschen nicht zurückgreifen würde. Davon kann ich nur profitieren, ohne mich selbst zu verlieren. Ich habe eine hohe Meinung von meiner Idee von Fußball.“

„Das Wichtigste“, sagte der neue Sport-Geschäftsführer Lars Ricken zur Klub-Strategie, „das Wichtigste ist Kontinuität, da haben wir zuletzt auf dem Trainerposten zu viele Wechsel gehabt.“ Beide Teilaspekte sind korrekt, es gab zu wenig Kontinuität und zu viele Wechsel. Deswegen braucht Borussia Dortmund mit Nuri Sahin unbedingt Erfolg. Und Vertrauen in den Prozess.