Es riecht nach Holz - und irgendwie nach Stroh. An den Wänden der alten Ziegelei in Alstätte stapeln sich Stühle, die auf ihre Restaurierung warten. Auf einem kleinen Stuhl am Ende der Werkstatt sitzt Willy Rotherm. Vor ihm einer dieser Stühle - ohne Sitzfläche.
Mit schnellen und geschickten Handbewegungen ist er gerade dabei, eine neue Sitzfläche aus Binsen zu flechten. „Die Stuhlflechterei habe ich von meinem Vater gelernt“, sagt der 78-Jährige.
Bereits mit zehn Jahren hatte Willy Rotherm ein Ziel: Selbstständigkeit. „Ich wusste nur noch nicht, womit.“ Weil er von Haus aus kein großes Vermögen mitbrachte, musste etwas ohne großes Eigenkapital her. „Da war das hier genau das richtige“, sagt er und deutet auf die halbfertig geflochtene Stuhlfläche.
Und es hat funktioniert. Mit gerade mal 18 Jahren hat sich der geborene Stadtlohner selbstständig gemacht. Seit 13 Jahren ist er in Rente. „Eigentlich wollte ich das immer machen, bis ich 100 bin“, sagt Willy Rotherm. Aber aus gesundheitlichen Gründen ginge das leider nicht - zumindest nicht im gewohnten Ausmaß.
Arbeiten im Wandel der Zeit
Sein Vater habe im Rentenalter mit der Flechterei begonnen und seinem Sohn das Handwerk beigebracht. Willy Rotherm hat zu diesem Zeitpunkt eine Ausbildung zum Gas-Wasserinstallateur gemacht. „Dieser Beruf war für eine Selbstständigkeit allerdings nicht geeignet, weil man ein hohes Eigenkapital mitbringen musste.“
Also arbeitete er nach der Lehre bei der Stuhlfabrik Spahn in Stadtlohn. „Ein Jahr - und mit 18 habe ich mich dann direkt selbstständig gemacht“, sagt Willy Rotherm mit einem stolzen Lächeln.
„Und dann begann das Brennen.“ Denn der Alstätter wusste: „Wenn der Spahn Sitze brauchte, dann brauchten das andere Stuhlfabriken auch.“

So begann der Boom. „Es gab sehr gute Zeiten, weil jede Stuhlfabrik in ihrem Programm ein oder zwei Binsenprodukte hatte. Da hat es richtig gebrummt.“ Hochverkaufszeit seien die Siebziger und Achtziger gewesen. „Da habe ich Geflechte an Unternehmen deutschlandweit geliefert.“ Das seien etwa 20 Unternehmen gewesen.
Aber dann kam die Wende. „In Köln auf einer Messe habe ich dann Geflechte aus Seegras gesehen, die in China produziert wurden.“ Willy Rotherm erinnert sich. „Da wusste ich: Junge, das wird eine harte Nuss werden. Weil meine Kunden das ja auch sehen können.“
Und Willy Rotherms Befürchtungen haben sich bewahrheitet. Schlagartig wurden die Aufträge weniger, weil Kunden auf Seegras umgestiegen sind. „Man konnte nicht dagegen anhalten.“ Denn die Geflechte des 78-Jährigen kosteten das Fünffache. Qualitativ hätten die Seegrasgeflechte zwar keine Chance gegen Binsen gehabt - preislich aber schon.
Eine Alternative musste her, wenn der Alstätter sein Unternehmen behalten wollte. „Im Laufe der Jahre kamen dann Restaurierungsarbeiten hinzu.“ Gezwungenermaßen. Der 78-Jährige deutet in die Werkstatt.

Aber wie lernt man sowas überhaupt? „Wenn man brennt“, antwortet er bestimmt. Dieser Aspekt habe im Leben des geborenen Stadtlohners immer eine entscheidende Rolle gespielt. Auch in puncto Selbstständigkeit: „Man muss dafür brennen. Und ich brenne für das Risiko“, beschreibt er. „Und die neuen Herausforderungen“, ergänzt seine Frau Ulla Rotherm mit einem Lächeln. Erst dann werde es für den 78-Jährigen interessant.
Blick in die Vergangenheit
Heute blickt Willy Rotherm auf den Rest seiner Selbstständigkeit. „Hier ist ein ganzer Haufen, der noch abgewickelt werden muss.“ Danach sei Schluss - zumindest wolle der 78-Jährige dann nur noch das machen, worauf er Lust habe. Nach 60 Jahren auch verdient.

„Ich hätte gerne gehabt, dass meine Kinder diesen Beruf übernehmen. Aber ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, als sie zu überzeugen. Man wird mit diesem Job nicht reich.“ Trotzdem bereut Willy Rotherm nicht eine Entscheidung.
„Obwohl nicht alles erfolgreich war, würde ich alles wieder genau so machen“, sagt er entschlossen. „Diese Arbeit erfüllt mich voll und ganz.“
Stuhlfabrik Spahn: In Stadtlohn gingen industrielle Fertigung und Handwerk Hand in Hand
Diesen Artikel haben wir am 15. Juli 2024 veröffentlicht.