„Wird Papa sterben?“ Stephan Floris (53) und sein langer Kampf gegen das Coronavirus

© Anne Winter-Weckenbrock

„Wird Papa sterben?“ Stephan Floris (53) und sein langer Kampf gegen das Coronavirus

rnCoronavirus in Ahaus

Anfang März waren die Floris‘ die ersten Ahauser, bei denen der Coronavirus diagnostiziert wurde. Vier von fünf Familienmitgliedern waren erkrankt. Stephan Floris wäre fast gestorben.

Ahaus

, 25.12.2020, 18:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

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Familie Floris aus Alstätte hat in den letzten sechs Monaten eine Menge durchgemacht. Sie waren Anfang März die ersten Ahauser, bei denen das Coronavirus festgestellt wurde. Wegen der beiden erkrankten Töchter Jasmijn und Mirthe (12) wurde die Irena-Sendler-Gesamtschule geschlossen – eine Woche vor dem allgemeinen Lockdown. Und Stephan Floris lag vier Wochen im künstlichen Koma. Er wäre fast gestorben.

Die Familie ist durch die Hölle gegangen

Ziemlich genau ein halbes Jahr nach der Diagnose, auf der Terrasse der Familie in Alstätte: Heidelinde Floris (48) lacht etwas gequält und sagt mit Blick auf die zurückliegenden Monate: „Nein, das haben wir uns nicht gewünscht.“ Die Familie, gebürtig aus den Niederlanden, ist durch die Hölle gegangen. Wochenlang hatten sie Angst um den Mann und Vater, den sie nicht besuchen konnten. Derweil musste der Alltag weitergehen. Erst in Quarantäne, dann unter Corona-Bedingungen, wie jeder sie einzuhalten hat. Und keiner hat mehr Verständnis für die Regeln als Familie Floris.

Doch der Reihe nach. Es ist Sonntag, der 1. März. Familie Floris feiert den Geburtstag von Stephans Mutter in Borne. Bruder und Schwägerin, seit morgens vom Skifahren aus Südtirol wieder da, sind auch dabei. Ein bisschen erkältet ist die Schwägerin – keiner denkt sich groß was dabei. Einen Tag später ruft sie bei den Floris‘ an: „Ich werde getestet“. Am selben Tag wird die Skiregion zum Risikogebiet erklärt.

Jasmijn hat als erste Kopf-, Hals- und Bauchschmerzen

Am Dienstag klagt Jasmijn als erste über Kopf-, Hals- und Bauchschmerzen, geht nicht zur Schule. Am Mittwochabend kommt Stephan (53) mit Mirthe und Sohn Thymen (16) vom Schlittschuhfahren in Enschede nach Hause. „Gegen 21 Uhr wurde mir schlecht“, erzählt er, „und ich bin ins Bett gegangen.“ Die Schwägerin ruft an: Sie ist positiv.

Um 4 Uhr morgens geht dann gar nichts mehr, der Lkw-Fahrer meldet sich bei seinem Arbeitgeber in Legden krank. Kopf- und Bauchschmerzen, Schwindel, Schüttelfrost. Auch Thymen ist krank, hat 41 Fieber, und Mirthe geht es nicht gut.

Heidelinde Floris ruft beim Gesundheitsamt an: zwei mit Fieber, vier mit Symptomen. Das Krankenhaus schickt eine Mitarbeiterin, die Teststäbchen in den Briefkasten wirft. Und Heidelinde nimmt Abstriche und wirft sie beim Alstätter Hausarzt in den Briefkasten. Die Irena-Sendler-Schule wird vorsorglich geschlossen, abends geht die Pressemitteilung raus.

Gewissheit kommt: Alle außer Heidelinde Floris haben den Virus

Einen Tag später ist Gewissheit: Alle außer Heidelinde haben das Virus. Was das bedeuten sollte, können sich die Fünf an dem Tag noch nicht ausmalen. Sie sind seit Donnerstag in Quarantäne, müssen sich erinnern, mit wem sie Kontakt hatten.

Getestet werden die Klassenkameraden, die Mitarbeiter des Alstätter Betriebs, wo Thymen im Praktikum war, Freundinnen, Nachbarn, mit denen sie sich getroffen hatten. „Glücklicherweise waren alle Tests negativ“, stellen die Drei heute fest und sind froh darüber.

Stephan Floris im Kreis von Pflegefachkräften und einer Ärztin. Er lobt ausdrücklich, wie versiert und für ihn motivierend die Mitarbeiter des Ahauser Krankenhauses ihn behandelt haben. Das Erinnerungsfoto wurde kurz kurz vor seiner Entlassung aus dem Krankenhaus Ahaus in die Reha nach Schmallenberg ins Sauerland aufgenommen.

Stephan Floris im Kreis von Pflegefachkräften und einer Ärztin. Er lobt ausdrücklich, wie versiert und für ihn motivierend die Mitarbeiter des Ahauser Krankenhauses ihn behandelt haben. Das Erinnerungsfoto wurde kurz kurz vor seiner Entlassung aus dem Krankenhaus Ahaus in die Reha nach Schmallenberg ins Sauerland aufgenommen. © privat

Am Montag darauf bricht eine furchtbare Zeit an. Stephan Floris‘ Zustand verschlechtert sich. Er kommt ins Ahauser Krankenhaus. Dann, eines Nachts, hat er schlimme Atemnot und Schmerzen. Er wird ins künstliche Koma und an ein Beatmungsgerät gelegt. „Ich bin abends eingeschlafen und nach vier Wochen wieder aufgewacht“, sagt der Alstätter, der sich an nichts erinnern kann.

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Seine Familie erinnert sich an schreckliche Tage. Sie sind drei Wochen in Quarantäne, Besuche im Krankenhaus sind nicht erlaubt. Bis es rapide schlechter wird mit dem Familienvater: Die Organe drohen zu versagen. Seine Frau darf ihn besuchen, aber auch nur durch ein Fenster gucken. „Das war schlimm“, sagt sie.

Jasmijn fragt ihre Mutter: „Wird Papa sterben?“

Wieder zuhause, fragt Jasmijn sie: „Wird Papa sterben?“ Nachts kann Heidelinde Floris einfach nicht antworten. Aber am nächsten Tag: „Nein, Papa wird nicht sterben. Das geht nicht. Ich habe ihm meine Zustimmung nicht gegeben.“ Heute lachen alle Drei darüber: Ist doch gut, wenn der Mann auf die Frau hört.

Drei Tage ist Stephan Floris im kritischen Zustand. Dann endlich, am 1. April, bessern sich die Werte. „Wir haben nicht geschlafen und viel geweint“, erinnert sich Jasmijn an die Tage des Bangens. Dann wacht Stephan Floris auf.

Den 8. April 2020 wird die Familie nie vergessen: Sie dürfen sich zum ersten Mal sehen: Eine Pflegerin hält das Tablet, die Familie skypt. „Ich wollte so gern sprechen, aber das ging nicht“, blickt der Familienvater zurück. Das Beatmungsgerät.

Das Pflegeteam des Ahauser Krankenhauses hat ein Tagebuch für Stephan Floris geführt, in dem auch Skizzen und Fotos enthalten sind. Die Behandlungsschritte und später die Fortschritte wurden so festgehalten. Der Alstätter fühlte sich im Ahauser Krankenhaus sehr gut aufgehoben und lobt das Personal ausdrücklich.

Das Pflegeteam des Ahauser Krankenhauses hat ein Tagebuch für Stephan Floris geführt, in dem auch Skizzen und Fotos enthalten sind. Die Behandlungsschritte und später die Fortschritte wurden so festgehalten. Der Alstätter fühlte sich im Ahauser Krankenhaus sehr gut aufgehoben und lobt das Personal ausdrücklich. © Anne Winter-Weckenbrock

Was im Krankenhaus passiert ist und was mit ihm gemacht wurde – all das weiß er aus einem Tagebuch, das die Pflegekräfte für ihn geschrieben haben. Stephan Floris wird ganz ernst: „Das Personal im Ahauser Krankenhaus hat das so gut gemacht. Die haben alle mitgefiebert. Und waren fröhlich und haben mir Mut gemacht.“

Er will unbedingt ein Kompliment loswerden an das Team: „Hut ab!“

Sein Kampfgeist erwacht, nachdem er wach ist: „Ich wollte wieder gesund werden.“ Er wird in einen Spezialstuhl gehoben und erinnert sich jetzt daran, wie anstrengend das bisschen Sitzen war.

„Man muss einfach weiter“

Während er im künstlichen Koma liegt, muss der Alltag in der Familie weitergehen. Wie schafft man das? Heidelinde Floris atmet tief durch. „Man muss einfach weiter“. Die Kinder haben es schwer gehabt. „Thymen ist viel erwachsener geworden“, sagt sein Vater. „Er musste viel helfen, seine Mutter unterstützen“, sagt Stephan Floris ein. Unbeschwertheit – die gab es monatelang bei Familie Floris nicht.

Ab dem 10. April wurden Lunge und Kreislauf trainiert – Stephan Floris musste in einem Spezialstuhl sitzen. In der Reha im Sauerland wurde der Zeitraum des Sitzens jeden Tag verlängert. Ganz langsam besserte sich der Zustand von Stephan Floris dort.

Ab dem 10. April wurden Lunge und Kreislauf trainiert – Stephan Floris musste in einem Spezialstuhl sitzen. In der Reha im Sauerland wurde der Zeitraum des Sitzens jeden Tag verlängert. Ganz langsam besserte sich der Zustand von Stephan Floris dort. © privat

Wie war es für die Kinder in der Schule – gab es dumme Sprüche oder Vorwürfe? In ihrer Klasse sei sie nicht geärgert worden, sagt Jasmijn: „Nein, die haben mich per WhatsApp gefragt, wie es mir geht und so“. Ein paar Jungs von der Schule sagen schon mal „Corona“ oder „Abstand“, wenn sie sie sehen, „oder sie gucken uns blöd an“.

Erst nach viereinhalb Monaten ist Stephan Floris wieder zuhause

Für Stephan Floris geht die Odyssee weiter. Er muss an der Lunge, die zusammengeklappt war, operiert werden. Kommt nach Münster ins Clemenshospital. Von dort nach Schmallenberg in die Reha, muss dort wieder laufen, schlucken und laut sprechen lernen. Von dort geht es in die Reha nach Dortmund. Seine Familie sieht er so gut wie nie – wegen der Corona-Regeln in den Rehakliniken. Es ist der 17. Juli, als er wieder nach Hause kommt. Nach viereinhalb Monaten. Familie, Freunde und Nachbarn heißen ihn willkommen, er ist überrascht und freut sich.

"Am 10.4. haben Sie den nächsten Schritt nach vorn gemacht..." - dieser Tagebucheintrag hält das Datum fest, an dem Stephan Floris das erste Mal seit Wochen wieder in einem Stuhl saß. Es war eine große Anstrengung für ihn, eine halbe Stunde zu sitzen. Aber für die Lunge war das wichtig.

"Am 10.4. haben Sie den nächsten Schritt nach vorn gemacht..." - dieser Tagebucheintrag hält das Datum fest, an dem Stephan Floris das erste Mal seit Wochen wieder in einem Stuhl saß. Es war eine große Anstrengung für ihn, eine halbe Stunde zu sitzen. Aber für die Lunge war das wichtig. © Anne Winter-Weckenbrock

Der 53-Jährige, der aktuell noch zweimal die Woche Physiotherapie- und Reha-Anwendungen hat, ist noch immer krank geschrieben. 26 Kilo hatte er durch Corona abgenommen. Langsam nimmt er wieder zu und baut als passionierter Schlittschuhläufer wieder Kondition auf, „zwei Runden Inliner gehen, mehr noch nicht“.

Stephan Floris warnt vor Verharmlosung: „Es kann jeden treffen“

Er warnt eindringlich, den Coronavirus zu verharmlosen: „Es kann jeden treffen.“

Der Alstätter war ein gesunder, sportlicher, 53-jähriger Mann, als Covid19 ihn umhaute. „Es wurde auch viel erzählt, ich hätte Vorerkrankungen, ich wäre Alkoholiker, auch, ich wäre tot“, zählt er ein paar Dorfgerüchte auf. Nein, das alles ist nicht wahr, aber wahr ist, so Stephan Floris, dass man den Virus ernst nehmen muss. Abstand halten, Maske tragen.

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