Organisierte Kriminalität Welche niederländischen Nachbarstädte ein Problem haben

Organisierte Kriminalität: Welche niederländischen Nachbarstädte ein Problem haben
Lesezeit

Zahlreiche niederländische Gemeinden im Grenzgebiet sind anfällig für Drogen- und Bandenkriminalität. Das ist das Ergebnis einer sogenannten Unterweltkarte des Nachrichtensenders RTL-Niews. Das Nachrichtenportal hat untersucht, wie groß das Risiko der 352 niederländischen Kommunen ist, von organisierter Kriminalität unterwandert zu werden.

Besonders auffällig: Winterswijk, die Nachbarstadt von Vreden und Südlohn, belegt einen der vorderen nationalen Plätze beim Waffenhandel. Bocholts Nachbarstadt Aalten, nur wenige Kilometer entfernt, hingegen gilt als sehr sicher. Enschede, direkter Nachbar von Alstätte, ist tiefrot eingezeichnet auf dieser Karte. Die Redaktion hat sich die Rangliste genauer angeschaut und nach Ursachen gefragt.

Das beschauliche Winterswijk ist im Westmünsterland und Ruhrgebiet besonders für seinen Wochenmarkt bekannt. Und in der Szene für seine Coffeeshops. Die Kriminalstatistik zeigt eine dunkle Seite der Grenzstadt. Die weist Winterswijk nämlich landesweit auf Platz zehn beim Waffenhandel aus mit 22,2 Fällen auf 10.000 Einwohner.

Der Verdacht liegt nahe, dass dies mit den Drogenschmuggelrouten zusammenhängen, die auch über Winterswijk in Richtung Ruhrgebiet führen. Mehr als ein Verdacht ist das aber nicht, denn die Ermittlungsbehörden in NRW haben kaum Erkenntnisse dazu.

Die Statistik liefere dazu keine Erkenntnisse, heißt es seitens des Landeskriminalamtes. Zwar würden Verstöße gegen das Waffengesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz erfasst, worunter auch auch der (illegale) Waffenhandel fällt. Aber: „Bei Waffen, die in den Niederlanden gekauft wurden, liegt der Tatort und der Erfolgseintritt nicht in Deutschland und eine Erfassung erfolgt nicht in der Polizeilichen Kriminalstatistik Nordrhein-Westfalens“, teilt die Pressestelle des LKA mit. Bei der Kreispolizei in Borken klingt das deckungsgleich: „Darüber haben wir keine statistisch belegbaren Informationen.“

Enschede ein „tiefroter Fleck“

November 2018: Ein Vierfachmord erschüttert die niederländische Grenzstadt Enschede. Die Opfer werden dem örtlichen Drogenmilieu zugeordnet, als mutmaßliche Mörder fasst die Polizei einen Mann aus Hengelo und dessen zwei erwachsene Söhne. Zudem werden zwei Waffenhändler verhaftet, die die Tatwaffen geliefert haben sollen. In der Untersuchungshaft wiederum soll einer der Tatverdächtigen mit dem Tod bedroht worden sein, die Polizei durchsucht nun auch das Gefängnis nach einer Schusswaffe.

Drogen, Waffen, Mord und Rache: Schaut man auf die Unterwelt-Karte, dann ist Enschede dort ein tiefroter Fleck. Platz 22 auf der Liste der besonders durch organisierte Kriminalität gefährdeten Kommunen. Das hat Auswirkungen auch auf das unmittelbar benachbarte deutsche Grenzgebiet.

Schüsse auf Anwalt

Gronau, November 2019: Aus einem fahrenden Auto heraus wird ein niederländischer Anwalt beschossen. Der Insolvenzverwalter, der auf der deutschen Seite der Grenze wohnt, überlebt schwer verletzt. Bei der Tat habe es sich nicht nur um einen Mordanschlag, sondern um einen Anschlag auf den Rechtsstaat gehandelt, heißt es später im Urteil gegen die beiden Täter.

Einer von ihnen hatte kurz zuvor auch Schüsse auf ein Fitnessstudio im ebenfalls grenznahen Losser abgefeuert. Der mutmaßliche Auftraggeber des Anschlags musste sich parallel wegen Geldwäsche, Insolvenzbetrug und Cannabisanbau vor Gericht verantworten.

Enschede, Gronau, Losser: Ist es die Grenzlage, die organisierte Kriminalität besonders anzieht? Nicht nur, wie ein Blick auf die Unterwelt-Karte zeigt. Unmittelbar nördlich, an der Grenze zum niedersächsischen Landkreis Grafschaft Bentheim, liegen mit Dinkelland (Platz 349) und Tubbergen (Platz 352) zwei Kommunen, die sich ganz am Ende der Liste wiederfinden, obwohl es auch hier viele Grenzübergänge und einsam gelegene Bauernhöfe gibt, die Kriminellen Unterschlupf und schnelle Fluchtwege bieten.

Dennoch ist es in keiner Gemeinde für die organisierte Kriminalität schwieriger, Fuß zu fassen, als in Tubbergen. Warum? Weil die Menschen hier aufeinander Acht geben, weil es eine funktionierende „Noaberschaft“ gibt, lautet ein Fazit der RTL-Recherchen.

„Glauben Sie nicht, dass Sie hier einfach ungesehen einen Bauernhof kaufen oder mieten können. Die Nachbarschaften sind eng miteinander verbunden. Manche Familien leben seit Jahrhunderten am selben Ort. Die merken schnell, wenn etwas anders ist als normal“, zitiert RTL einen örtlichen Polizisten.

Hinzu komme ein enger sozialer Zusammenhalt mit einem lebendigen Vereinsleben. Wer da nicht mitmacht, fällt auf – und das ist das Letzte, was Kriminelle wollen. Die Folge: Im gesamten vergangenen Jahr zählte die Polizei in Tubbergen keinen einzigen Fall von Drogen-, Waffen- oder Menschenhandel.

Am Meester Meinenweg in Kotten war im Dezember 2021  der Bewohner dieses Hauses bei einem Überfall schwer verletzt worden. Nun wurde ein Verdächtiger festgenommen.
Am Meester Meinenweg in Kotten war im Dezember 2021 der Bewohner dieses Hauses bei einem Überfall schwer verletzt worden. Nun wurde ein Verdächtiger festgenommen. © Polizei Winterswijk

Haaksbergen, die Nachbarstadt von Ahaus, hat auf der Karte eine dunkelgelbe Farbe. Nur 0,59 der Einwohner werden verdächtig, kriminelle Taten zu begehen. Mit 5,8 Fällen pro 10.000 Einwohnern liegt Haaksbergen in punkte Waffenhandel auf Platz 211. Insgesamt belegt die Stadt Platz 211 auf der Unterweltkarte.


Während in der Untersuchung die direkte Nachbarschaft im Raum Ahaus/Vreden/Südlohn teilweise als sehr gefährlich einstuft wird, ist auch die Gemeinde Berkelland verhältnismäßig sicher. In der Rangliste steht die Kommune an der Berkel sogar auf Rang 337 von 352.

Nur etwas mehr als 0,5 Prozent aller Einwohner werden verdächtigt (0,57), Straftaten zu begehen. Gerade mal 4,4 Prozent der Haushalte haben problematisch hohe Schulden. Einzig bei der Kategorie „hochgefährdete Jugendliche“ steht die Provinz im Mittelfeld. 3,3 Prozent der jungen Erwachsenen haben dementsprechend ein hohes Risiko, in die Kriminalität hineinzurutschen. Im Ranking ergibt das Platz 253 von 352 in den Niederlanden.

Ost Gelre auf Platz 282

Etwas unsicherer ist das Leben in Ost Gelre, direkt süd-östlich von Berkelland. Zwar werden sogar noch weniger Einwohner der Straftaten verdächtigt (0,51 Prozent), dennoch rangiert die Stadt in der gesamten Rangliste nach Hereinnahme aller Kategorien auf Platz 282 und ist auf einer Übersichtskarte zu dem Thema dunkelgelb markiert.

Berkelland dagegen ist mit hellgelber Farbe eingezeichnet. Grund dafür ist vor allem die hohe Quote der Kriminalfälle in Bezug auf Waffenhandel (6,4 pro 10.000 Einwohner) und ebenso der Prozentsatz der Jugendlichen, die in großer Gefahr stehen, mit Kriminalität in Verbindung zu kommen (3,7). In dieser Kategorie rangiert die Stadt mit etwa 30.000 Einwohnern auf Platz 208.

Auf Nachfrage dieser Redaktion zeigt sich Joost van Oostrum, Bürgermeister von Berkelland, wenig überrascht über die Ergebnisse der Studie. „Die erstellten Indikatoren sind nicht immer auf ein Gebiet mit weniger Einwohnern übertragbar“, sagt er in Bezug auf seine Kommune. Dass tatsächlich ein Anwohner in Berkelland einen Verdachtsfall in der Umgebung meldet, sei unwahrscheinlicher als in größeren Städten.

Dennoch sei das Problem der Kriminalität auch in den West-Niederlanden längst angekommen. „Wir sehen, dass Anwohner regelmäßig angesprochen werden, um ihre leeren Schuppen zu vermieten. Wir wissen nicht, wie viele Leute tatsächlich darauf eingehen. Auch in einem kleinen Schuppen lässt sich ein ziemlich großes Amphetaminlabor einrichten“, erklärt van Oostrum.

„Wir sehen, dass Kriminelle nationale Grenzen nicht respektieren. Deshalb ist auch die Zusammenarbeit im Bereich der grenzüberschreitenden Kriminalität sehr wichtig.“ Eine Zusammenarbeit, auch mit deutschen Behörden, sei also in diesem Feld von großer Bedeutung, betont der Bürgermeister.

In der landesweiten Rangliste rangiert Bocholts niederländischer Nachbar Aalten mit Platz 326 von 352 Gemeinden weit hinten. Die Kommune gilt damit als besonders unanfällig für Unterwanderung durch organisierte Kriminalität.

Den Schlüssel dafür sieht Bürgermeister Anton Stapelkamp in einer hohen sozialen Kontrolle innerhalb der 27.000-Einwohner-Gemeinde. „Im Allgemeinen denke ich, dass wir einen hohen sozialen Zusammenhalt haben. Und wir haben eine niedrige Arbeitslosigkeit.“ Auch das sei ein Schutz gegen kriminelle Einflüsse. Außerdem: Bürgermeister Stapelkamp sieht den hohen Listenplatz auch in Verbindung mit der Moral der Aaltener. Er weiß um den Zusammenhang „mit dem traditionellen reformierten Charakter von Aalten.“ Dieser sei in früheren Generationen zwar stärker gewesen. Aber: „Er bestimmt immer noch die Moral der Aaltener Bevölkerung.“

Müssen sich Touristen fürchten?

Müssen sich deutsche Touristen vor der Kriminalität jenseits der Grenze fürchten? „Nein“, sagt der Polizist Toon Ruiken aus dem Achterhoek. „Ich bin seit vielen Jahren in dieser Region tätig und wage zu behaupten, dass es Kriminelle hier nicht gezielt auf deutsche Touristen abgesehen haben.“

Allerdings sind in den Niederlanden Vorfälle bekannt, denen Deutsche zum Opfer gefallen sind. „Stimmt“, sagt Ruiken. ,,Das ist natürlich sehr unangenehm. Wir unterstützen diese Menschen dann natürlich. Der Vorteil dieser Region ist, dass fast immer ein deutschsprachiger Beamter im Dienst ist. Wir haben auch die Möglichkeit, unsere deutschen Kollegen um Unterstützung zu bitten. So können wir sicherstellen, dass die Sprache nie ein Hindernis darstellt.“

Diese Grafik zeigt farblich, wie betroffen die niederländischen Kommunen sind.
In dieser Grafik ist farblich dargestellt, wie viele Fälle von (organisierter) Kriminalität bezogen auf die Einwohnerzahl erfasst wurden. Enschede ist tiefrot, Winterswijk rot, Berkelland und Haaksbergen sind hellrot sowie Aalten und Oostgelre blassrot dargestellt. © bbv

Auch Ruiken selbst ist einer der Kontaktpersonen, die gut Deutsch sprechen. Er war schon auf der Bocholter Kirmes im Einsatz, um den niederländischen Besuchern eine Anlaufstelle in Deutschland zu bieten. ,,Es kommt regelmäßig vor, dass wir auf diese Weise mit unseren deutschen Kollegen zusammenarbeiten. Bei großen Veranstaltungen in den Niederlanden, die auch viele Deutsche anziehen, gehen zum Beispiel auch Kollegen der deutschen Polizei mit.“

Er weist die Deutschen jedoch darauf hin, dass in den Niederlanden in bestimmten Fällen andere Regeln gelten. ,,Zum Beispiel beim Pfefferspray. In Deutschland ist es legal, aber hier fällt es unter das Waffengesetz. Wenn wir jemanden erwischen, der Pfefferspray mit sich führt, wird es konfisziert und die Person muss mit einer Geldstrafe rechnen“, erklärt er.