Kurt Kuhle arbeitete 17 Jahre im Kohlebergbau, davon zehn Jahre in Kolumbien, und 25 Jahre als Hauptschullehrer in Ahaus. Stationen eines ungewöhnlichen Lebens.
Kurt Kuhle ist 90 Jahre alt. Sein Leben ist voller Geschichten. Da gibt es die Geschichte, wie der Kauenwärter im Bergwerk Prosper Kurt Kuhle ohne Betäubung von einem faustgroßen Furunkel befreit. Oder die Geschichte, wie Kurt Kuhle einem kolumbianischen Bergmann das Leben rettet, indem er ihm einen Holzkeil zwischen den Kiefer treibt. Oder die Geschichte, wie Kurt Kuhle auf hoher See auf einen Bananendampfer steigt und dann durch den Panamakanal fährt. Kurt Kuhle könnte stundenlang solche Geschichten erzählen. Denn nur die wenigsten erleben all das, was Kurt Kuhle erlebt hat.
Arbeit im Ruhrgebiet
Diese Geschichte beginnt 1948. Der in Oberhausen-Sterkrade geborene Kurt Kuhle hat schon zwei Jahre als Pferdeknecht in Schleswig-Holstein gearbeitet und die Landwirtschaftliche Schule in Neumünster besucht. Dass er nach Kriegsende in den Norden gegangen war, hatte einen simplen Grund. „Im Ruhrgebiet gab es nichts zu essen.“ Das ändert sich 1948 mit der Währungsreform. Der 20-Jährige kehrt ins Ruhrgebiet zurück. „Da war das Geld wieder was wert. Die Geschäfte waren von einem Tag auf den anderen voller Waren.“
Kurt Kuhle bekommt Arbeit auf der Zeche Prosper 3 in Bottrop. Den Großteil seines Lohns muss er als Kostgänger abgeben. Das Geld bekommt die Bergmannsfamilie, die ihm im Gegenzug Kost und Logis gewährt. Die neue Arbeit ist ungewohnt. „Auf Prosper musste ich sofort auf Nachtschicht.“ Ein Problem für den jungen Mann. „Nachtschicht kannte ich nicht.“ Die Aufgabe ist monoton. Kurt Kuhle muss die von einem Förderband herabgefallene Kohle zurück aufs Band schaufeln. „Da hatte ich große Probleme, wach zu bleiben.“ Doch Einschlafen darf der 20-Jährige nicht. „Wenn mich der Steiger erwischt hätte, dann hätte es was gegeben.“
Knochenjob
Kurt Kuhle macht seine Sache gut. Nach kurzer Zeit bekommt er andere Arbeit. Schwerer, aber auch besser bezahlt. Nach einiger Zeit legt er die Hauerprüfung ab. „Da wurde nicht viel verlangt.“ Kurt Kuhle ist jetzt Kohlenhauer und arbeitet mit dem Presslufthammer. Ende der 40er-Jahre ein Knochenjob. Zu der Zeit werden noch niedrige Flöze abgebaut, zum Teil nur 70 Zentimeter hoch. „Ich musste im Liegen mit dem Presslufthammer die Kohle lösen.“ Das Schaufeln der Kohle auf den Förderer ist nicht minder schwer. „Die Schaufel hatte nur einen Stiel von 50 Zentimetern Länge.“ Harte Arbeit ist das. Auf zehn Meter Länge wird die Kohle auf einer Breite von einem Meter herausgeholt. Der Streb geht jeden Tag einen Meter weiter.

Kurt Kuhle und seine Gaskontrolllampe. Von ihr hing in Kolumbien das Leben vieler Bergleute ab. © FOTO: Christian Boedding
Ungefähr 4000 Bergleute arbeiten zu der Zeit auf Prosper. Drei Jahre nach Kriegsende sind viele Männer wieder in Lohn und Brot. Doch so ganz abgelegt haben sie den Krieg nicht. „Wir sind mit unserer gewöhnlichen Kleidung eingefahren. Meistens war das eine gefärbte Wehrmachtsuniform. Jeder hatte im Pütt was anderes an.“ Mehr oder weniger Gelumpe. Kurt Kuhle will sich keine Arbeitskleidung kaufen, dafür ist ihm das Geld zu schade. „Ich trug bei der Arbeit einen Hut, der war so alt, der war schon an drei Ecken durch.“ Einen Grubenhelm gibt es nicht. „Das war schon sehr ungemütlich, weil man sich doch öfter den Kopf gestoßen hat.“ Der Grubenhelm kommt erst später, ebenso Grubenschuhe mit Stahlkappen und Schienbeinschoner sowie von der Zeche gestellte Arbeitskleidung.
Wirtschaftswunder
Anfang der 50er-Jahre nimmt das Wirtschaftswunder langsam Fahrt auf. Der Lohn steigt von Jahr zu Jahr. Ebenso die Karrierechancen. Vom Laufsteiger über den Reviersteiger bis zum Fahrsteiger und Obersteiger bringen es manche sogar bis zum Betriebsführer. Doch egal, wie weit es nach oben geht, unter Tage braucht es einen klaren Kopf. „Der Genuss von Alkohol war verboten. Aber es mag Bergleute gegeben haben, die in ihren Kaffee einen Schuss Schnaps taten.“ Nach der Schicht sieht die Sache anders aus. Da trinken die Steiger in der Steigerstube eine Flasche Bier. „Aber auch das war eigentlich verboten.“
Allerdings fährt zu der Zeit fast noch keiner Auto. Die Bergleute gehen zu Fuß nach Hause, wenn sie in der Kolonie wohnen. Oder sie fahren mit dem Rad oder mit der Straßenbahn. Erst als die Autowelle kommt, müssen die Bergleute achtgeben. Nicht so sehr mit Blick auf den Alkoholkonsum. Mehr mit Blick auf die Pferdestärken unter der Haube. „Man musste aufpassen, dass man nicht einen Wagen kaufte, der mehr PS hatte als der Wagen des Betriebsführers.“ Da gab es feine Unterschiede. „Das hätte sich keiner erlauben dürfen.“ Fährt der Betriebsführer einen Opel Kapitän, tut der Steiger gut daran, nur einen Opel Olympia Rekord zu fahren. Mitte der 50er- Jahre liegt der Monatsverdienst eines Steigers bei gut 1200 DM. Der Rekord kostet 5850 DM, der Kapitän 8990 DM.
Kasernenton im Bergbau
1954 arbeitet Kurt Kuhle schon sechs Jahre auf Prosper in Bottrop. Der 26-Jährige ist strebsam und besucht die Bergschule. Nicht mehr lang und er hat das Examen als Steiger in der Tasche. Doch die Arbeit unter Tage schmeckt ihm mit den Jahren immer weniger, und das liegt nicht am Kohlenstaub. „Die Leute, die es damals zu sagen hatten, die hatten ja alle den Krieg überlebt. Die waren im Krieg meistens Offizier. Den Kasernenton haben sie auch im Bergbau beibehalten. Das war nicht nur der Befehlston, das war manchmal nicht mehr menschlich.“ Die meisten Steiger sind in Ordnung. „Aber wenn es dann zum Fahrsteiger ging oder zum Obersteiger, das wurde immer ungemütlicher. Kollegen empfanden das genauso.“ Viele Jahre später spricht Kurt Kuhle mit ehemaligen Steigern darüber. „Sie haben mir das alle bestätigt. Die ganzen Führungskräfte waren auch im Krieg Führungskräfte. Die hatten das Bedürfnis, das, was im Krieg nicht gelungen war, im Bergbau nachzuholen. Die Kumpel strammstehen zu lassen.“ Wenn auch nicht alle so waren. „Die Mehrzahl aber doch.“
Kurt Kuhle kommt das Zwischenmenschliche zu kurz. „Anstatt den Kumpel mit einzubinden – wie es später gang und gäbe ist in der Industrie – ihn mit seinen Ideen an den Pütt zu binden und zu honorieren, hat man ihn mit Füßen getreten.“ Mehr als einmal bekommt Kurt Kuhle zu hören: „Das überlassen Sie mal denen, die größere Köpfe haben als Sie.“ Dabei ist Kurt Kuhle Mitte der 50er-Jahre voller Ideen. „Ich habe mal versucht, eine Idee vorzutragen. Da hat mir der Steiger den Marsch geblasen.“ Kurt Kuhle will etwas erreichen. In Deutschland kann er das nicht.
Grubeningenieure gesucht
Zu der Zeit ist ein Deutscher in der kolumbianischen Regierung für Mineralien und den Bergbau zuständig. „Der ließ seinen ehemaligen Kumpel rüberkommen. Der wiederum schrieb seinen Freunden. Ich habe das von einem erfahren, der schon da war und in Deutschland Urlaub machte.“ Gesucht werden Grubeningenieure, die in Kolumbien nach deutschem Standard Kohle fördern. Kurt Kuhle fährt nach Paris, um sich für den Job zu bewerben. Dort ist der Firmensitz des Unternehmens, das in Kolumbien ein Stahlwerk betreibt, für dessen Hochofen Kurt Kuhle die Kohle aus dem Berg holen soll. „Die brauchten 2000 Tonnen täglich.“
Mit 27 Jahren nach Kolumbien
Kurz darauf erhält Kurt Kuhle einen Arbeitsvertrag, den er bedenkenlos unterschreibt. „Das war Monate, bevor ich meine Ausbildung zum Steiger abschloss.“ Als Kurt Kuhle 1955 mit 27 Jahren das Abschlusszeugnis in der Tasche hat, sitzt er drei Tage später im Flieger nach Kolumbien. In der Maschine lernt er zwei andere Bergmänner kennen. „Das waren meine späteren Mitarbeiter.“ Zu der Zeit ist die Stahlherstellung in Kolumbien ein Zuschussgeschäft. Produziert wird zumeist Draht. „Der war gar nicht zu verkaufen.“ Mit den Deutschen läuft es besser. 1956 holt Kurt Kuhle seine Verlobte Adelheid aus Bottrop nach. Noch am Tag ihrer Ankunft in der Hauptstadt Bogota heiratet das Paar. Am 21. März 1956. Das Ehepaar lebt in 2000 Metern Höhe in den Bergen Kolumbiens. „Die ersten Jahre waren hart für uns.“

Ende der 50er-Jahre: ein kolumbianischer Bergmann unter Tage. © Privat
Adelheid Kuhle fährt einmal pro Woche mit anderen Frauen mit dem werkseigenen Wagen zum Markt. Dort gibt es Möhren, Zwiebeln und Kartoffeln. Wollen die Kuhles Fleisch essen, müssen sie noch einmal 70 Kilometer weiter zu einer Fleischhalle fahren, die auf 1000 Meter Höhe liegt. „In der Halle hingen ausgenommene Ziegen, Schafe, Schweine und Kühe an Haken.“ Ausgewählte Stücke werden für die Mitnahme in Bananenblätter eingepackt. Die Frauen müssen in der Küche sehr viel improvisieren.
Fahrt mit dem Bananendampfer
In insgesamt zehn Jahren kehren Kurt und Adelheid Kuhle zweimal für einen Urlaub in die Heimat zurück. In ein Leben voller Annehmlichkeiten. Der Weg von Kolumbien nach Deutschland ist in den 50er-Jahren noch abenteuerlich. Mit dem weiß gestrichenen Bananenschiff Brunswick, das zwölf Passagiere mitnehmen kann, dauert die Reise über den Atlantik 14 Tage. Die Brunswick kommt mit 2000 Tonnen Bananen aus Ecuador. Wohl um die Hafengebühr zu sparen, lässt die Reederei die mittlerweile vierköpfige Familie mit einem Motorboot aufs Meer bringen. Das kleine Boot fährt neben dem Bananendampfer her, Kurt und Adelheid Kuhle müssen an einem Fallreep hochklettern. Zwei Seeleute folgen, die Kinder unterm Arm. „Das war ein ganz schönes Abenteuer.“ Die Kuhles fahren durch den Panamakanal und beobachten auf dem Atlantik Wale und Delfine. Die Besatzung besteht aus Deutschen, unter ihnen auch der Koch. „Wir haben deutsche Gerichte zu essen bekommen, das kannten wir gar nicht mehr.“
Weniger interessant, aber nicht minder aufregend ist der Flug. Mit der Super Constellation, einem viermotorigen Verkehrsflugzeug, sind sieben Zwischenlandungen erforderlich. „Wir sind so oft gehüpft, ich weiß gar nicht mehr, wie lange der Flug dauerte.“
Zeitung aus der Heimat
Damit die Verbindung nicht ganz abreißt, schickt Adelheid Kuhles Mutter der Tochter und dem Schwiegersohn regelmäßig Zeitungen aus Deutschland. „Die Ruhr Nachrichten.“ In die eingerollten Exemplare packt sie Backpulver, Vanillezucker und Gewürze. Als die Kinder in Kolumbien zur Welt kommen, ein Sohn und eine Tochter, kommt Baby- und Kinderkleidung dazu. Alles, was sich in eine Zeitung einrollen lässt. Sechs Wochen nach Erscheinen landet die Lektüre im Haus der Kuhles. „Luftpost wäre zu teuer gewesen. Die Zeitung kam mit dem Schiff.“ Warum die Zollbeamten nie eine der Zeitungsrollen aufschnitten, ist Kurt Kuhle auch heute noch ein Rätsel. „Die hätten das eigentlich merken müssen. Die Zeitungsrollen waren viel zu schwer.“
So vergehen Wochen, bis ihn die Ruhr Nachrichten an sein früheres Leben als Bergmann in Bottrop erinnern. „Auf Prosper gab es einen Knappschaftsarzt, der hatte in einer Villa am Rande der Kolonie seine Praxis. Das war auch einer, der im Krieg Militärarzt war. Der meinte, einen Kumpel auch mal so ohne Betäubung operieren zu können. Das war ein knochenharter Hund.“ In Kurt Kuhles Zeit auf Prosper gingen die meisten Kumpel nicht zum Arzt, wenn sie krank waren. „Die gingen deshalb nicht hin, weil es zu der Zeit noch die sogenannten drei Karenztage gab. Wenn einer drei Tage krank war, bekam er für diese Zeit kein Geld. Wenn der Knappschaftsarzt einen krankschrieb, dann nur für drei Tage.“
Behandlung ohne Betäubung
Einmal muss Kurt Kuhle doch zu diesem Arzt. Er hat ein Furunkel am Rücken. „So groß wie eine Faust.“ Kurt Kuhle arbeitet in einem niedrigen Flöz, in dem er kriechen muss. „Dabei stieß ich an das Furunkel, dass mir schlecht wurde.“ Kurt Kuhle geht zum Arzt und zieht sein Hemd hoch. Der Knappschaftsarzt schaut kurz hin: „Wie? Damit kommen Sie zu mir? Das macht doch der Kauenwärter!“ Kauenwärter, das sind Anfang der 50er-Jahre auf der Zeche diejenigen, die die Waschkaue sauberhalten. „Meist Ältere. Halbinvaliden.“
Kurt Kuhle geht also zum Kauenwärter, weil ihn der Arzt nicht behandelt. „Der sagte, leg‘ dich auf den Bauch.“ Was dann passiert, darüber macht Kurt Kuhle nicht viele Worte. „Danach habe ich meine Schicht gefahren.“ Über besagten Knappschaftsarzt liest Kurt Kuhle in den Ruhr Nachrichten dann Jahre nach dieser Begebenheit eine Meldung. Darin steht, dass ein italienischer Bergmann den Arzt in dessen Praxis erstach. „Das konnte ich mir gut vorstellen. Wenn der den Italiener so abgefertigt hat, wie mich damals, dann hat der das Messer gezogen.“

Wohnen in Zechennähe. © Privat
Gesprächsstoff in der Heimat. Gespräche mit seinen kolumbianischen Mitarbeitern beschränken sich meist auf das Fachliche. „Ich sprach zu Beginn kein Wort Spanisch. Das musste ich mir schnell aneignen.“ Kurt Kuhle kann den kolumbianischen Kumpels über Tage nicht erzählen, was sie unter Tage machen sollen. „Ich musste doch unter Tage dabei sein. Da ist es besser, die Sprache zu lernen, als 24 Stunden im Berg zu verbringen.“ Kurt Kuhle lernt sie mehr oder weniger schnell. „Es gab welche, die sprachen nach zwei Jahren immer noch kein Spanisch.“
Importierte Probleme
Kurt Kuhle kann sich bald mit den Bergleuten unterhalten. „Für ein Gespräch mit einem kolumbianischen Mediziner hätte es nicht gereicht. Aber die Verständigung mit einem Arzt war ja auch in Deutschland schon ein Problem.“ Die Jahre vergehen, Kurt Kuhle und seine deutschen Kollegen, darunter Topografen, Maschinensteiger, Elektrosteiger und Fachleute für die Kohlenwäsche sorgen fern von Prosper für ein prosperierendes Bergwerk. Sie bilden Kolumbianer zu Bergleuten aus, von denen einige zum Bergbau-Studium nach Deutschland gehen. Nach und nach werden die deutschen Arbeitskräfte durch Einheimische ersetzt. „Die brachten aber ein Problem aus Deutschland mit. Sie hatten das süße Studentenleben kennengelernt und sollten dann zurück in Kolumbien in 2000 Meter Höhe, fern der Kultur einer Großstadt, Kohle machen. Das wollten die meisten nicht. Die hatten keinen Bock, dort oben zu verkümmern.“

Adelheid Kuhle (r.) unter Tage in Kolumbien. © Privat
Zum harten Leben kommt die harte Arbeit. Kurt Kuhle ist mit seiner Schicht unter Tage, als ein kolumbianischer Bergmann von einem offen liegenden Stromkabel am Kopf getroffen wird. Der Mann liegt verkrampft am Boden und atmet nicht mehr. Kurt Kuhle will dem Mann den Mund öffnen. Es geht nicht. Der Kiefer ist so fest zusammengepresst, dass es ihm nicht gelingt, ihn mit den Händen zu öffnen. Kurt Kuhle sieht aber, dass dem Kolumbianer auf einer Seite zwei Backenzähne fehlen. „Ich habe einen Holzkeil in die Zahnlücke gedrückt und damit den Kiefer auseinandergehebelt.“ Der Mund ist offen, doch der Mann hat seine Zunge verschluckt. Kurt Kuhle gelingt es, die Zunge heraus zu ziehen. „Da ging ein Rasseln durch seinen Körper. Ich habe mich erschreckt.“ Der Bergmann atmet wieder.
1962 reift im Ehepaar Kuhle der Entschluss, Kolumbien den Rücken zu kehren und zurück nach Deutschland zu gehen. „Wir wollten die Zelte abbrechen, weil unser sechsjähriger Sohn schulpflichtig wurde. Wir waren ja schon sieben Jahre dort.“ Kurt und Adelheid Kuhle sitzen auf gepackten Koffern, als einflussreiche Kolumbianer aus Medellin dem deutschen Bergbaufachmann ein Angebot machen. Er soll ein Mechanisierungsprojekt auf die Beine stellen, in einem Kohlegebiet, 30 Kilometer von Medellin entfernt. Kurt Kuhle nimmt das Angebot an.
Er richtet einen Kohlestreb ein, aus dem täglich 1000 Tonnen Kohle kommen. Drei weitere Jahre, bis zum Abschluss des Projektes, bleibt die Familie noch in Kolumbien. Dann, nach insgesamt zehn Jahren, ist es höchste Zeit, nach Deutschland zurückzukehren. Kurt Kuhle lässt sich in seinem letzten Arbeitszeugnis verbriefen, dass er die Kohleförderung mit 30 Prozent weniger Leuten gesteigert hat.
Zurück in Deutschland
1965 ist die vierköpfige Familie wieder im Ruhrgebiet. Kurt Kuhle ist 37 Jahre alt. Er will beruflich Fuß fassen. „Im Bergbau war das schlecht möglich. Ich hätte zwar wieder anfangen können, aber ganz unten, als Laufsteiger.“ Das Zechensterben ist im Gange. Das Öl verdrängt langsam die Kohle. Von einem Bekannten bekommt er den Tipp, beim Landesstraßenbauamt Bochum nach Arbeit zu fragen. Kurt Kuhle ist nicht der erste Steiger, der dort unterkommt. Er wird Technischer Angestellter für Verkehrssicherheit.
„Eigentlich war das eine Lachnummer. Vom Straßenverkehr und von Verkehrssicherheit in Deutschland hatte ich nach zehn Jahren im Ausland keine Ahnung.“ Trotzdem arbeitet er sich schnell ein. Einige Monate später hört er, dass ein Kollege zum Lehrer umschult. Kurt Kuhle erkundigt sich und will ebenfalls Pädagoge werden. Die Aufnahmeprüfung an der Pädagogischen Hochschule in Dortmund ist für ihn kein Hindernis. Drei Jahre studiert er Pädagogik in Dortmund und besucht das Lehrerseminar in Rheine. Finanziell auf Rosen gebettet ist er nicht. „Wir hatten in Kolumbien zwar Geld gespart, aber keine Million.“

Eine Aufnahme aus dem Jahr 1912, sie zeigt den Vater von Kurt Kuhle, Friedrich Kuhle (unten l.). Auch er war Bergmann auf Prosper. © Privat
Die Ersparnisse reichen für ein Grundstück und die Bausparkasse. „Wir mussten uns ja erst mal häuslich einrichten und alles kaufen. Wir hatten nichts, keine Möbel, keine Winterkleidung.“ Kurt Kuhle sucht einen Platz für ein Eigenheim. „Wir haben versucht, in der Nähe des Ruhrgebiets ein Grundstück zu bekommen. Allerdings entsprachen die alle nicht meinen Vorstellungen.“ Das eine liegt direkt neben einer Halde, das andere 40 Meter von der Autobahn entfernt. Über das dritte Grundstück führt diagonal eine Stromleitung.
Dann liest Kurt Kuhle in den Ruhr Nachrichten folgende Annonce: „Grundstücke in Ahaus günstig zu verkaufen.“ Kurt und Adelheid Kuhle schauen sich das Grundstück an – und sind begeistert. Ahaus gefällt ihnen. Direkt nach dem Studium zieht Kurt Kuhle mit seiner Familie ins westliche Münsterland. Von der Aufnahme des Schulbetriebs im Jahr 1968 bis zu seiner Pensionierung Anfang der 90er-Jahre ist Kurt Kuhle Lehrer an der Gemeinschaftshauptschule in Ahaus. „Ich habe hauptsächlich Mathematik, Deutsch und Erdkunde unterrichtet. Aber auch Physik und Chemie, weil kein anderer da war und ich Ahnung davon hatte.“
Erinnerungsstück
Bergmann und Lehrer. Die zwei Leben des Kurt Kuhle. Nur wenige Erinnerungsstücke hat der 90-Jährige aus seiner Zeit unter Tage behalten. Eine Gaskontrolllampe gehört dazu. „Da hänge ich dran. Von dieser Lampe hing in Kolumbien das Leben vieler Bergleute ab.“ Sie zeigt, wo unter Tage das gefährliche, explosive Methangas vorhanden ist. Kurt Kuhles Lampe hat mit ihrem aufflackernden Licht so manchem Bergmann das Leben gerettet.
Viele Jahre später erfährt er, dass „sein“ Pütt in Kolumbien in die Luft geflogen war. Die Lampe verbraucht am Tag vielleicht für fünf Pfennig Benzin. Doch weil dem Leitenden Ingenieur das Benzin zu teuer ist, stellt er die Gaskontrolle ein. Es kommt zu einer Schlagwetterexplosion mit über 100 Toten. Aufständische der FARC machen dem kolumbianischen Ingenieur in Abwesenheit den Prozess und verurteilen ihn zum Tode. „Als er zur Grube fahren wollte, haben sie ihn und den Werksarzt, der ebenfalls zugegen war, erschossen.“ Den Bericht einer kolumbianischen Zeitung darüber hat der 90-Jährige aufbewahrt. „Dass ich noch lebe, ist ein Glücksfall. Ich habe mehr als einmal mein Leben riskiert.“
Christian Bödding, Jahrgang 1966, ist bekennender Westfale, aber kein Sturkopf. Er schreibt gerne tiefgründig und am liebsten über lokale Themen, über die sich andere nach der Lektüre seiner Texte aufregen.
