„Ich würde Minister zum Praktikum verpflichten“ Adipositas-Zentrum in Werne schließt

Adipositas-Zentrum schließt: Wütende Patienten und Ärzte
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Deutschland steht vor einer Krankenhausreform. Ende Oktober könnte diese im Bundestag verabschiedet werden. Das Vorhaben lässt sich wie folgt zusammenfassen: Deutschland hat mit etwa 1700 Krankenhäusern die höchste Krankenhaus- und Bettendichte in Europa, mit vielen nicht belegten Betten. Die Anzahl der Krankenhausaufenthalte ist im internationalen Vergleich sehr hoch.

Viele Krankenhäuser sind finanziell angespannt, teils wegen mangelnder Investitionen. Einige führen unnötige Operationen durch oder versorgen Patienten stationär, obwohl eine ambulante Behandlung ausreichen würde. Eine Reform soll die Versorgung effizienter gestalten, die Qualität verbessern und die Bürokratie verringern. Notwendige Kliniken sollen finanzielle Unterstützung erhalten, auch wenn sie weniger Patienten behandeln. Die Fallpauschalen, die Krankenhäuser unter wirtschaftlichen Druck setzen, werden reformiert.

Anerkannte Krankheit

Für das Klinikum Lünen-Werne bedeutet das einen harten Einschnitt. Denn das Adipositas-Zentrum am St.-Christophorus-Krankenhaus in Werne soll geschlossen werden. Operationen zur Gewichtsreduktion und die begleitende Therapie werden dann nicht mehr angeboten. Das steht seit diesem Sommer fest, spätestens Ende dieses Jahres ist damit hier endgültig Schluss. Der leitende Oberarzt Dr. Christian Klingeberg sieht die Pläne von Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann kritisch. Denn die Folgen dieser Reduzierung des Angebots werden seiner Ansicht nach ignoriert.

Adipositas ist mittlerweile eine anerkannte Krankheit. Wenn die gewichtsreduzierende Operation als letzter Ausweg, die begleitende Therapie und Vor- und Nachsorge nicht mehr niederschwellig angeboten werden können, nehmen unweigerlich Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes und Krebs zu, was wiederum das Gesundheitssystem belastet, weil andere teure Therapien und Medikamente verordnet werden müssen. Und hier beißt sich die sprichwörtliche Katze in den Schwanz: Weil die Finanzierung der Abteilung problematisch ist, wird sie geschlossen.

Dr. Christian Klingeberg blickt in seinen Computer.
Der leitende Oberarzt am St.-Christophorus-Krankenhaus, Dr. Christian Klingeberg, bedauert die Schließung des Adipositas-Zentrums. © Laura Oswald-Jüttner

Patienten sind enttäuscht

Klingeberg rät den Patienten zu einer kritischen Abwägung, sich in Werne operieren zu lassen, weil er nicht weiß, ob er sie noch optimal betreuen kann. „Ich halte es für medizinisch unabdingbar, für eine gute Nachsorge zu sorgen. Dort, wo die erforderlichen Bedingungen vorliegen, um sich für eine OP zur qualifizieren, würde ich noch operieren, wenn die Patienten auch zukünftig eine andersartige Nachsorge organisiert haben. Wenn sie also zum Beispiel ein anderes Adipositas-Zentrum finden. Oder in Absprache mit dem Hausarzt eine Nachsorge weiter gewährleisten können“, sagt Klingeberg.

Stephan Seidel, selbst Patient und erfolgreich operiert, leitet in Werne eine Selbsthilfegruppe für Betroffene. Die Stimmung sei seit der Nachricht entsprechend schlecht, denn - so betont auch Klingeberg - die Patienten fühlen sich in Werne im Krankenhaus sehr gut aufgehoben. „In der Regel werden Patienten etwa drei Jahre lang prä- und postoperativ betreut. Sollte es zu Komplikationen oder besonderen Umständen kommen, kann die Betreuung auch länger dauern“, hebt Seidel die Bedeutung der nahen Versorgung hervor.

Rückfall-Risiko

Die Mitglieder der Gruppe sind bestürzt. „Die Krankenhausreform und die damit verbundene Schließung des Adipositaszentrums Werne ist eine Katastrophe, zu kurz gedacht und lässt viele Dinge ungeklärt“, sagt beispielsweise Sabrina. Zwar ist derzeit im Gespräch, dass die Zentren in Dortmund und Schwerte erst einmal bestehen bleiben, das helfe ihr aber nicht, denn sie ist nicht mobil. „Es kann doch nicht ernsthaft sein, dass sich jetzt jeder Patient individuell darum kümmern muss, wie, wo und ob er überhaupt irgendwo weiter betreut wird“, so die Wernerin. Es werde völlig außer Acht gelassen, dass die bleibenden Zentren irgendwann keine Kapazitäten mehr haben, Patienten aufzunehmen.

Falle die Betreuung weg, werde der Patient mit hoher Wahrscheinlichkeit rückfällig, denn mit einer Operation allein sei es nicht getan, erläutert Dr. Klingeberg. Schon die Vorsorge bestehe aus individuell zugeschnittener Ernährungsberatung, Verhaltens- und Bewegungstherapie. Die Verhaltenstherapie dauere in vielen Fällen mehrere Jahre. Auch müsse regelmäßig mittels Blutentnahme kontrolliert werden, wie und welche Nährstoffe über Nahrungsergänzungsmittel zugeführt werden müssen.

Blick auf das Krankenhaus Werne.
Obschon die Bedarfe nach adäquater Adipositas-Therapie steigen, will das Land NRW die meisten der 39 Adipositas-Zentren schließen. © Jörg Heckenkamp (Archiv)

Zertifiziertes Kompetenz-Zentrum

„Mir tut es wirklich weh, sagen zu müssen, das geht leider nicht. Und das Ganze vor dem Hintergrund, dass hier der Bedarf an einer ordentlichen Therapie steigen wird. Die Politik behauptet das Gegenteil und das ist nicht nachvollziehbar“, sagt Klingeberg. Einerseits begrüße er die Idee, Kompetenzen zu zentrieren. „Erfahrungsgemäß werden Ergebnisse nicht gerade gut, wenn man nur eine Handvoll Operationen im Jahr durchführt. Wenn es aber ordentlich viele Operationen sind, dann darf man davon ausgehen, dass die Qualität und Ergebnisse viel, viel besser sind. Das haben wir in Werne nachgewiesen.“ Das Adipositas-Zentrum sei schließlich ein zertifiziertes und damit regelmäßig kontrolliertes Kompetenz-Zentrum für Adipositas-Chirurgie. Daher sei die Schließung den Patienten nicht zu vermitteln. Die Politik leugne diese Tatsache.

Schlimmer noch: „Das, was in NRW jetzt passiert, nämlich die Schließung von 20 der 39 zertifizierten Adipositas-Zentren, ist die Blaupause für den Bund“, sagt der Chirurg und liefert einige Zahlen. In Nordrhein-Westfalen gab es im vergangenen Jahr rund 8000 Adipositas-Operationen, für das kommende Jahr seien in den verbleibenden Zentren nur noch 5800 Eingriffe genehmigt, Bedarf steigend. Seine Abteilung behandle aktuell etwa 90 Patienten, die eine Operation anstreben. In diesem Jahr wird sich die Zahl der Adipositas-Operationen dort auf etwa 130 belaufen.

„Wir sind keine Nummer“

Den Mitgliedern der Selbsthilfegruppe falle es extrem schwer, sich einem Arzt zu öffnen. „Keiner der vor dem Adipositas-Zentrum Werne aufgesuchten Ärzte konnte einem das Gefühl vermitteln, dass man ernst genommen wird. Selbst bei auf die chronische Krankheit Adipositas spezialisierten Fachkräften (sowohl Ärzte als auch Ernährungsberatung) überwogen abschätzende Blicke und abwertende Bemerkungen. Solch fachlich und menschlich kompetente Ärzte wie in Werne sind eine Seltenheit und durch nichts zu ersetzen“, sagt Sabrina und Melanie ergänzt: „Wir sind keine Nummer, und jeder wird mit seiner Krankheit ernst genommen.“

Walter gibt zu, dass er nur mit Bauchschmerzen den Arzt wechseln würde. Auch Nicole sagt: „Für mich ist die Schließung sehr negativ, auch wenn es nur noch um die Jahresuntersuchungen geht. Ich weiß also nicht, wer die in Zukunft machen wird. Ob ich meine Ärztin dazu bekommen werde, keine Ahnung.“ Sie wisse zum jetzigen Zeitpunkt nicht, wer sie nach der Schließung weiter betreuen kann, fühlt sich da von der Politik alleingelassen.

Für Vivi geht es nicht nur um die medizinische Betreuung, sie müsse „einen Teil meines zweiten Lebens mit vertrauten Menschen aufgeben. Ich finde es eine Frechheit von unserer Politik, über Menschen, die sehr krank sind und auf die OP zurückgreifen können, das zu nehmen. Nicht jeder hat die Möglichkeit, nach Schwerte, Dortmund, oder Recklinghausen zu fahren.“ Nicht alle seien schließlich mobil. Frank hatte Glück, er hat eine Zusage aus Recklinghausen, dort weiter betreut werden zu können, der Termin stehe schon.

Stephan Seidel sitzt an seinem Laptop.
Stephan Seidel leitet in Werne eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Adipositas. © Laura Oswald-Jüttner (Archiv)

Klingeberg: „Der falsche Weg“

Dr. Klingeberg erläutert, dass die Kliniken beziehungsweise Behandlungs-Zentren eine bestimmte Frist bekommen haben, um Einspruch gegen die Schließung einzulegen. Diese ist allerdings im August dieses Jahres abgelaufen. Die Aussichten auf Erfolg seien aber schlecht. „Aussagen aus der politischen Ecke sagen auch, es ist nicht damit zu rechnen, dass überhaupt irgendwelchen Einsprüchen stattgegeben wird. Man muss damit rechnen, dass die Pläne, die seit Jahren aufgeworfen werden, auch durchgezogen werden. Egal, ob die Krankenhäuser nun Einspruch erheben oder nicht.“

Von den 19 verbleibenden Kliniken bzw. Behandlungs-Zentren werden in den dann folgenden drei Jahren weitere sieben, in weiteren drei Jahren werde die Zahl auf neun im ganzen Bundesland sinken. Da kommt schon mal die Frage in den Kopf, wie viele Menschen denn bis dahin möglicherweise schon gestorben sind.

„Und wenn die feststellen, dass das der falsche Weg war - da bin ich überzeugt, dass es passieren wird - dann lässt sich leider das Rad nicht mehr zurückdrehen. Dann ist ganz viel Expertise verloren gegangen, und es wird viel länger dauern, das wieder aufzubauen“, sagt Klingeberg.

Unkenntnis der Politik

Wenn er morgen vor Karl-Josef Laumann steht und einen Wunsch erfüllt bekommt, was würde der Oberarzt sich dann wünschen? „Ich würde ihn zum Praktikum hier in der Klinik verpflichten. Er müsste sich hier ein Bild machen, dann würde er die Realität lernen und dann würde er von selbst andere Schlüsse daraus ziehen. Ich glaube, da besteht eine ganz große Unkenntnis, er weiß nicht, wie das wirklich im echten Leben ausschaut.“

Die Schließung werde zumindest keine Auswirkungen auf die Selbsthilfegruppe haben. „Wir sind weiterhin für unsere Mitglieder da, egal, ob sie in Werne oder in anderen Krankenhäusern behandelt werden. Sollte sich die Situation in Zukunft ändern, müssten wir im schlimmsten Fall einen neuen Raum suchen, aber davon gehen wir aktuell nicht aus“, fasst Stephan Seidel abschließend zusammen.