Sorge um Heckrinder in den Lippeauen zwischen Stockum und Lünen Schaulustige gefährden Tiere

Sorge um Heckrinder in den Lippeauen: Schaulustige gefährden Tiere
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Unterhalb des Gersteinwerks verbindet der Sandbochumer Weg den Werner Ortsteil Stockum mit dem Hammer Ortsteil Sandbochum – eigentlich. Denn die kurze Straße von der Mühle Rasche über die Lippebrücke ins Naturschutzgebiet Am Tibaum ist seit Mittwoch (27.12.) gesperrt: nicht, um Menschen vor dem Lippehochwasser zu schützen, sondern um Heckrinder, die gegen die Folgen der Überflutung kämpfen, vor Menschen zu schützen.

Die Schaulustigen mochten sich gar nichts Böses dabei gedacht haben, als sie Weihnachten zur Lippebrücke in Stockum fuhren. Sie wollten einem Naturschauspiel beiwohnen, wie es das in dieser Intensität seit 20 Jahren nicht mehr gab: Land unter in der Lippeaue.

Die Menschen riefen, zuckten ihre Handys, um Fotos und Videos zu machen, einige ließen sogar Drohnen fliegen: viel zu viel Aufregung für die halbwilden Rinder, denen die bedrohlich angeschwollene Lippe gerade ihren Lebensraum gefährlich beschnitt. Sie hatten sich gerade vor den Wassermassen auf einzelne Anhöhen gerettet, die noch wie Inseln aus dem allgegenwärtigen Nass ragten.

Jetzt drohte die lautstarke Menschenansammlung die Tiere auch von da zu vertreiben: etwas, das Familie Linnemann und ihre Helfer auf keinen Fall zulassen wollten.

Linnemanns kümmern sich

1998 hatte die damalige VEW das Heckrind-Projekt zu Füßen des Stockumer Gersteinwerks ins Leben gerufen. Seit 2003 liegt die Verantwortung dafür bei der Biologischen Station in Heil und ihres Trägervereins, der Naturfördergesellschaft (NFG) des Kreises Unna. Konrad Linnemann betreut mit seiner Familie die Heckrinder in der Lippeaue zwischen Stockum und Lünen von Anfang an: die inzwischen zwei Herden der NFG – in Stockum am Tibaum und in Langern im sogenannten Hufeisen – und seine eigenen Tiere.

Seit Heiligabend, sagt seine Tochter Eva Linnemann (32), hätte die Familie kaum mehr als drei Stunden am Stück geschlafen - aus Sorge um die Tiere in der Aue, die sich in Rekordzeit in eine Seenlandschaft verwandelte.

Die eigenen Rinder hatte Konrad Linnemann mit der Unterstützung von 30 Personen in Sicherheit gebracht. Ein enormer Kraftakt. Nur durch die tatkräftige Hilfe von Freunden und Bekannten war es an Heiligabend gelungen, die Tiere aus dem Wasser zu retten und bei einem Landwirt unterzustellen.

Die Biostation ließ ihre halbwilden Rinder, die dem ausgestorbenen Auerochsen ähnlich sind, dagegen in der Aue - gut versorgt von den Linnemanns mit Heusilage, da das eigentliche Grünfutter zurzeit fast einen Meter unter Wasser liegt. Auf sicheren Anhöhen, die sich die Herde selbst sucht, hätten sie ausharren können - wenn nicht die störenden Schaulustigen gewesen wären.

Verluste noch nicht bekannt

Am zweiten Weihnachtstag sei es ganz schlimm gewesen, sagt Eva Linnemann. Freunde aus Stockum hätten diesen Eindruck bestätigt. „Da zögerten wir nicht länger.“ Sie riefen die Polizei und baten um Hilfe: eine zusätzliche Absperrung für Neugierige, die das Leben der Tiere – bewusst oder unbewusst – in Gefahr brachten. Dr. Anne-Kathrin Happe, die Leiterin der Bio-Station für Dortmund und den Kreis Unna, zeigt sich am Mittwoch (27.12.) für dieses Engagement dankbar.

Der Sandbochumer Weg ist für Schaulustige gesperrt und damit auch für alle anderen Fußgänger und Radfahrer.
Der Sandbochumer Weg ist für Schaulustige gesperrt und damit auch für alle anderen Fußgänger und Radfahrer.

„Ich kann nur appellieren, Verständnis zu zeigen“, sagt sie. Sicher sei es spannend, den plötzlich so veränderten Fluss zu beobachten, „aber hier gilt es, Rücksicht auf die Tiere zu nehmen“. Weder in Stockum noch in Langern sollten daher Menschen versuchen, sich den Heckrindern zu nähern.

Ob bereits eines im Wasser zu Schaden kam, ließe sich noch nicht sagen. Eva Linnemann konnte am späten Nachmittag mitteilen, dass sie beide Herden im Bereich des jeweiligen Stalles angetroffen habe: da wo ihr Vater auch das Futter platziert hat. „Wie immer es die Tiere auch dahin geschafft haben.“ Ob vollzählig oder mit Verlusten, habe sich aber noch nicht feststellen lassen.

„Natürlicher Prozess“

Das Naturschutzgebiet Lippeaue leiste gerade genau das, was es solle, sagt Kerstin Conrad. Die Diplom-Landschaftsökologin ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bio-Station zuständig für die Betreuung der Naturschutzgebiete in Werne und Bergkamen. Die Aue sei Überschwemmungsgebiet und Pufferfläche - und Lebensraum für zahlreiche bedrohte Pflanzen und Tiere. Auch wenn das aktuelle Hochwasser jetzt selbst zur Bedrohung werde, sei das immer noch ein natürlicher Prozess, von dem einige Arten sogar profitierten.

Nicht nur für Heckrinder hat sich der Lebensraum dramatisch verändert durch das Lippe-Hochwasser.
Nicht nur für Heckrinder hat sich der Lebensraum dramatisch verändert durch das Lippe-Hochwasser. © Sylvia vom Hofe

Die Nase zum Beispiel: Der Fisch, für den Wehre oft noch unüberwindbare Hindernisse darstellten, schaffe es jetzt leichter durchzuschwimmen und sich weiter zu verbreiten, sagt Conrad. Sogenannte Stromtalpflanzen wie die Schwanenblume und die gelbe Weinraute könnten durch die Flut ebenfalls neue Lebensräume besiedeln.

Nicht flugfähige Insekten gehören indes zu den Verlierern des Hochwassers. Säugetiere haben es ebenfalls schwer. Ob Hase, Fuchs, Maus oder Reh – wen das Wasser mitreißt, der müsse versuchen, in den Büschen und Bäumen Halt zu finden und sich herausziehen. Manche Auen-Bewohner, deren Rückkehr den Erfolg der Naturschutzmaßnahmen beweisen, habe da weniger Schwierigkeiten: Otter und Biber etwa.

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