Das Wort Morgengrauen bekommt eine ganz neue Bedeutung, als die Stille zerreißt. Durch den Nebel, der über der Weide am Waldrand in Werne - direkt an der Stadtgrenze zu Lünen und Selm - liegt, gellt an diesem Novembertag ein schrecklicher Schrei: irgendetwas Unartikuliertes zwischen Husten und Bellen. Dann noch einer und immer wieder. Minutenlang dauert das rätselhafte Rufen. Im Nebel ist jedoch nichts und niemand auszumachen.
Hundegebell hört sich anders an, Vogelrufe auch, also vielleicht doch ein Mensch in einer verzweifelten Situation? Vor einem halben Jahr hatte ebenfalls in Werne-Langern, dieser Bauerschaft im „Drei-Länder-Eck“ zwischen Ruhrgebiet und Münsterland eine ähnliche Situation für einen Polizeieinsatz gesorgt, allerdings nachts und nicht morgens. Ein Beamter hatte damals von vornherein die Ursache vermutet: bellende Rehe.
Auch an diesem Novembermorgen sind die zarten, nur 20 bis 30 Kilogramm schweren Tiere, die so niedlich aussehen, die Quelle der durchdringenden Laute. Das erklären dieses Mal nicht Vertreter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, sondern der Jagd und des Umweltschutzes. „Das Phänomen heißt so, wie es sich anhört“, sagt Egbert Ortmann, Landwirt und Jäger aus Langern: „Schrecken.“ „Wenn die Tiere beunruhigt sind und eine Gefahr vermuten, die sie noch nicht identifizieren können, dann schrecken sie, um Artgenossen zu warnen“ - ganz unabhängig von der Tageszeit, der Jahreszeit oder dem Geschlecht. Wenn mehrere dieser bellenden Rufe hintereinander erfolgen, das räumt der Jäger ein, erinnerte dieses Schrecken an Geschrei.
Auch Yvonne Schulz-Garbe aus Bergkamen gehört nicht zu denen, die zusammenzucken, wenn sie kehlige Schreie zwischen Wald und Flur vernehmen. „Aber ich gebe zu, dass es schon einmal vorgekommen ist, dass ich erst an bellende Hunde gedacht habe“, sagt die Obfrau für Öffentlichkeitsarbeit der Kreisjägerschaft des Kreises Unna, die selbst regelmäßig durch Reviere in Heil und in Werne streift. Sie räumt ein, dass längst nicht allgemein bekannt sei, dass Rehe derartige Laute ausstoßen können. Gerade Menschen, die nicht tagtäglich in der Natur unterwegs seien, reagierten da bisweilen durchaus irritiert.
Mehr schießen für Naturschutz?
Rehe wittern derzeit mit Recht Gefahr. Denn neben Jägerinnen und Jägern begrüßen derzeit auch Waldbesitzer und selbst wildtierfreundliche Naturschutzorganisationen die Jagd auf die kleinste heimische Hirschart. Denn Bambi und seine Verwandten gelten ihnen als eine Gefahr für eine Erholung des vom Klimawandel gebeutelten Waldes. „Für Rehe sind die Mitteltriebe kleiner Bäume eine Delikatesse“, sagt Yvonne Schulz-Garbe. Aktuelle Zahlen aus der im Oktober 2024 veröffentlichten Bundeswaldinventur zeigen, dass deutschlandweit innerhalb nur eines Jahres rund 30 Prozent aller jungen Laubbäume frisch verbissen worden seien. Um dem durch Trockenheit und Borkenkäfer geschwächten Wald zu helfen, werde an die Jägerschaft appelliert, mehr Rehwild zu erlegen, so die Bergkamenerin - ein Appell, den Professor Josef Helmut Reichholf entschieden ablehnt.
Einer der bekanntesten Naturforscher des Landes, meint, dass erst die intensive Bejagung dazu geführt habe, dass sich die Rehe ins besonders zu schützende Unterholz zurückgezogen hätten. „Die ihnen aufgezwungene Scheu verhindert, dass sie ihrer Natur gemäß weitgehend im Freien leben. Dürften sie dies, käme das nicht nur der Naturverjüngung im Wald ganz von selbst zugute, sondern die Häufigkeit der Wildunfälle würde abnehmen.“
Welche der beiden Positionen ist nun richtig? Solange diese Frage offen ist, scheint es verständlich zu sein, dass es da Rehen bisweilen zum Schreien zumute ist.
