Der Pflegenotstand ist durch die Pandemie nicht geringer geworden. Aber selbst ohne Corona wäre  die Lage wahrscheinlich nicht sonderlich besser, vermutet Ludger Risse.

© dpa / Oliver Berg

„Ohne den Einsatz der Pflegekräfte wäre die Katastrophe viel größer gewesen“

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Pflegefachkräfte schwebten lange unter dem Radar – bis die Pandemie kam. Doch soziale Anerkennung allein reicht nicht. Was sich noch ändern muss, erklärt Pflegeratsvorstand Ludger Risse im Interview.

Werne

, 20.05.2021, 12:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

Rund sieben Stunden lang konnten Deutschlands Fernsehzuschauer verfolgen, wie der Alltag von Krankenpflegerin Meike Ista aussieht. Ende März war das - in der Show „Joko und Klaas Live“. Die Moderatoren Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf wollten mit der XXL-Reportage auf den Pflegenotstand aufmerksam machen. Am Internationalen Tag der Pflegenden (12. Mai) wurde Ista als „Botschafterin der Pflege NRW“ ausgezeichnet. Wie wichtig diese Aktion war, was sich im Pflegebereich ändern muss und wie man das schaffen kann, erklärt NRW-Pflegeratsvorsitzender Ludger Risse im Interview.

Herr Risse, der Tag der Pflegenden hat nun bereits zum zweiten Mal in Pandemie-Zeiten stattgefunden. Gab es da überhaupt einen Grund zum Feiern?

Auf jeden Fall. Der Errichtungsausschuss der Pflegekammer NRW hat sich an diesem Tag quasi zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. Das war wichtig, weil wir uns von einer solchen Pflegekammer in Zukunft viel versprechen. Außerdem konnten wir an diesem Tag nochmals verstärkt auf den Stellenwert der Pflege aufmerksam machen - und natürlich eine Pflege-Botschafterin ernennen. Also: Ja, es gab trotz Corona etwas zu feiern.

Wie wichtig ist es denn, dass es nun eine solche Botschafterin gibt?

Das ist total wichtig - genauso wie die Video-Doku selbst. Millionen Menschen haben sich das Video angeguckt und einen Eindruck davon bekommen, was Pflege alles leistet. Das Bild in der Öffentlichkeit war ja bislang in den meisten Fällen so, dass man Pflegekräfte als rechte Hand des Arztes wahrgenommen hat. Viele Menschen wissen durch diesen Beitrag jetzt, dass Pflegekräfte nicht nur dazu da sind, um Patienten satt und sauber zu machen. Pflege ist eine hochqualifizierte Tätigkeit, im ambulanten wie im stationären Bereich. Und es ist eine anstrengende Tätigkeit.

„Ohne den Einsatz der Pflegekräfte wäre die Katastrophe viel größer gewesen“
ZUR PERSON Ludger Risse ist Standortleiter des St.-Christophorus-Krankenhauses in Werne, Vorsitzender des Pflegerats NRW, stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbands Pflegemanagement und stellvertretender Vorsitzender des Errichtungsausschusses der Pflegekammer NRW.

Sie haben in einem Interview vor drei Jahren mal gesagt, Pflegepersonal fehle an allen Ecken und Enden. Hat sich daran etwas geändert?

Nein, es ist leider noch genauso. Die Situation hat sich sogar noch verschärft. Und es liegt auch nicht nur an der Pandemie. Im Jahr 2020 waren in Deutschland zwar 18.500 Pflegekräfte mehr in den Krankenhäusern beschäftigt als ein Jahr zuvor, aber rechnen Sie das doch mal auf die Zahl der Kliniken um... Wenn ein großes Krankenhaus zehn zusätzliche Pflegekräfte bekommt, dann ist das schön - aber es reicht bei Weitem nicht aus. Die Anzahl des Personals ist auch nicht das einzige Problem.

Welche gibt es denn noch?

Was mir die Sorgenfalten auf die Stirn treibt, ist die Tatsache, dass sich immer mehr Pflegekräfte ausgebrannt fühlen. Im Bereich der Intensivpflege überlegen rund 30 Prozent des Personals, innerhalb eines Jahres aus dem Beruf auszusteigen. Das ist deutlich mehr als früher - und ein echtes Alarmsignal. In diesem Punkt spielt dann tatsächlich die Pandemie eine große Rolle: Sie hat die emotionalen und körperlichen Anforderungen an die Pflegekräfte verstärkt. Wir müssen da unbedingt Entlastung schaffen. Aber das geht nur mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen.

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Wie muss das aussehen?

Alle reden gerade über die Bezahlung von Pflege. Das ist auch gut so - aber wichtiger sind eigentlich die Arbeitsbedingungen. Es muss verlässliche Dienstpläne geben. Die Pflegekräfte müssen die Sicherheit haben, genügend Freizeit zu bekommen, um sich von den anstrengenden Diensten erholen zu können. Es darf nicht sein, dass jemand ständig angerufen und gefragt wird, ob er oder sie nicht doch noch spontan diesen oder jenen Dienst übernehmen könnte, weil jemand krankheitsbedingt ausgefallen ist. So etwas treibt die Leute an den Rand ihrer Kräfte. Dann stellen sie sich natürlich irgendwann die Frage, wie lange sie noch so weitermachen wollen.

Aber die Gestaltung von Dienstplänen - ist das nicht eher ein organisatorisches Problem?

Ja, aber das passiert nun mal, wenn man zu wenig Personal hat. Wir müssen daher unter anderem Anreize schaffen, damit wir mehr Leute zurückgewinnen. Zum Beispiel, indem wir unbeliebte Dienste deutlich besser finanziell ausgleichen. Es gibt nämlich viele Menschen, die zwar eine Pflegeausbildung haben, aber aktuell in einem anderen Beruf tätig sind. Wir brauchen diese Rückkehrer. Wir brauchen darüber hinaus mehr Studienplätze und Lehrer. Und wir müssen dringend dafür sorgen, dass wir Fachkräfte aus dem Ausland schneller integrieren.

Zum Internationalen Tag der Pflegenden machen Pflegekräfte auf ihre Arbeit aufmerksam - so wie hier im Jahr 2018 bei einer Foto-Aktion im St.-Christophorus-Krankenhaus.

Zum Internationalen Tag der Pflegenden machen Pflegekräfte auf ihre Arbeit aufmerksam - so wie hier im Jahr 2018 bei einer Foto-Aktion im St.-Christophorus-Krankenhaus. © Claudia Falk (Archiv)

Was genau meinen Sie damit?

Das ist oftmals ein bürokratisches Problem. Da kommen hoch motivierte Leute mit einer hervorragenden Qualifikation aus dem Ausland zu uns - und dann benötigen die Behörden fast ein Jahr, um diese Qualifikation anzuerkennen. Das muss einfach schneller gehen.

Das alles scheinen aber keine neuen Probleme zu sein...

Es hat sich in den vergangenen drei Jahren leider kaum etwas geändert. Es hat mal die ein oder andere Anpassung beim Tarif gegeben oder eine bessere Vergütung bei Führungspositionen. Aber es ist nichts passiert, was einen größeren, nachhaltigen Effekt gehabt hätte.

Und das soll jetzt die neue Pflegekammer NRW ändern?

Ja, das auch. Wir gehen mit der Kammer im zweiten Quartal 2022 richtig an den Start. Die Situation ist dann vergleichbar mit der von Ärzte- und Apothekenkammern. Das Wichtigste ist, dass wir unsere beruflichen Angelegenheiten dann selbst regeln können und nicht mehr fremdbestimmt sind. Die Pflege hatte bei vielen politischen Entscheidungen bislang kein Mitspracherecht. Zum Beispiel bei der Personaluntergrenze in Krankenhäusern. Es wurde über unsere Köpfe hinweg entschieden. Das wird mit einer Kammer anders. In NRW hätten wir dann rund 200.000 Mitglieder. An denen kommt man nicht einfach so vorbei.

Eine der Pflegekräfte im St. Christophorus-Krankenhaus legt die Schutzausrüstung für die Isolierstation an.

Eine der Pflegekräfte im St. Christophorus-Krankenhaus legt die Schutzausrüstung für die Isolierstation an. © Jörg Heckenkamp

Das wirkt ja beinahe wie eine Kampfansage...

Es gibt ja auch eine Menge zu tun. Große Veränderungen wird man aber wahrscheinlich erst in vier oder fünf Jahren spüren. Ein System, das über viele Jahre gewachsen ist, kann man nicht von heute auf morgen umdrehen. Wichtig ist zunächst einmal, dass die Kammer unter anderem als Anlaufstelle für Fachkräfte und Azubis fungiert. Prüfungen sollen in Zukunft nicht mehr vor dem Gesundheitsamt abgelegt werden, sondern bei der Kammer. Die Kammer wird zudem Ausbildungsinhalte vorgeben und Einrichtungen gegebenenfalls auch die Anerkennung erziehen können. Und natürlich wird es auch um die Vergütung von Pflegeleistungen gehen.

Anerkennung ist in Zeiten der Pandemie ein großes Thema. Wird die Arbeit des Pflegepersonals heute angemessener betrachtet als früher?

Ja, das ist schon so. Die Wertschätzung für die Arbeit von Pflegekräften ist gestiegen. Das ist vielleicht so etwas wie ein positiver Nebeneffekt der Pandemie.

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Abgesehen von der Corona-Prämie?

Die hat es zwar gegeben, aber so etwas hat ja nur einen einmaligen Effekt. Ich denke, dass alle, die in der Pflege tätig sind, lieber nachhaltige Veränderungen mit besseren Arbeitsbedingungen hätten statt solcher Prämien.

Verdient haben sie sich die Prämie aber trotzdem, oder nicht?

Natürlich. Wenn die Pflege ihre Arbeit nicht so konsequent und motiviert durchgezogen hätte, dann hätte es eine deutlich größere Katastrophe mit viel mehr Toten in Deutschland gegeben. Alle haben jetzt noch einmal gesehen, wie wichtig Pflege ist. Wir brauchen natürlich das Zusammenspiel zwischen Pflege und Ärzten. Aber ohne Pflege läuft letztlich gar nichts.

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