Schreie „wie im Horrorfilm“ Bellendes Reh löst Polizeieinsatz zwischen Lünen und Werne aus

 „Wie im Horrorfilm“: Bellendes Reh löst Polizeieinsatz aus
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Das Wichtigste in Kürze:

  • Ein Reh, das in der Nacht bellte, löste einen Polizeieinsatz in Werne, Lünen und Selm aus, nachdem besorgte Anwohner laute Schreie gemeldet hatten.
  • Polizei und Anwohner konnten zunächst keine Quelle für die nächtlichenSchreie finden.
  • Ein Polizist konnte dann die Geräusche als Bellen eines Rehs identifizieren.
  • Jäger bestätigen, dass Rehe, insbesondere weibliche Ricken, in der Tat bellen können, vor allem wenn sie ihre Kitze beschützen.
  • Die größten Gefahren für Rehe in der Region sind nicht natürliche Feinde, sondern Autos und Mähmaschinen.

„Uaach!! Der Schreckensschrei aus der Dunkelheit geht durch Mark und Bein. Und noch einmal aus voller Kehle: „Uach“. Danach immer wieder. Auf einem der Felder im Dreiländereck zwischen Werne, Lünen und Selm muss sich Unsagbares abspielen: blanker Horror zwischen der Straße Dreischfeld, die von Wethmar nach Cappenberg führt und dem Wanderweg am Bach, der Stadtgrenze zu Werne. Was mag der Rufer da nur sehen? Welche Not leiden? Welchen Schmerz spüren?

Die Bewohner eines der wenigen Häuser, die angrenzen, malen sich das Schlimmste aus. Sie rufen ihrerseits ins Dunkle, bieten Hilfe an, aber bekommen als Antwort nur das kehlige „Uach“, mal aus der einen Richtung, mal aus der anderen. Rennt da jemand in Panik, für die es keine Worte gibt, hin und her? Die Anwohner zögern nicht länger und greifen zum Telefon: 110.

Der Notruf für den Notfall. „Genau richtig gemacht“, sagt später Bernd Pentrop, der Sprecher der Kreispolizeibehörde im Kreis Unna. Dafür sei die Polizei schließlich 24 Stunden am Tag im Dienst: damit keine Zeit verloren wird, wenn Menschen in Gefahr sind. Und Rehe?

Ein junges Reh steht neben einem Alleebaum an einem Straßenrand während ein Pkw vorbeifährt.
Ein junges Reh steht neben einem Alleebaum an einem Straßenrand während ein Auto vorbeifährt. Das Risiko, im Autoverkehr zu sterben, ist für Rehe größer, als von einem der natürlichen Feinde gerissen zu werden. © dpa

Schreie des Schreckens

Zurück zu dieser Juni-Nacht von Dienstag auf Mittwoch: Keine fünf Minuten nach dem Notruf trifft die Streife ein: zwei Uniformierte. Auf der Terrasse des Hauses in Werne-Langern schweigen sie mit den besorgten Anwohnern in die Dunkelheit hinein. Ein Käuzchen ruft, ein Schaf blökt, aber ansonsten herrscht Stille: der Vorführeffekt. Die Schreie von gerade sind verschwunden: erstorben. Immerhin: Einige wenige der vielen Rufe hatte das Paar per Handy aufgenommen. „In Wirklichkeit“, sagt die Frau, „hörte sich das alles aber noch grässlicher an.“

Während sie die per Knopfdruck abgespielte Erinnerung an den vermeintlichen Todeskampf im Feld einmal mehr schauern lässt, lächelt einer der Beamten. Der Ruf, sagt er, erinnere ihn an das Bellen von Rehen. Was bitte?

Dass Hunde bellen, ist den Anwohnern bekannt. Hyänen können das auch. Seehunde und Seelöwen ebenfalls. Aber Rehe, diese scheuen, stummen Tiere mit großen Augen und kleiner Stupsnase? Da so tief im Werner Westen Hyänen, Seehunde und Seelöwen aber kaum anzutreffen sein dürften und Hundebellen auszuschließen ist - das hätte der Haus- und Hofhund identifiziert -, gelten die Rehe als wahrscheinlichste Geräuschquelle. Denn menschlich, sagen die Polizisten, „hört sich das nicht an“.

Vielleicht entmenschlicht, geben die Ohrenzeugen zurück. Wegen eines unsagbaren Grauens im Dunkeln? Noch einmal schreit es „Uach“ aus dem Handy. Noch einmal heißt die amtliche Diagnose „bellendes Reh“. Aber die Polizisten versprechen, in jedem Fall nachgucken zu fahren. Sicher ist sicher.

Jäger kennen bellende Rehe

„Sicher, habe ich schon Rehe bellen gehört.“ Wernes Hegeringsleiter Matthias Möllenhoff lacht am Telefon. Das seien die üblichen Schreckensschreie der Tiere, vor allem der Ricken, der weiblichen Rehe. Die hätten Mitte Mai in der Regel Kitze zu versorgen: um diese Zeit etwa einen Monat alten Nachwuchs, den sie aber nur zum Säugen aufsuchen. Ansonsten halten die Reh-Mütter lieber Distanz zu ihren Babys: eine Taktik, um die durch helle Punkte auf dem braunen Fell getarnten Jungtiere zu schützen.

„Die Kitze bleiben in den ersten zwei Wochen liegen und flüchten nicht einmal, wenn ein Mensch oder Hund unmittelbar vor ihnen steht“, sagt Möllenhoff. Daher sei es wichtig, zufällig entdeckte Kitze weder zu berühren noch zu streicheln. „Denn der anhaftende menschliche Geruch würde die Ricke irritieren, sodass sie im schlimmsten Fall das eigene Rehkitz verstößt.“ Das wäre ein Tierdrama: eines, das sich allerdings eher lautlos vollzög und nicht unter bellendem Geschrei.

„Rehe können in der Dunkelheit Gefahren wittern, aber nicht sehen“, sagt der oberste Jäger aus Werne, der selbst in der Bauerschaft Horst wohnt: ganz im Osten der Stadt. Die größte Gefahr für Rehe, die anders als Hirsche eher Einzelgänger sind, gehe im Münsterland und im Ruhrgebiet nicht von ihren natürlichen Feinden aus: Wolf, Luchs, Bär, Steinadler, die zumeist ähnlich oft anzutreffen sein dürften wie Hyänen und Robben. Viel größer ist das Risiko, dass ihnen Mähwerkzeuge bei Heu- und Grasernte den Garaus machen, Autos im Straßenverkehr oder wildernde Hunde. Was genau auch immer das Reh aus der Fassung bringt: „Dass es schreit, ist dann üblich.“

Bambis Bellen und Katzenjammer

Jägerinnen und Jäger, die wegen der zunehmend milden Winter, ein Anwachsen der Rehpopulation in der Region registrieren, kennen Bambis Bellen. Bernd Pentrop von der Polizei in Unna kennt es nicht. Ihn durchzucke es indes regelmäßig bei einem anderen Tierlaut.

Lautes Weinen, Jammern, Heulen und Winseln, das in Kombination zu einem fast unheimlichen Geräusch wird, habe ihn schon ein paar Mal nachts aufgeschreckt, gibt Pentrop zu. Er habe an ein verzweifeltes Kind gedacht. Tatsächlich habe es sich aber um rollige Katzen gehandelt. Doch ob Katzenjammer oder Rehgebell: Lieber einmal zu oft Nachschauen, ob nicht doch ein Mensch in Not ist, als die Laute zu ignorieren, sind sich die Sprecher von Polizei und Hegering einig.