Angst um seltene Gäste aus der Arktis in den Lippeauen „Die Tiere zu stören, schadet allen“

Gefahr in Lippeauen für seltene Gäste aus der Arktis: „Tiere nicht stören“
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Sie sind im Sommer in der Arktis zu Hause, in Grönland und Sibirien: Blässgänse, diese braungrauen Vögel mit leuchtend orangefarbenen Beinen und einer weißen Blässe an der Stirn, die ihr den Namen gibt. Den Winter verbringen sie in Deutschland: entweder in der norddeutschen Tiefebene oder am Niederrhein - oder neuerdings auch in den Lippewiesen im Kreis Unna. Fachleute sind von der Entwicklung fasziniert - und inzwischen auch besorgt. Denn Gefahr droht - nicht nur für die Vögel.

Ob von der Naturschutzbehörde, der Biologischen Station des Kreises Unna und der Stadt Dortmund oder aus dem ehrenamtlichen Naturschutz: Die Experten der Region schlagen gemeinsam Alarm. Immer wieder sei es in den vergangenen Wochen zu ungebetenen Störungen der seltenen Wintergäste gekommen, schreiben sie Ende November in einem gemeinsamen Brandbrief. Darin erklären sie, warum das Fehlverhalten so gravierende Folgen haben kann: sowohl für die Lippeaue und die Gänse aus der fernen Tundra als auch für die Landwirtschaft daneben.

Am Niederrhein finden sich Blässgänse zu mehr als 100.000 Tieren zum Überwintern ein. Von dieser Zahl ist die Lippeaue im Kreis Unna weit entfernt.
Am Niederrhein finden sich Blässgänse zu mehr als 100.000 Tieren zum Überwintern ein. Von dieser Zahl ist die Lippeaue im Kreis Unna weit entfernt. © picture alliance/dpa

„Auf den Wegen bleiben“

„Immer wieder kam es in den letzten Wochen zu ungebetenen Störungen durch Spaziergänger und andere Erholungssuchende“, heißt es in dem Schreiben. Einer, der das regelmäßig beobachtet, ist Klaus Nowack, Ornithologe aus Werne. Oft hätten die Störer vermutlich gar keine bösen Absichten, meint er: „Die Leute merken gar nicht, dass sie die offiziell ausgewiesen Wege verlassen und die Vögel aufmischen.“ Mit seinem Spektiv, einem hochauflösenden Fernrohr, beobachtet er in den Rieselfeldern in Werne die Folgen solcher Begegnungen: zig Vögel, manchmal Hunderte, steigen hektisch auf - nur auf den ersten Blick ein faszinierendes Schauspiel.

„Die Tiere sind sehr scheu und fühlen sich bei jedem kleinsten Verdacht bedroht“, schreiben die Experten. So ein aufsteigender Gänseverbund „sieht zwar erst einmal spektakulär aus, stellt aber aus Vogelsicht eine ernste Störung dar“. Damit verbunden sei jede Menge Stress und die Verbrennung von wertvollen Fettreserven. Und die sind überlebenswichtig.

Bei ihrer Ankunft in den Lippewiesen waren die arktischen Vögel - neben den Blässgänsen auch Saat-, Weißwangengänse und andere - ausgezehrt. Einen Weg von rund 5000 Kilometern haben sie in den letzten zwei bis drei Monaten zurückgelegt. Und im Februar werden sie schon wieder starten und den ebenso langen Heimweg antreten. Dieses Mal können sie sich anschließend aber nicht ausruhen. Denn in Grönland angekommen, müssen sie sich gleich in das Kräfte zehrende Brutgeschäft stürzen. Das gelingt nur, wenn sie in ihrem Winterquartier ausreichend Fettreserven anlegen könnten.

Genau das ist angesichts der Störungen aber fraglich: „Die Biologische Station und die Untere Naturschutzbehörde bitten daher noch einmal dringlich darum, das Wegegebot in den Naturschutzgebieten des Kreises zu beachten und Hunde an die Leine zu nehmen.“ Ansonsten würde eine Verdrängung stattfinden, die auch die Landwirtschaft belasten könnte.

Verdrängung auf Äcker droht

Zurzeit äsen die Gänse tagsüber in den grünen, unter Naturschutz stehenden Lippewiesen. Niedrige, nährstoffreiche Vegetation steht bei den Pflanzenfressern dabei besonders hoch im Kurs. Abends brechen die Vögel dann lautstark zu größeren Gewässern auf, wo sie sicher die Nacht verbringen können - geschützt vor möglichen Fressfeinden. Eine nahezu ideale Situation, zumal die großflächigen Grünlandflächen in der Lippeaue, auf denen sich die arktischen Gäste seit der Jahrtausendwende in immer größerer Zahl einfinden, weitgehend im Eigentum der öffentlichen Hand sind.

„Wenn Sie sich hier genug Fettreserven anfressen können, müssen sie nicht auf angrenzende Ackerflächen ausweichen, wo sie mitunter größeren Schaden anrichten können“, stellt Marko Kneisz von der Unteren Naturschutzbehörde Kreis Unna fest. Bleiben die Gänsetrupps auf dem Grünland innerhalb der Schutzgebiete ungestört, helfe das also den Tieren und ihren Energiereserven „ebenso wie unserer Landwirtschaft, deren Wintergetreideeinsaat auf den auenfernen Ackerflächen nicht durch äsende Gänse geschädigt wird“.

Klaus Nowack aus Werne beobachtet die heimische Vogelwelt insbesondere in der Lippeaue.
Klaus Nowack aus Werne beobachtet die heimische Vogelwelt insbesondere in der Lippeaue. © Felix Püschner

Neue Entwicklung in Westfalen

Laut Kerstin Conrad von der Biologischen Station gehen die ersten Beobachtungen von Blässgänsen in den Lippeauen auf die Zeit nach der Jahrtausendwende zurück. „Meist handelte es sich dabei jedoch eher um kleinere Bestände, die über längere Winterzeiträume bei uns festgestellt werden konnten.“ Das hat sich inzwischen geändert. Mittlerweile seien größere Trupps mit einigen hundert arktischen Gänsen dort keine Seltenheit mehr. Zum Vergleich: Am Niederrhein überwintern mehr als 100.000 Tiere. Das war nicht immer so.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren wilde Gänse in den meisten Teilen Westfalens noch so selten, dass die Vogelkundler jede einzelne Begegnung mit ihnen notierten, wie es bei der Geografischen Kommission Westfalens heißt. Vor allem in strengen Wintern stellten sich manchmal die nordischen Gäste ein. „In den Scharen der Wasservögel blieben sie jedoch eine Ausnahmeerscheinung.“ Als Brutvogel kam in Westfalen damals ohnehin nur die Graugans in Betracht, die aber schon 1906 hier als ausgestorben galt. Das hat sich inzwischen geändert. Neben der Graugans gelten auch die nicht heimische Kanada- und Nilgans als heimischer Brutvogel, während die Kinderstube der Blässgans weiter in der Arktis liegt.