Kiebitz droht im Kreis Unna das Aussterben Kiebitzzählung 2023: 5 von 10 Städten kiebitzfrei

Kiebitz droht im Kreis Unna das Aussterben: Kiebitzzählung 2023: Vogel fehlt in 5 von 10 Städten
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Wer in diesen April-Tagen früh aufsteht, kann einem besonderen Konzert lauschen: dem Gesang der Vögel. Zu keinem anderen Zeitpunkt singen so viele Arten gleichzeitig wie zwischen Ende April und Anfang Juni. Eine besonders markante Stimme ist jedoch immer seltener zu vernehmen, in vielen Bereichen des Kreises Unna sogar gar nicht mehr. Der Kiebitz, der sonst weithin hörbar seinen eigenen Namen gerufen hat, fehlt. Wie dramatisch die Bestände des einstigen Allerweltsvogels eingebrochen sind, belegen die Ergebnisse der jüngsten Zählung.

Aus 5 von 10 Städten verschwunden

Stichtag war der 1. April 2023. Wie jedes Jahr zu dieser Zeit hatten sich in allen zehn Städten und Gemeinden des Kreises Unna Vogelkundler der ornithologischen Arbeitsgemeinschaft des Kreises Unna (OAG) zeitgleich auf den Weg gemacht, um die taubengroßen, schwarz-weißen Vögel mit der auffallenden Feder-Tolle auf dem Kopf zu suchen. Ihr Augenmerk lag wieder auf Kiebitze, die nicht etwa auf der Durchreise sind, sondern zwischen Hamm und Dortmund, Iserlohn und Ascheberg brüten. Eine solche systematische Bestandserfassung erfolgt seit 1999. Waren es damals noch kreisweit 380 Brutpaare, sind es 2023 nur noch 68: ein Rückgang von mehr als 80 Prozent kreisweit. In fünf der zehn Städte und Gemeinden sogar um 100 Prozent.

Der einst allgegenwärtige Frühlingsbote ist in diesem Jahr in Lünen, Kamen, Bergkamen, Holzwickende und Schwerte ganz ausgeblieben und das nicht zum ersten Mal. Während der klagende „Kiewitt-Kiewitt“-Ruf des weitläufig mit Möwen verwandten Wiesen- und Watvogels im höher gelegenen Süden des Kreises ohnehin seltener zu hören war, verstummt er jetzt auch mehr und mehr im Norden.

Hobby-Ornithologen aus Lünen machen bereits seit 2020 bei den jährlichen Zählungen nur noch einen Strich. Dabei gab es dort 1999 noch 33 Brutpaare. Kamen gehörte mit 54 Paaren vor 24 Jahren sogar zu den Kiebitz-Hotspots Im Kreis. Und Bergkamen wies immerhin 34 Paare auf. Nirgendwo gründeten aber so viele Kiebitzeltern eine Familie wie in Werne.

128 Brutpaare zählten Naturschützen 1999 in Werne. Heute sind es immerhin noch 32: ein Spitzenwert im Kreis Unna, der sogar um fünf Brutpaare im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist. Wirkliche Freude will sich dennoch nicht bei Klaus Nowack, einem der Initiatoren der Kiebitz-Zählung, breit machen. Im Gegenteil.

Ost-West-Gefälle in Werne

„Diese wunderbare Offenlandart ist auf dem Weg, aus Werne zu verschwinden“, sagt er. Die festgestellten Brutpaare seien fast alle in Stockum anzutreffen: im Werner Osten „auf ausgewiesenen Schutzflächen“. Im Westen der Stadt - die Bundesstraße 54 dient dabei als Grenze“ - seien lediglich noch drei Brutpaare anzutreffen gewesen. Eine Frage der Zeit, wann auch diese standorttreuen Vogeleltern ausbleiben werden, wenn sich die Lebensbedingungen für die langbeinigen Bodenbrüter nicht grundlegend verbessern. Grundlegend verschlechtert haben sie sich bereits mehrfach für ihn.

Ein männlicher Kiebitz (Vanellus vanellus) fliegt am Himmel. Der Vogel wird auch Gaukler der Lüfte genannt wegen seines tollkühnen Balzflugs.
Ein männlicher Kiebitz (Vanellus vanellus) fliegt am Himmel. Der Vogel wird auch Gaukler der Lüfte genannt wegen seines tollkühnen Balzflugs. © picture alliance/dpa

Kiebitze bevorzugten zum Brüten ursprünglich baumfreie Moorgebiete und breite, flache Uferrandzonen. Landschaften, die es so schon lange nicht mehr gibt. Daraufhin haben sich die Vögel auf offenes feuchtes Dauergrünland spezialisiert: Wiesen, auf denen Pflanzen nur langsam wuchsen. Aber auch solches Grünland hatte kein Bestand. Seit den 1950er-Jahren wandelten Menschen die Wiesen zunehmend in Äcker um. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von Ende 2022 wird nicht ganz die Hälfte der Fläche Deutschlands landwirtschaftlich genutzt - zu gut 70 Prozent als Ackerland (vor allem für Getreide, Silomais und Raps) und nur noch zu 29 Prozent als Dauergrünland.

Klaus Nowack hat am 1. April 2023 Kiebitze in Werne gezählt und ist alarmiert.
Klaus Nowack hat am 1. April 2023 Kiebitze in Werne gezählt und ist alarmiert. © Felix Püschner

Bei den verbliebenen Wiesen setzte die Landwirtschaft auf Drainage und Dünger. Dadurch wuchs das Gras immer höher und dichter: beides zum Nachteil der Kiebitze, die eine niedrige Vegetation lieben. Sie ist eine wichtige Voraussetzung, damit die erdfarbenen Küken in ihrem ersten Lebensmonat lernen, nach wirbellosen Tieren im Boden zu picken, während ihre Eltern sie mit Regenwürmern und größeren Insektenlarven aus dem Boden versorgen. Die Vögel verloren wieder ihren Lebensraum, orientierte sich aber erneut um.

Bundesweit Rückgang um 93 Prozent

Schon seit Jahrzehnten brüten Kiebitze inzwischen auf Äckern: ein Lernerfolg der Vögel. Doch auch die Menschen lernten in dieser Zeit kräftig dazu und verfeinerten die Technik, mit der sie Äcker bearbeiten. Diese „Intensivierung der Landnutzung“ habe dazu geführt, dass „die Zahl brütender Kiebitze in Deutschland seit dem Jahr 1980 um 93 Prozent auf höchstens noch 42.000 bis 67.000 Paare gesunken ist“, schreiben Forscher des von der Bundesregierung beauftragten Thünen-Instituts in ihrem Abschlussbericht zum Projekt „Sympathieträger Kiebitz“ im Bundesprogramm Biologische Vielfalt.

Um das komplette „Verschwinden des Kiebitzes aus der Agrarlandschaft in Deutschland zu verhindern“, raten sie den verantwortlichen Stellen in Bund und Ländern, „so schnell wie möglich in allen von Kiebitzen besiedelten Lebensräumen intensive Schutzaktivitäten umzusetzen.“, unter anderem sogenannte Kiebitzfenster: Kurzzeitbrachen auf den Äckern für die Zeit der Brut (26 bis 29 Tage) und Jungvogelaufzucht.

Gut getarnt: die vier Kiebitzeier in einem Gelege.
Gut getarnt: die vier Kiebitzeier in einem Gelege. © Klaus Nowack

Viel Zeit bleibt nicht mehr: „Weite Bereiche des Binnenlandes sind mittlerweile kiebitzfrei oder stehen kurz davor, von Kiebitzen verlassen zu werden“, stellten die von der Bundesregierung beauftragten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fest. Die verbleibenden Bestände konzentrierten sich auf Nordwestdeutschland, vor allem an der Nordseeküste.

Neben der industrialisierten Landwirtschaft setzt auch immer noch die Vogeljagd in Südeuropa den Kiebitzen zu. Im August 2021 hatte der französische Staatsrat zwar eine zuvor erteilte Genehmigung zur Jagd auf rund 115.000 Vögel - neben Kiebitzen auch Lerchen oder Drosseln - wieder annulliert, nachdem sich der Europäische Gerichtshof eingeschaltet hatte. Allerdings war das in der Jägerschaft auf lauten Widerstand gestoßen.

Aber auch in Deutschland sah man in dem Kiebitz lange eine Delikatesse - weniger in dem ausgewachsenen Vogel als vielmehr in seinen Eiern. Die jeweils vier grün-schwarz gesprenkelten Eier in einer Gras ausgepolsterten Bodenmulde haben die Vorfahren gerne als Gratis-Ostergeschenk gesammelt. Offensichtlich standen diese Eier hoch im Kurs. Otto von Bismarck (1815-1898), der erste Reichskanzler des Deutschen Reichs, erhielt zumindest Jahr für Jahr zu seinem Geburtstag am 1. April von Verehrern aus dem friesischen Jever ein besonderes Geschenk: ein Kistchen mit 101 Kiebitzeiern.

50.000 Euro Strafe drohen

Heute undenkbar - nicht nur, weil die Vögel und ihre Eier Seltenheitswert haben. Sie stehen auch unter strengem Naturschutz. Bis zu 50.000 Euro Bußgeld können in NRW laut aktuellem Bußgeldkatalog fällig werden, wenn jemand einen Kiebitz oder andere wild lebende Vögel fängt, verletzt oder tötet. Beim Beschädigen oder Zerstören von Gelegen droht die gleiche Strafe.

Rebhuhn ist schon ausgestorben

Wie schnell es passieren kann, dass eine Art, die auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Tiere steht, trotz des strengen Schutzes doch ganz verschwindet, hat Klaus Nowack aus Werne leidvoll erfahren. „Werne-Varnhövel war vor 15 Jahren noch ein Hotspot für Rebhühner“, sagt der Vogelschützer in seinen Vorträgen immer wieder. Seit 2017 sei der Bestand an den kiebitzgroßen Vögeln komplett erloschen.

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