Seit vielen 100 Jahren versuchten Menschen, die entlang der Lippe lebten, das Wasser für sich nutzbar zu machen. Sie bauten Mühlen an Stellen mit Gefälle und schneller Fließgeschwindigkeit. Diese und auch Sandbänke sowie Zollschranken behinderten aber die Schifffahrt. Mit dem Anschluss Westfalens an Preußen kamen Pläne auf, die Lippe durchgängig schiffbar zu machen. Zu diesem Zweck bauten die Preußen in den 1820er Jahren zwischen Wesel und Lippstadt elf Schleusen und Umgehungskanäle. Letztere wurden irgendwann zugeschüttet, die Wehr-Anlagen aber sind geblieben. Das Wehr in Werne-Stockum ist eines davon.
Es kommt auf rund 200 Jahre und ist dementsprechend marode. Immer wieder werden Stimmen gegen das Wehr laut. Dahinter stehen Aktivisten verschiedener Hintergründe. Auch von administrativer Seite gibt es Überlegungen, die Lippe ihrer Natur zurück zu führen und sie ungehindert und durchgängig fließen zu lassen. Das würde zum Beispiel dem Fischbestand zu Gute kommen und die Ansiedlung besonderer Vogelarten begünstigen. Außerdem wäre das Gewässer fließend, statt wie vor den Wehren stehend. Letzteres begünstigt eine unnatürliche Erwärmung des Gewässer vor den Wehren.
Zu diesem Zweck müssten die Bauten in der Lippe abgerissen werden. Das Wehr in Werne-Stockum ist dabei ein besonderer Zankapfel, weil es privatwirtschaftliche Interessen gibt. Ein privater Werner Investor verfolgt Pläne, vor Ort ein Wasserkraftwerk zu installieren. Um das umzusetzen, müsste das Wehr bestehen bleiben.
Lippeverband soll prüfen
Wie diese Redaktion nun aus verschiedenen Quellen erfahren hat, soll der Lippeverband (seit 1926 als öffentlich-rechtlicher Wasserwirtschaftsverband für u.a. Abwasserreinigung, Hochwasserschutz und Gewässerhaltung zuständig) nun überprüfen, inwiefern ein Abbau der Wehre möglich ist. Den Auftrag soll das Landes-Umweltministerium erteilen. Im Zentrum der Überlegungen steht dabei vor allem, inwiefern ein Wegfall der Wehre die Fließgeschwindigkeit der Lippe beeinflussen würde.
Wichtig ist das vor allem für das Wehr in Hamm, durch das Lippewasser in den Datteln-Hamm-Kanal geleitet wird. Umgekehrt kann der Lippe in Trockenzeiten aus dem Rhein und der Ruhr Wasser zugeführt werden. Gegenstand der Prüfung wird zum einen sein, inwiefern sich also die Fließgeschwindigkeit erhöhen würde, wenn die Wehre nicht mehr den Lauf der Lippe beeinflussten. In der Folge stellt sich die Frage, ob der Damm zwischen Lippe und Kanal dieser veränderten Fließgeschwindigkeit standhalten würde. Daran schließt sich wiederum die Frage an, ob die veränderte Fließgeschwindigkeit Überschwemmungen begünstigen würde.
„Wehre wohl überlegt entfernen“
Manfred Smulka aus Bergkamen-Rünthe hat dazu eine klare Meinung. Er wird dieser Tage 95 Jahre alt und hat viel Zeit mit Fragen rund um das Wasser in der Region verbracht. „Ich bin mein Leben lang den Dingen auf den Grund gegangen und habe die Wasserwirtschaft in Werne, Bergkamen und Hamm maßgeblich beeinflusst.“ Er ist gelernter Bauingenieur mit Schwerpunkt Geologie und Wasserbau. Jetzt sitzt er an einem großen Tisch in seinem Wohnzimmer. Vor ihm liegen mehrere Geländekarten, die die Veränderungen im Lauf der Lippe in den vergangenen 200 Jahren zeigen.

Er spricht von Überschwemmungen in den vergangenen 100 Jahren, davon wie die verschiedenen Wehre entlang der Lippe funktionieren und davon, dass die Lippe zwischen Stockum und Hamm begradigt wurde, um die Fließgeschwindigkeit zu erhöhen. „Die Wehre haben in den 200 Jahren, seitdem es sie gibt, eigentlich nur Kosten verursacht. Das Gefälle wird durch die Wehre nur verschlechtert. Oder anders gesagt: Das Gefälle würde durch den Wegfall der Wehre verbessert werden. Und der Wasserstand könnte am Wehr in Hamm ohne weiteres gesenkt werden.“ Wichtig wäre es die Hochwasser-Überschwemmungsgebiete - zum Beispiel an den Lippeauen - zu erhalten. Smulka ist überzeugt, dass man die Wehre wohl überlegt entfernen könnte.

Kraftwerke betrieben Wehre
Wichtig waren die Schleusen und Wehre auch für die an der Lippe angesiedelten Kraftwerke. Sie pumpten darüber Kühlwasser. Sie sorgten auch mittels des Ausgleichssystems aus dem Datteln-Hamm-Kanal dafür, dass die Lippe ausreichend, also zehn Kubikmeter pro Sekunde an Wasser führte. Wie aus dem Jahresbericht der Westdeutschen Kanalbetreiber hervorgeht, war das natürlicherweise an nur 164 Tagen der Fall, sodass über die Hälfte des Jahres nachgepumpt werden musste.
Nachdem aber unter anderem das Gersteinwerk in Werne-Stockum 2019 stillgelegt wurde, gab RWE als Betreiber das Wehr dem Land zurück. Das Land NRW ist also seitdem Eigentümer der Wehre, der Lippeverband bewirtschaftet sie. Es bleibt abzuwarten, ob die Untersuchung ergibt, dass die Lippe durch einen Wegfall der Wehre natürlicherweise ausreichend Wasser führen würde.