Die Geschichte der jüdischen Familie Heimann aus Werne Kinder versteckten sich im Gartenschuppen

Von Heidelore Fertig-Möller
Integriert, verstoßen, geflüchtet - die Geschichte der Familie Heimann
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Die Familie Heimann an der Steinstraße ist urkundlich eine der jüdischen Familien, die am längsten in Werne beheimatet waren, und zwar seit 1816 bis zu ihrer Flucht 1938/40. Aus diesem Jahr 1816, als Werne gerade preußisch wurde und dem neu gegründeten Kreis Lüdinghausen angehörte, stammt die erste Erwähnung von Beer Heimann (1784-1822), der sich hier als Silber- und Goldarbeiter niedergelassen hatte. Sein Sohn Isaak gründete um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine koschere jüdische Fleischerei, also eine Schlachterei, die reine Tiere ordnungsgemäß nach jüdischen Religionsgesetzen schächtete.

Die Tradition übernahm dann Isaaks Sohn Hermann Heimann (1855-1930), der auch auf dem jüdischen Friedhof in Werne begraben wurde (heute ist sein Grabstein durch einen Sturm im letzten Jahr nicht mehr zu sehen). Sein Sohn Albert Heimann musste nach seiner Soldatenzeit im Ersten Weltkrieg seinen ursprünglichen Berufswunsch, Veterinärmedizin zu studieren und Tierarzt zu werden, aufgeben, um das väterliche Geschäft in Werne an der Steinstraße zu übernehmen.

Er vergrößerte es im Jahre 1925 und verwandelte die ehemalige Schlachterei in eine kleine Fleischfabrik mit Filialen in Hamm und Münster, die auch die einheimische Bevölkerung mit westfälischen Wurst- und Schinkenspezialitäten versorgte. Im Jahre 1922 heiratete Albert Heimann die 1899 geborene Rosa Fromm. Zum Haushalt der wohlhabenden und angesehenen Familie gehörten zum Ende der 1920er-Jahre vier Kinder, der Großvater, Onkel und Vetter – in der Fleischerei waren neben dem Kindermädchen, zwei Verkäuferinnen, ein Meister, zwei Gesellen und drei Lehrlinge angestellt.

Die vier Kinder Julie (geboren 1924), Hannelore (geboren 1925), Ruth (geboren 1927) sowie der lang ersehnte Sohn Herbert (geboren 1930) waren neben den beiden Töchtern von Alwin Lippmann, dem Sohn von Leo Marcus und den beiden Kindern der Familie Kaufmann die einzigen jüdischen Kinder in Werne zur Zeit des nationalsozialistischen Regimes.

Albert und Rosa Heimann: Ihre Familie lebte schon seit mehreren Generationen in Werne. Sie betrieb eine Fleischerei in der Steinstraße.
Albert und Rosa Heimann: Ihre Familie lebte schon seit mehreren Generationen in Werne. Sie betrieb eine Fleischerei in der Steinstraße. © Archiv Förderverein Stadtmuseum

Die Heimann-Kinder besuchten den Kindergarten des katholischen Waisenhauses am Schüttenwall. Später wurden die älteren Kinder in die katholische Grundschule für Mädchen aufgenommen, und nach vier Jahren durften Hannelore und Ruth und die beiden Töchter von Lippmann auf die Höhere Stadtschule überwechseln, nachdem sie den Qualifikationstest bestanden und ihre Eltern das obligatorische Schulgeld entrichtet hatten.

Bereits zu diesem Zeitpunkt 1934/35 wurden sie diskriminiert und isoliert: Sie mussten in der letzten Reihe sitzen, durften sich nicht melden und wurden von den Lehrern nicht mehr aufgerufen, sodass eine Beurteilung nur noch aufgrund von schriftlichen Arbeiten möglich war.

Auf diese Weise verbrachten sie, wie es in der Bachelor-Arbeit von Hannelores Tochter Lauren aus den 1980er-Jahren heißt, „fast mehr Stunden auf dem Schulflur als im Klassenzimmer“, da die jüdischen Kinder sowohl von den Sportstunden als auch in den Fächern Religion, Rassenlehre und Geschichte von der Teilnahme am Unterricht ausgeschlossen waren.

So sah das Haus der Familie Heimann früher aus. Inzwischen befindet sich in dem Gebäude die Baguetterie Schmitz.
So sah das Haus der Familie Heimann früher aus. Inzwischen befindet sich in dem Gebäude die Baguetterie Schmitz. © Archiv Förderverein Stadtmuseum

In der schrecklichen Pogromnacht am 9. November 1938 wurde auch Albert Heimann, der der Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Werne war, mit den anderen jüdischen Männern in die Synagoge getrieben. Die heilige Thora-Rolle wurde auf den Boden geworfen und die Männer sollten auf diese spucken, was aber keiner tat. Blutüberströmt konnte Albert Heimann die Thora-Rolle retten und mit nach Hause in die Steinstraße schleppen.

Dort sollte sich seine Familie im Gartenschuppen verstecken, bevor der wütende Nazi-Mob eintraf, die Wohnung verwüstete und alle Möbel, Fotos und Dokumente der Familie vernichtete. Nach diesen schrecklichen Ereignissen beschloss Albert Heimann die Flucht in die USA. Für eine sechsköpfige Familie war die Ausreise nach Amerika ohne Beziehungen schlicht unmöglich.

Also wurde ein getrennter Einreiseversuch unternommen und man schickte die älteste Tochter Julie im Alter von 15 Jahren zu einem Freund der Familie nach New York. Im August 1939 gelang es dann Albert Heimann, der am gefährdetsten war, nachzureisen – im Gepäck die gerettete Thora-Rolle aus der Werner Synagoge, die er 1943 anlässlich der Bar Mizwa seines Sohnes Herbert der deutsch-jüdischen Gemeinde „Hebrew Tabernacle“ in New York City schenkte.

Hannelore Heimann mit ihrem Kindermädchen Frieda Hüfner 1934 im Hinterhof der Fleischerei Heimann.
Hannelore Heimann mit ihrem Kindermädchen Frieda Hüfner 1934 im Hinterhof der Fleischerei Heimann. © Archiv Förderverein Stadtmuseum

Seiner Frau und den drei jüngsten Kindern Hannelore, Ruth und Herbert gelang noch im Februar 1940 die Ausreise aus Deutschland. Nach einer langwierigen Prüfung durch das amerikanische Konsulat in Stuttgart nahmen sie, da wegen des Zweiten Weltkrieges kein Passagierschiff die deutschen Häfen mehr verließ, einen Zug nach Holland, von wo sie auf der „Veendam“, die ihre letzte Fahrt über den Ozean machte, nach 14 Tagen New York erreichten.

Albert Heimann hatte dort schon eine Anstellung erhalten und konnte eine neue Existenz für die Familie aufbauen. Alle Heimann-Kinder heirateten und bekamen ihrerseits Kinder, die fast alle studierten - die Erinnerung an ihre Geburtsstadt Werne wurde trotz allem durch ihre Eltern wachgehalten.

Als Anfang der 1980er-Jahre auch in Werne an das Unrecht und die Verbrechen der Nazi-Herrschaft erinnert wurde, z.B. 1981 bei der großen Sonderausstellung „Juden in Werne“, die 6000 Besucher anlockte, konnte die damalige Museumsleiterin den Kontakt zu Hanna Adler, geb. Hannelore Heimann, herstellen, die ihr dann in den folgenden Jahren in zahllosen Briefen ihre Erlebnisse während der 1930er-Jahre in Werne schilderte.

Hanna Adler und ihre Familie in ihrer Wohnung in den USA.
Hanna Adler wurde als Hannelore Heimann in Werne geboren und erlebte die Schrecken des Holocaust. Heute lebt sie in den USA und hat kürzlich ihren 99. Geburtstag gefeiert. © Adler

Da kaum noch Dokumente oder schriftliche Belege im Werner Archiv vorhanden sind, waren diese Erinnerungen einer Zeitzeugin von großer Wichtigkeit. Noch heute besteht dieser Brief- bzw. Mailkontakt zwischen der nun pensionierten Museumsleiterin und Hanna Adler, die seit kurzem in einer Seniorenresidenz lebt und von ihrer Tochter Lauren betreut wird. Einmal, im Sommer 1986, hat sie mit ihrem Ehemann Howard Adler, einem ebenfalls aus Deutschland geflüchteten Juden, Werne besucht, einen Rundgang durch das sehr veränderte Werne gemacht, den Friedhof mit dem Grab ihres Großvaters aufgesucht und sich ins Goldene Buch der Stadt Werne eingetragen.

Auch ihre Schwester Ruth kam in den 1990er-Jahren nach Werne, um ihren mitreisenden Kindern und Enkeln ihre Heimatstadt Werne und ihr Geburtshaus an der Steinstraße zu zeigen, das heute noch steht. Im nächsten Jahr wird Hanna Adler bei hoffentlich guter körperlicher und geistiger Verfassung ihren einhundertsten Geburtstag im Kreise ihrer großen Familie feiern und ist damit zusammen mit ihrer Schwester Ruth die älteste Wernerin jüdischen Glaubens, die hier geboren wurde und ihre Kinder- und Jugendzeit in der Lippestadt verbrachte.

Die Höhere Stadtschule in Werne: Die Kinder von Heimann und Lippmann stehen dort auf dem Schulhof im Vordergrund.
Die Höhere Stadtschule in Werne: Die Kinder von Heimann und Lippmann stehen dort auf dem Schulhof im Vordergrund. © Archiv Förderverein Stadtmuseum

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