„Red Bull verleiht Flügel.“ So behauptet es die Werbung seit fast 30 Jahren. Tatsächlich sind aber in der ganzen Zeit noch niemandem, der den süßen Energydrink gekostet hat, Federn gewachsen. Geschweige denn ganze Schwingen. Auch die Flügel, die die Liebe verleiht - in diesem Fall ganz ohne Dosenpfand - , lassen Paare nicht tatsächlich abheben, sondern selbst dann, wenn es schwerelos gut läuft, nur im übertragenden Sinne. Zumindest ist es bei Menschen so. Dass es in der Natur auch anders geht, lässt sich im Hochsommer beobachten. Zum Beispiel in einem Garten in Werne-Langern: ein ebenso imposantes wie erschreckendes Schauspiel, das Fragen aufwirft. Ameisenexperte Jörg Tysarzik (66) aus Schwerte hat die Antworten.
Die Erde im Garten ist staubtrocken. Seit Tagen hat es nicht geregnet, während die Temperatur beständig an die 30-Grad-Marke langte. Hochsommer. Über dem Gehweg flimmert die Luft. Vielleicht ist das der Grund, warum das seltsame Ruckeln unter der Erdkrumme so lange verborgen blieb. Erst als schon der ganze Bereich zwischen Rosenbogen und Gartentörchen verändert ist, fällt es auf: Wo gerade noch brauner Boden bewegungslos in der Sonne darbte, herrscht jetzt ein aufgeregtes Wimmeln in Schwarz-Braun und Silber. Schwarz-Braun wie die nicht ganz einen Zentimeter großen, dreiteiligen Chitin-Leiber, die dort hin und her eilen. Und silbrig wie deren Flügel. Denn die haben alle Tiere, die da gerade aus der Erde klettern: geflügelte Ameisen auf dem Weg zu ihrem Hochzeitsflug, einem kurzen Glück zwischen Himmel und Erde.
Nein, geflügelte Ameisen seien keine besondere Art von Ameisen, sagt Jörg Tysarzik. „Dabei handelt es sich vielmehr um geschlechtsreife Männchen und Jungköniginnen.“ Nur ihnen und nicht etwa den emsigen Arbeiterinnen aus dem Ameisenstaat wachsen Flügel. Ein Phänomen, das es bei allen 110 heimischen Ameisenarten - weltweit sind es 9.500 Arten - gibt, allerdings nur in einem so kleinen Zeitfenster, dass die meisten Menschen Ameisen nur flügellos kennen. Bei dem Finanzbeamten Jörg Tysarzik ist das anders.
Der gebürtige Hagener interessiert sich schon seit seiner Jugend für die kleinen Gliedertiere, die zu den ältesten Lebewesen der Welt gehören. Weil sich im Kleinsten das Größte offenbare, zitiert er Erich Wasmann, einen Jesuiten und Naturwissenschaftler, der sich auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert insbesondere um die Erforschung staatenbildender Insekten verdient gemacht hat.
Zeitgenossen der Dinosaurier
Auch wenn seitdem mehr als 100 Jahre vergangen sind, sei das Staunen über die präzise organisierten Krabbler nicht kleiner geworden, sagt Tysarzik. Die Überlebensstrategien der Zeitgenossen der Dinosaurier, ihre technisch ausgeklügelten Bauten mit hochwirksamen Belüftungssystemen und vor allem ihre ausgeprägte Arbeitsteilung in einem Staat, in dem niemand den Ton angibt, lasse auch Menschen im 21. Jahrhundert staunen. Und rätseln.
Die Bestimmung von Ameisen gilt als sehr schwer und ist in der Regel nur wenigen Fachleuten vorbehalten. In Nordrhein-Westfalen sind es gerade einmal zwei: Frank Sonnenburg aus dem Rheinland und eben Jörg Tysarzik. Beide sind Beisitzer in der Ameisenschutzwarte NRW. Wenn sie Ameisen bestimmen, begnügen sie sich nicht mit Fotos. Sie müssen mehrere Bewohner eines Ameisennestes unter dem Binokular oder Mikroskop betrachten: etwas, das nur möglich ist, wenn die Tiere tot sind und nicht quicklebendig, wie die längst davongeflogenen Ameisen aus Werne-Langern. Dennoch tippt Tysarzik mit ziemlicher Sicherheit auf eine bestimmte Art.
„Die Schwarze Wegameise“, sagt er. Sie ist die am häufigsten auftretende Ameisenart in Mitteleuropa: eine anpassungsfähige Kulturfolgerin, die längst in Stadtzentren vorgedrungen ist und ihre Nester auch unter Pflastersteinen anlegt. Der kleine Krabbler bringt nicht einmal zehn Milligramm auf die Feinwaage. Allerdings kann er nach Ameisenart rekordverdächtig das 100-Fache seines Körpergewichts stemmen. An diesem Sommertag in Langern geht es aber um eine ganz andere Leistung.
Hochzeitsfreude endet im Tod
Wie eine dunkle Rauchwolke könne so ein Schwarm von Schwarzen Wegameisen mitunter wirken, heißt es beim Naturschutzbund Deutschland (Nabu). Manch einer habe da schon die Feuerwehr zum vermeintlich brennenden Kirchturm gerufen. Der Schwarm im Werner Garten ist zwar kleiner und der nächste Kirchturm ohnehin weit weg. Allerdings raucht es im Garten gleich an zwei Stellen: vorne am Gartentörchen und zehn Meter weiter ebenfalls: Zeitgleich heben auch an der Rasenkante Ameisen ab. Kein Zufall, wie Jörg Tysarzik sagt. Die Hochzeitsflüge verschiedener Ameisenkolonien einer Art erfolgen in der Regel zeitgleich. Ein Überlebenstrick: Je mehr Tiere gleichzeitig unterwegs sind, desto kleiner das Risiko für die einzelnen, von Vögeln gefressen zu werden. Der Tod wartet aber dennoch auf sie.

Was romantisch Hochzeitsflug heißt, sieht kein Happy End vor. Das Leben eines Ameisen-Männchens ist zwar beflügelt vom Glück der Ekstase, aber die währt nur kurz. Sobald es sich mit einer Jungkönigin gepaart hat, stirbt es. Die Jungkönigin indes kann bis zu 25 Jahre alt werden, wie der Ameisen-Experte weiß. Den bunten Garten von oben wird sie nach dieser einen Orgie in der Luft aber nie wieder sehen.
Königin legt jahrelang Eier
Mit vielen Millionen Samenzellen in der sogenannten Samentasche sucht sich die Jungkönigin einen sicheren Ort, um ihre eigenen Kolonie zu gründen. Dort wird sie jahrein-jahraus von Frühjahr bis Herbst Eier legen und sich nur im Winter ausruhen. Flügel braucht es dafür nicht. Die beißt sie sich selbst ab, weil sie nur stören würden. Nahrung braucht sie sich nicht zu suchen. Das erledigen ihre Töchter: die fleißigen Arbeiterinnen, die bis zu sieben Jahre alt werden können. Flügel wachsen ihnen aber nie. Denn sie sind unfruchtbar.
Nicht nur das vorbestimmte Schicksal sieht ein schweres Leben für die nur wenige Stunden so leicht dahinfliegenden Ameisen vor. Auch Menschen wollen den nimmermüden Insekten oft lieber den Garaus machen als sie bewundern. Wer im Internet „Fliegende Ameisen“ sucht, findet sofort „Fliegende Ameisen bekämpfen“: etwas, das völlig unnötig sei, wie Jörg Tysarzik sagt.
Eben weil die männlichen Tiere, auch Drohnen genannt, ohnehin sterben würden. Und weil die Jungköniginnen nur auf der Suche nach einem geeigneten Platz für ihre eigene Kolonie seien. Häuser und Balkone kämen dafür nicht in Frage. Eine Bekämpfung - ob durch Staubsauger, Hausmittel wie Essig, Knoblauch, oder Zitrone oder gar durch Kontaktgifte - erübrige sich damit. Ein Fliegengitter kann aber nicht schaden. Es hält schließlich nicht nur die liebestollen Ameisen ab, sondern auch die lästigen Fliegen.
Mehrheit der Ameisen gefährdet
Das mit dem Bekämpfen ist ohnehin so eine Sache: Laut Bundesnaturschutzgesetz genießen ausnahmslos alle Ameisen - ob geflügelt oder nicht - einen sogenannten Mindestschutz. Man darf ihre Lebensstätten „nicht ohne vernünftigen Grund“ beeinträchtigen oder zerstören, heißt es da. Waldameisen stehen zudem unter Naturschutz. Mit gutem Grund, wie der Nabu mitteilt: Mehr als Dreiviertel aller Ameisenarten stehen auf der Roten Liste der gefährdeten Arten Deutschlands.
11 seien vom Aussterben bedroht, 17 stark gefährdet. Die Gefährdungsursache Nummer 1 sei der Verlust von natürlichen Lebensräumen. Dabei könne der Mensch für die Erhaltung der Ameisenfauna ein guter Partner sein: „Da viele Ameisenarten äußerst wärmeliebend sind, enthält ein offener, extensiv bewirtschafteter Trockenrasen deutlich mehr Arten als etwa ein geschlossener Buchenwald am gleichen Standort.“