Holocaust-Gedenken in Werne „Aus Geschichte kann man lernen - aber das tun wir viel zu selten“

Holocaust-Gedenken früher und heute: Der schwere Weg zur Aufklärung
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Vor genau einem Jahr hat eine Arbeitsgemeinschaft des Anne-Frank-Gymnasiums die Patenschaft für den „Russischen Friedhof“ übernommen. Letzterer heißt nun „Gedenkstätte Zwangsarbeit Werne“ und wird am Freitag (27. Januar), dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, um 17 Uhr zum Schauplatz einer Kranzniederlegung und Ansprache des Bürgermeisters sein.

Zudem ist auf dem Christophorus-Kirchplatz von 8.30 bis 13 Uhr eine Installation zu sehen, die unter dem Titel „Erinnerungen wachhalten – 111 Lichter gegen das Vergessen“ steht. Die Schülerinnen und Schüler wollen Aufklärungsarbeit leisten - aber nicht nur an Gedenktagen und nicht nur im Klassenzimmer.

Die Aufarbeitung der Verbrechen unter nationalsozialistischer Terrorherrschaft beschränkt sich nicht bloß auf Gedenkveranstaltungen wie zur Pogromnacht am 9. November oder eben zum Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar. Sie findet seit Jahrzehnten vielerorts statt - ob in ehemaligen Konzentrationslagern oder auch in Bildungseinrichtungen wie Schulen oder Museen. Doch das war lange Zeit noch deutlich schwieriger als heutzutage.

Heidelore Fertig-Möller, langjährige Museums- und Stadtarchivleiterin, kann sich noch gut daran erinnern, wie die Situation Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre gewesen ist. Fertig-Möller war gerade aus dem Rheinland nach Werne gezogen und fand im Stadtarchiv zahlreiche Dokumente, die das jüdische Leben in Werne widerspiegelten. Jedoch nur bis 1933 - dem Jahr, in dem Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde.

Kaum Dokumente aus NS-Zeit im Stadtarchiv

„Aus der Zeit danach gab es im Werner Stadtarchiv so gut wie nichts. Das war nicht überraschend“, sagt die heutige Stadtführerin, während sie die Kopie eines in altdeutscher Schrift verfassten Dokuments in der Hand hält. „Erklärung zum Zwecke der Schulgeldberechnung“ ist darauf zu lesen. Darunter die Namen der vier Geschwister der jüdischen Familie Heimann. Der jüngste ist der damals achtjährige Herbert, die älteste die 14-jährige Julie. Datiert ist das Schreiben auf den 20. April 1938.

Ein Auszug aus der Werner Schulgeldberechnung von 1938.
Ein Auszug aus der Werner Schulgeldberechnung von 1938. © Repro Püschner

Dokumente wie dieses sind Ausnahmen, als Fertig-Möller Ende der 1970er Jahre damit beginnt, für die Sonderausstellung „Juden in Werne“ zu recherchieren. Was sie damals antreibt? „Ein großer Teil der Werner Geschichte wurde von den jüdischen Familien geprägt, die hier schon seit Jahrhunderten lebten. Es wurde Zeit, etwas zu diesem Thema zu machen.“ Auch der Holocaust soll nicht verschwiegen werden. Trotz des Umstands, dass es nicht viele Dinge gibt, die sich als Exponate eignen, um zu vermitteln, was in den 1930er und 1940er Jahren in Werne geschah. Allenfalls Fotos wie das vom Reichstreffen der NSDAP.

Die Namen der Täter aus der Pogromnacht zu nennen, ist aus rechtlichen Gründen noch nicht möglich, als die Ausstellung 1981 eröffnet wird. Das mag nicht jedem gefallen. Manch einer ist aber wohl auch erleichtert darüber, weil dadurch kein schlechtes Licht auf bestimmte Persönlichkeiten der Stadt geworfen werden kann. „Ich würde nicht sagen, dass es Widerstände gegen die Ausstellung gab. Aber ich hatte schon das Gefühl, dass man mir sehr genau auf die Finger schaut, was ich dort mache“, erinnert sich Fertig-Möller.

Ein Aufmarsch der SA auf dem Werner Marktplatz.
Ein Aufmarsch der SA auf dem Werner Marktplatz. © Archiv von Christel Evelt

Das ändert nichts daran, dass die Ausstellung zu einem großen Erfolg wird. Rekordverdächtige 200 Menschen kommen zur Eröffnung im Jahr 1981. Unter ihnen ist auch die Jüdin Marga Spiegel, die sich von 1943 bis 1945 bei katholischen Bauern im Münsterland - auch in Werne - versteckte und so der drohenden Deportation entging.

Bei der Ausstellungseröffnung 1981 wissen viele Besucher jedoch gar nicht, wer die gut gekleidete Dame ist, die später noch häufiger in Werne zu Gast sein wird. Die Aufmerksamkeit zieht an jenem Tag vielmehr ein Besucher auf sich, der umkippt, weil es in dem kleinen Museum am Kirchhof keine ausreichende Belüftung für eine solche Menschenmasse gibt.

Berichte von Werner Holocaust-Überlebenden

Sechs Jahre später stattet auch Hannelore Adler (geb. Heimann) ihrer alten Heimat einen Besuch ab und trägt sich ins Goldene Buch der Stadt ein. Sie und ihre Familie gehören zu den wenigen Holocaust-Überlebenden aus Werne. 1940 gelang ihnen die Flucht in die USA. „Mit dem letzten Schiff, das aus Amsterdam abfuhr“, sagt Fertig-Möller, die schon seit Anfang der 1980er Jahre Kontakt zu Adler pflegt.

Es sind auch die Erzählungen Adlers, die einen Teil zur späteren Aufklärung beitragen. Genau wie die von Heinrich Salomon, der ebenfalls 1939 in die USA flüchten konnte. Mit dem letzten Zug vor Kriegsbeginn, wie er 1980 in einem Brief an eine befreundete Werner Familie schreibt: „Ich hatte wirklich großes Glück, der Hölle zu entkommen. Es war eine Dummheit des damaligen Chefs der Gestapo“, heißt es darin. Letzterer hatte ein englisches Schreiben als Ausreisegenehmigung interpretiert. Tatsächlich stand genau das Gegenteil darin.

Der Ausschnitt eines Zeitungsartikels zur ersten Gedenkveranstaltung am ehemaligen Standort der Werner Synagoge aus dem Jahr 1984.
Der Ausschnitt eines Zeitungsartikels zur ersten Gedenkveranstaltung am ehemaligen Standort der Werner Synagoge aus dem Jahr 1984. © Watson

Viele Werner Bürger, die teils auch selbst gegen die Juden gehetzt hatten, schwiegen nach dem Krieg. Erst nach der Sonderausstellung melden sich einige zu Wort. In den 1980ern entsteht allmählich ein anderes Bewusstsein. 1984 findet die erste Gedenkstunde zur Pogromnacht am ehemaligen Standort der Synagoge statt. Zudem werden an verschiedenen Stellen Gedenktafeln angebracht.

Auf einer davon, direkt neben dem Eine-Welt-Laden am Marktplatz, ist zu lesen: „Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung.“ Den Text darunter kann man auch als Schuldeingeständnis werten: „Auf diesem Platz misshandelten Werner Bürger und Nazis in der ‚Reichskristallnacht‘ jüdische Werner Bürger.“ Am Gymnasium St. Christophorus entsteht Ende der 1980er Jahre eine Broschüre mit Interviews von Zeitzeugen. Einige von ihnen nehmen auch an den „Geschichtswerkstätten“ teil, die Fertig-Möller zusammen mit der VHS in den 1990ern veranstaltet.

Insgesamt 40 Stolpersteine liegen in Werne an verschiedenen Stellen im Stadtgebiet. Sie sollen an die ehemaligen jüdischen Bewohner der Lippestadt erinnern.
Insgesamt 40 Stolpersteine liegen in Werne an verschiedenen Stellen im Stadtgebiet. Sie sollen an die ehemaligen jüdischen Bewohner der Lippestadt erinnern. © Felix Püschner

Auf diese Weise lassen sich die Geschehnisse in Werne zur Zeit des Nationalsozialismus immer besser rekonstruieren und aufarbeiten. 2006 bekommt die Lippestadt ihre ersten „Stolpersteine“. Sie werden vor den einstigen Wohn- und Geschäftshäusern der jüdischen Familien verlegt, zum Beispiel am Roggenmarkt und in der Steinstraße. Darin eingraviert sind die Namen und Geburtsdaten der jüdischen Bürger sowie die Konzentrationslager, in die sie deportiert wurden.

Stolpersteine und besondere Exponate

Den Themen Krieg und Terror ist im Werner Stadtmuseum heute ein ganzer Raum gewidmet. Zu sehen sind dort unter anderem der Sekretär von Marga Spiegel und eine Schachtel der Hutmacherfamilie Gumpert. Beides Teil der Dauerausstellung. Gerne hätte Heidelore Fertig-Möller solche Exponate selbst schon gehabt, als sie vor mehr als 40 Jahren die Sonderausstellung konzipierte. Dennoch ist sie froh, dass sie es den heutigen Museumsbesuchern zu Verfügung stehen.

Gefreut habe sie sich auch, als sie vom Engagement der AFG-Schüler hörte, sagt die Stadtführerin. Denn Aufklärung und Erinnern sei nach wie vor wichtig: „Aus Geschichte kann man nämlich lernen. Leider tun wir Menschen das viel zu selten.“

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