Eine deutsche Frau fliegt nach Griechenland, entbindet in einer Privatklinik und gibt ihren Sohn zur Adoption frei. Für den Vater, Hakan Tankar aus Werne, bricht eine Welt zusammen.

Werne

, 14.06.2018, 21:00 Uhr / Lesedauer: 6 min

Könnte er seine Geschichte zu Ende schreiben, schlenderte er durch die Stadt. Eine kleine Hand in seiner. Und zwei Augen, die zwischendurch zu ihm hochblicken. Vielleicht sind sie braun, wie seine. Blau fände er schön. Hakan Tankar weiß es nicht. Denn immer dann, wenn er selbst die Lider öffnet, ist da keine Hand in seiner. Und die Augen, die in seiner Vorstellung eben noch zu ihm hochgeblickt haben, sind leer. Dann liegt da nur dieser Beschluss: „Kind, unbenannt“ steht darin. So schreiben sie über seinen Sohn. Hakan Tankar weiß nicht viel. Nur dass die kleine Hand ein anderer hält. Irgendwo in Griechenland.

Alles, was er von ihm hat, ist ein Haufen Papier. Ein Gerichtsbeschluss, ein Vaterschaftstest, Flugtickets, mit denen er irgendwann einmal beweisen will: Ich habe dich gesucht. Von Anfang an. „Wissen Sie, ich will das alles nicht“, sagt Hakan Tankar. „Ich will lieber mein Leben leben.“

„Eine Frau setzt sich hochschwanger in ein Flugzeug und kommt ohne Kind zurück“

Es ist der 4. Mai 2016, als seine Ex-Freundin in einer Privatklinik in Giannitsa/Griechenland den gemeinsamen Sohn zur Welt bringt. „Die Antragsgegnerin (…) gebar das betroffene Kind“, heißt es nüchtern in den Unterlagen. „Eine deutsche Frau setzt sich hochschwanger in ein Flugzeug und kommt ohne Kind zurück. Stellen Sie sich das mal vor“, sagt Tankar mehr zu sich selbst. Er hat es sich vorgestellt, unzählige Male. Stellen Sie sich vor, Sie verlieren Ihr Kind…

Hakan Tankar ist 33, geboren in Essen. Seine Eltern stammen aus der Türkei. Der Vater verließ die Familie vor seiner Geburt. „Als ich elf Jahre alt war, ist er wieder aufgetaucht“, erzählt Tankar. Eine Beziehung haben die beiden nie aufgebaut. Tankar wollte es besser machen. Und es sah doch alles danach aus.

Wie ein Astronaut, der in den Himmel geschossen wird

Als der Schausteller und gelernte Automechaniker die Mutter seines Kindes 2014 auf der Kirmes in Eitorf bei Bonn kennenlernte, „war das, als würde ein Astronaut in den Himmel geschossen“, sagt Tankar. Es war Liebe – von null auf hundert. Nach eineinhalb Jahren Beziehung kehrte der Astronaut mit einem großen Knall zurück auf die Erde – abgestürzt. Von hundert auf null. Sie, damals im achten Monat schwanger, zog aus der gemeinsamen Wohnung in Lünen aus. Das Datum der Trennung weiß Tankar noch: Es war der 28. März 2016. „Da habe ich 105 Kilo gewogen.“ Einen Monat später waren es 80.

Warum es damals so kommen musste, fragt er sich bis heute. Es sei eine gute Beziehung gewesen, das Kind ein Wunschkind. „Ich habe es mir so sehr gewünscht“, sagt er. Sie aber ging zurück zu ihrem Ex, einem Griechen. Heute leben die beiden in Eitorf, sind verheiratet. Sie wurde ein zweites Mal Mutter, sagt die Anwältin von Hakan Tankar. Ein anderes Kind. Eine neue Familie, ein neues Leben. Tankar zog nach Werne, hat immerhin einen neuen Wohnort. Ansonsten ist er allein mit seinem Haufen Papier und dem toten Astronauten.

Einer, der verliebt war, der eine eigene Familie wollte

Damit er irgendwie Ordnung bekommt in diesen Haufen und das ganze Chaos, das er seit zwei Jahren sein Leben nennt, hat er alles abgeheftet. In Ordnern und Schnellheftern. Fast schon bürokratisch. Nur ist er nicht der stattliche Mann im Anzug, sondern ein 33-Jähriger mit Jeans und T-Shirt. Offenes Gesicht, offenes Lächeln, wenn es denn überhaupt mal dazu kommt. „Standard“, sagt er selbst über sich. Einer, der verliebt war, der eine eigene Familie wollte und dann plötzlich ins Bodenlose stürzte.

Hakan Tankar rechtfertigt sich zwischendurch, wüsste ja, dass es Menschen woanders auf der Welt viel schlechter gehe. „Aber man muss doch gucken, dass es auch vor der eigenen Haustür schön ist, oder?“ Manchmal werden seine Augen glasig, wenn er über seinen Sohn und seine Ex-Freundin spricht. Er will sie nicht schlechtreden, schließlich könne man Erinnerungen nicht einfach auslöschen – auch nicht nach alldem, was passiert ist.

99,9 Prozent Vater des Kindes

Kurz nach der Trennung zeigte sie Hakan Tankar an. Er soll sie bedroht haben. Als er Ende Mai 2016 mit seinem Kirmesstand auf dem Lambertusmarkt in Erkelenz unterwegs war, musste er deswegen zur Polizei. Anhörung. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren später ein. Fast nebenbei erzählte ihm der Polizist an diesem Tag Ende Mai, dass Tankars Ex-Freundin ihren Sohn zur Adoption freigegeben haben soll. Was kommt nach dem toten Astronauten? Ein Leben in der Hölle? „Danach habe ich mich übergeben“, sagt Tankar und schüttelt den Kopf.

Zwei Jahre später bestätigt ein Beschluss des Amtsgerichtes Siegburg vom 6. April 2018, dass Hakan Tankar zu 99,9 Prozent der Vater des Kindes ist. Dass er die Vaterschaft anerkennt. Der Beschluss ist rechtskräftig. Seine Ex-Freundin stimmte dem bis heute nicht zu. Im Gegenteil: Sie gab an, während der Empfängniszeit mit weiteren Männern „geschlechtlich verkehrt zu haben“, so heißt es. Tankar zeigt auf das Blatt Papier – und schüttelt nicht mal mehr den Kopf. Beim Amtsgericht Siegburg heißt es, das Vaterschaftsfeststellungsverfahren sei nun abgeschlossen. Und man gehe davon aus, dass das eigentliche Adoptionsverfahren wohl jetzt in Griechenland laufe. Ja, so ist es wohl.

„Die Pflegeeltern bauen darauf, dass er irgendwann ausgeblutet ist“

Die Pflegeeltern, Christos und Styliani, leben offiziell in Maroussi/Attiki, einem Vorort von Athen. „Was sind das für Menschen?“, fragt Hakan Tankar. Er weiß nicht viel. Nur dass sie es sind, die die Hand seines Sohnes halten. Mehrere Male stand er vor ihrer Tür, weil das griechische Gericht ihm einen Besuch erlaubte. Einstweilige Anordnung. Die Tür blieb geschlossen. „Wir haben jedes Mal die Polizei gerufen und Strafanzeige gestellt“, sagt seine Anwältin. „Die ziehen das knallhart durch.“ Eleni Kougioumtzi aus Düsseldorf vertritt Tankar in diesem Fall. Sie erlebt, wie der junge Mann immer wieder einstecken muss. Nur sein Geld, das der Schausteller an den Kirmestagen verdient, kann er nicht mehr einstecken. Er gibt es aus, für Flüge und Anwaltskosten. „Ganz ehrlich, die Pflegeeltern bauen darauf, dass er irgendwann ausgeblutet ist“, sagt Eleni Kougioumtzi.

Vor zwei Jahren, als man den ersten Schritt machte und das Kind noch ein Baby war, wäre der Zeitpunkt wohl der richtige gewesen. „Damals waren sie noch nicht an das Kind gebunden“, sagt die Anwältin. Ihre Kollegin hätte während eines Gerichtstermins in Griechenland den Saal gestürmt und das laufende Adoptionsverfahren gestoppt. Der Anwalt der Pflegeeltern soll der Gegenpartei damals einen Blankoscheck angeboten haben, um die ganze Sache zu vergessen. Heute sieht die ganze Situation anders aus, heute geht es auch um die emotionale Verbindung zwischen Pflegefamilie und Kind – das weiß Tankar und das weiß auch seine Anwältin. Man würde den Pflegeeltern quasi etwas wegnehmen. Stellen Sie sich vor, Sie verlieren Ihr Kind…

Was darf eine Mutter? Was ist das Beste für ein Kind?

Fachanwälte für Familienrecht reagieren unterschiedlich auf diesen Fall – von „kann ja gar nicht sein“ bis „tragische Geschichte“. „Da wünsche ich dem Mann viel Erfolg“, sagt ein Anwalt aus Düsseldorf. Ein anderer aus Dortmund spricht von der „Macht des Faktischen“: Besser für den Sohn sei ja, in Griechenland zu bleiben. Dort habe er bis jetzt gelebt. Dort fange er an, Griechisch zu brabbeln. „Was ist das Beste für das Kind?“, fragt auch eine Anwältin aus Alsdorf. „Wenn es jetzt nach Deutschland kommt, dann kann es die Welt nicht mehr verstehen.“ Bevor es ganz entfremdet ist, sollte sich der Vater besser beeilen. Nicht so einfach zwischen zwei Rechtssystemen.

Dürfen unverheiratete Frauen mit ihren Kindern machen, was sie wollen? Beim Amtsgericht Siegburg heißt es: Bei unverheirateten Paaren liegt das Sorgerecht zum Zeitpunkt der Geburt grundsätzlich bei der Mutter. So ist es im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert.

Ein gemeinsames Sorgerecht wird dann beantragt? In der Regel.

Und wenn nicht? Dann liegt es bei der Mutter.

Sie kann das Kind zur Adoption freigeben? Wenn der Vater unbekannten Aufenthalts ist, dann ist die Einwilligung nicht erforderlich.

Wird das überprüft? Ja.

Wie? Dann fragt man die Mutter: Sind Sie sicher? Überlegen Sie noch mal…

Darf die Frau das Kind im Ausland zur Adoption freigeben? Sie meinen, ob das strafrechtlich sanktioniert werden könnte? Ich würde sagen nein.

Damit er irgendwie Ordnung bekommt in diesen Haufen und das ganze Chaos, das er seit zwei Jahren sein Leben nennt, hat er alles abgeheftet.

Damit er irgendwie Ordnung bekommt in diesen Haufen und das ganze Chaos, das er seit zwei Jahren sein Leben nennt, hat er alles abgeheftet. © Vanessa Trinkwald

Klar ist, dass die Geschichte in Deutschland wohl anders gelaufen wäre. Klar ist, dass Hakan Tankar kaum eine Möglichkeit hatte, schnell zu reagieren. Unklar ist, ob damals Geld geflossen ist. „Eine deutsche Frau fliegt nach Griechenland und entbindet in einer Privatklinik. Das schreit danach“, sagt Eleni Kougioumtzi. „Das passiert überall auf der Welt“, sagt die Anwältin aus Alsdorf. Paare mit einem unerfüllten Kinderwunsch seien zu allem fähig.

Nach dem Vaterschaftsfeststellungsverfahren, dem Anerkennungsverfahren und der einstweiligen Anordnung entscheide sich wohl alsbald, ob der Adoptionsantrag in Griechenland abgelehnt oder bestätigt wird. Es sei gut möglich, dass das Gericht schlussendlich zu ihren Gunsten entscheidet, sagt Tankars Anwältin. „Aber was nützt uns das, wenn die Pflegeeltern abgetaucht sind?“ Ihr Anwalt mache bis jetzt keine Angaben. „Es wird Zeit, dass der Richter mal Tacheles redet.“ Zur Not, sagt Eleni Kougioumtzi, wende man sich auch an einen griechischen TV-Sender.

Eine kleine Hand in seiner – aber da ist keine Hand

Und Tankar? Stehe allzeit bereit, für eine Eingewöhnungsphase nach Griechenland zu fliegen. „Ich bin doch der Vater“, sagt er. „Ich bin doch der Vater.“

Was hat er als solcher für Rechte? „Oh“, sagt die Anwältin aus Alsdorf. „Die Väter haben es in dieser Hinsicht schwer.“

Stellen Sie sich vor, Sie verlieren Ihr Kind. Sie freuen sich auf ein gemeinsames Leben. Die Vorstellung nimmt Form an, die Zukunft ist hell. Und dann verfällt sie zu Asche. Wie ein Astronaut, der in seiner Kapsel verbrennt.

Die Hand Ihres Kindes hält ein anderer. Die Hand von Gabriel. So nennt Hakan Tankar seinen Sohn.

Könnte er seine Geschichte zu Ende schreiben, schlenderte er mit Gabriel durch die Stadt.

Eine kleine Hand in seiner.

Aber da ist keine Hand.

Noch nicht mal ein Stift zwischen seinen Fingern, mit dem er das Ende aufschreiben könnte.