Das Wichtigste in Kürze:
- Kinderarzt Dr. Michael Gilbert nimmt derzeit nur Zugezogene und Neugeborene auf, da auch in Werne der Druck auf Kinderärzte groß ist.
- Die Nachfrage nach Kinderarztterminen ist hoch, unter anderem wegen steigender Vorsorgeuntersuchungen und der Versorgung geflüchteter Kinder.
- Die Folge: lange Wartezeiten für Patientinnen und Patienten
- Eine Bedarfsplanung weist den Kreis Unna offiziell als „überversorgt“ aus, was Dr. Gilberts Antrag auf einen weiteren Kassensitz erschwert.
- Verschiedene Probleme wie fehlende Studienplätze, erhöhter Arbeitsaufwand für Kinderärzte und mangelnde Nachbesetzung im ländlichen Bereich erschweren die Situation.
Noch bevor das Kind auf der Welt ist, bekommen Eltern immer wieder den dringenden Hinweis, sich am besten noch vor der Geburt um einen Kinderarzt zu kümmern. Denn spätestens der dritte Untersuchungstermin eines Kindes soll nach der Entlassung der Familie aus dem Krankenhaus in der vierten bis fünften Lebenswoche beim Kinderarzt erfolgen. Doch immer wieder berichten Kinderärzte von Aufnahmestopps und Engpässen. Etwa in Hamm oder in Dortmund.
Auch in Werne ist die Lage angespannt. Droht hier auch ein Aufnahmestopp für Kinder? Dr. Michael Gilbert ist einer von zwei Kinderärzten in der Lippestadt. Einen Aufnahmestopp gibt es in der Praxis nicht, aber eine Einschränkung: Denn der Arzt nimmt aktuell ausschließlich Zugezogene und Neugeborene aus Werne und den umliegenden Ortschaften wie Capelle oder Herbern auf, in denen es keinen eigenen Kinderarzt gibt. Rufen Personen aus Städten an, die selbst einen Kinderarzt haben, verweist Dr. Gilbert die Eltern an die dort ansässigen Ärzte.

Die Lage, die der Werner Kinderarzt beschreibt, ist angespannt: Immer mehr Vorsorgetermine sind pro Kind nötig, dazu gingen Kinder und Jugendliche immer länger zum Kinderarzt. „Was uns zum einen sicher freut, aber eben auch die Praxen voller macht“, sagt der Arzt. Hinzu kämen die Kinder geflüchteter Familien wie etwa aus der Ukraine, die ebenfalls versorgt werden müssen. „Eine Patientengruppe, die in den früheren Berechnungen noch gar keine Rolle gespielt hat“, sagt Dr. Gilbert.
Damit meint der Mediziner die sogenannte Bedarfsplanung. Diese besagt, wie viele Allgemeinmediziner oder Fachärzte wie Kinderärzte sich in welchem Kreis niederlassen dürfen. Und wie viele Stellen noch für welchen Kreis vorgesehen sind. Laut Kassenärztlicher Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) ist der Kreis Unna mit Stand 27. Mai 2024 mit 26,5 Kinderarzt-Stellen zu 110,5 Prozent versorgt. Das heißt „überversorgt“. Eine weitere Niederlassung ist entsprechend nicht möglich.
Nachbesserung nicht genug
„Ein Antrag von mir auf einen halben Kassensitz [...] wurde abgelehnt, da die Verhältniszahlen von Einwohnern/tätigen Kinderärzten in Schwerte, das auch zu unserem Verwaltungsbezirk gehört, noch ungünstiger waren und der halbe Sitz dorthin vergeben wurde“, erklärt Gilbert. Er hat nun einen neuen Antrag auf einen zusätzlichen Sitz zum Herbst bei der KVWL gestellt. „Vielleicht klappt es ja diesmal“, so seine Hoffnung.
Aber ist die Bedarfsplanung so überhaupt noch zeitgemäß? Festgelegt werden diese Kennzahlen, wie viele Einwohner je Arzt in einem Planungsbereich zu versorgen sind, durch den Gemeinsamen Bundesausschuss. Er ist das höchste Gremium im deutschen Gesundheitswesen. Dieses berücksichtigt die demografischen Entwicklungen, die Geschlechterverteilung und die Häufigkeit von Erkrankten im Verhältnis zu gesunden Menschen (Morbidität).
„Die Bedarfsplanungsrichtlinie wurde 2019 grundlegend reformiert und gerade bei den Kinderärzten deutlich an den gestiegenen Bedarf angepasst. Wir haben dadurch fast 50 zusätzliche Zulassungsmöglichkeiten allein in Westfalen-Lippe erhalten, viele dieser Sitze sind mittlerweile auch besetzt“, schreibt die KVWL auf Anfrage. Außerdem habe man allein in diesem Jahr zwei Millionen Euro in die pädiatrische Facharztweiterbildung investiert. Darüber hinaus „fördert die KVWL fast 60 angehende Kinderärztinnen und Kinderärzte, die in der Versorgung dringend benötigt werden“, heißt es. Doch offenbar reichen diese Bemühungen nicht aus, um unmittelbare Entlastung in den Kinderarztpraxen zu schaffen.
Wartezeiten teils lang
In der Praxis von Dr. Gilbert ist der hohe Bedarf an Terminen unmittelbar spürbar: „Es stimmt leider auch, dass die Wartezeiten für manche Untersuchungen und Vorsorgeuntersuchung sehr lang sind. Und da für die Vorsorgeuntersuchungen nur bestimmte Zeiträume möglich sind, passiert es durchaus, dass wir leider in dem Zeitfenster, das die Kassen vorgeben, eine Vorsorge nicht unterbekommen.“
Dr. Gilbert kritisiert auch die systemischen Engpässe, die zu der Versorgungsproblematik beitragen. Denn die Niederlassung für junge Ärztinnen und Ärzte sei offensichtlich nicht mehr so attraktiv. Wie also lässt sich das Problem lösen? „Ich weiß es auch nicht“, sagt Dr. Gilbert. „Die Erhöhung der Medizinstudienplätze, die Landarztquote sind sicher gute Ansätze, aber sie bringen nur langfristig Verbesserungen. Projekte, bei denen Kinderkrankenschwestern in Kitas eingesetzt werden, zeigen gute Erfolge und wären sicher eine Idee, die weiter verfolgt werden sollte. Familienhebammen für besonders belastete Familien sind ebenfalls ein guter Schritt in die richtige Richtung.“
Viele Stellschrauben
Die KVWL hingegen erklärt: „Der Beruf des Kinderarztes ist weiterhin attraktiv, das geht aus einer aktuellen Befragung bei Medizinstudierenden hervor. Etwa zehn Prozent von 7855 Medizinstudierenden streben diese Facharztqualifikation an, das ist nach der Inneren Medizin und der Allgemeinmedizin der drittbeste Wert.“
Gleichzeitig erklärt die Vereinigung jedoch, dass Studienplätze fehlten, dass immer mehr Vorsorgeuntersuchungen nötig seien, dass die Aufgaben von Ärztinnen und Ärzten immer umfangreicher würden und dass es insbesondere im ländlichen Bereich schwieriger sei, Arztsitze nachzubesetzen. Dafür sei nicht nur die Kooperationsbereitschaft von Ärzten in Sachen attraktive Praxismodelle gefragt.
Auch sogenannte weiche Faktoren wie die Infrastruktur, Kinderbetreuungsangebote oder Jobmöglichkeiten für den Partner seien wichtige Aspekte in der Wahl des Niederlassungsstandortes. In all diesen Punkten sei die Politik gefragt: Es brauche bessere Rahmenbedingungen. „Die Bundespolitik hat in den vergangenen Jahren viele Probleme ignoriert beziehungsweise verschlafen, der ambulante Sektor wurde und wird klar benachteiligt. Die KVWL fordert daher einen grundlegenden Kurswechsel der Politik, damit der ambulante Sektor gestärkt wird und die Niederlassung nicht weiter an Attraktivität verliert.“
Druck auf Eltern „immens“
Doch nicht nur im gesundheitlichen System sieht Dr. Gilbert die Probleme, auch im Druck auf die Familien. Häufig seien beide Elternteile berufstätig, viele seien alleinerziehend. Entsprechend müssten Kinder möglichst schnell wieder gesund werden. Der Druck sei „immens“, sagt der Mediziner. „Und viele Erkrankungen, bei denen in meiner Generation noch abgewartet und beobachtet wurde, führen heute sehr schnell zum Arzt.“
„Und was des Weiteren nicht von der Hand zu weisen ist, dass die Kinder mit funktionellen Beschwerden (immer wieder Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, diffuse Bauchschmerzen) massiv zugenommen haben. Die Gründe hierfür sind sicher vielfältig. Und um diesen Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden, bedarf es häufig Zeit“, erklärt der Arzt.
Die KVWL plädiert dafür, die bestehende Bedarfsplanung weiterzuentwickeln, statt sie abzuschaffen. Nur mit ihr könne die ambulante Versorgung weiterhin sichergestellt werden. Sie erklärt aber gleichzeitig: „[...] Wir werden auch keine perfekte Verteilung des ärztlichen Nachwuchses hinbekommen - auch nicht mit der besten Bedarfsplanung, denn jede Planung kann immer nur mit den vorhandenen beziehungsweise absehbar verfügbaren ärztlichen Ressourcen arbeiten.“ Und die hohe Arztdichte, die es heute noch gebe, werde man nicht halten können.
KVWL hilft bei Arztsuche
Die Terminservicestelle der KVWL unterstützt Bürgerinnen und Bürger unter der Tel. 116 117 bei der Suche nach einem Termin für die dauerhafte Behandlung bei Haus-, Kinder- und weiteren Fachärzten sowie Psychotherapeuten. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es sich bei dem vermittelten Termin nicht um einen Wunschtermin bei einem Wunscharzt handelt. Die TSS vermittelt Termine bei Ärzten, die über freie Kapazitäten verfügen. Ein übersichtliches Schema zum jeweils unterschiedlichen Ablauf der Terminvermittlung bei den genannten Arztgruppen finden Sie hier: www.kvwl.de/buerger/terminservice-stelle-tss