Erniedrigt und entblößt auf dem Marktplatz Das Schicksal der jüdischen Familie Marcus

Erniedrigt und entblößt auf dem Marktplatz: Das Schicksal der Marcus‘
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In der Reichspogromnacht (9. November 1938) spielten sich schreckliche Szenen in der Werner Innenstadt ab. Dies wird in dem Buch „Die Stadt Werne im Dritten Reich“ von Franz-Josef Schulte-Althoff eindrücklich geschildert. Nach dem Tod des Nazi-Diplomaten Ernst vom Rath in Paris, der durch einen Juden angegriffen worden war, nutzte das NS-Regime diesen Vorfall, um auch in Ahlen den Befehl zu erteilen, „Vergeltungsaktionen gegen das Eigentum der ansässigen Juden“ durchzuführen.

Die SS aus Werne war in Ahlen, um an einer Gedenkfeier der SS teilzunehmen. Bereits auf dem Weg zurück organisierten sich die Anhänger, sechs bis sieben Gruppen zu je zwei bis drei Männern, um die bekannten Adressen der jüdischen Familien in Werne aufzusuchen. „Vereinbart wurde dabei, dass die Juden aus ihren Wohnungen herausgeholt und zum Marktplatz gebracht werden sollten“, schreibt Schulte-Althoff in seinem Buch.

Die Personalkarte von Leo Marcus, die einen kurzzeitigen Wegzug des Sohnes aus Werne nachweist.
Die Personalkarte von Leo Marcus, die einen kurzzeitigen Wegzug des Sohnes aus Werne nachweist. © Stadtmuseum Werne

Der in der Stadt umher schwirrenden SS schlossen sich Menschen aus Häusern und Gaststätten an, die von den Gerüchten erfahren hatten, dass „eine Aktion gegen die Juden“ beginnen würde. „Zahlreiche Personen“, schreibt Schulte-Althoff, schlossen sich der SS an und griffen mit ihr die Räume und Mitglieder der jüdischen Familien an.

Auf dem Marktplatz wurden alle jüdischen Männer zusammengetrieben. Sie wurden zur Synagoge gebracht und dort aufgefordert, die Thora-Rolle zu bespucken. Eine Familie, die besonders brutal von der SS attackiert wurde, ist die Familie Marcus. Viehhändler Leo Marcus lag laut Schulte-Althoff seit 14 Tagen krank im Bett, als die SS vor seinem Haus „Juden hinaus“ rief. Die SS verschaffte sich mit Äxten Zutritt zum Haus, stürmte ins Schlafzimmer und schlug mit Gummiknüppeln, Stöcken und anderen Gegenständen auf ihn ein.

Leo Marcus verlor ein Auge

Gemeinsam mit seiner Mutter wurde Leo Marcus im Flur an die Wand gestellt. Hier wartete die Familie, bis die SS die gesamte Inneneinrichtung der Marcus‘ zerstört hatte. Barfuß und im Schlafanzug wurde Leo Marcus gezwungen, durch das zerstörte Fenster auf die Straße zu springen. Unter weiteren Schikanen wurde er zur Synagoge getrieben, wo er seine Religion verraten sollte. Was er nicht tat.

„Leo Marcus wurde dann zum Marktplatz getrieben, gezwungen dort einen Kopfstand zu machen, sich die Schlafanzughose auszuziehen und auf den Steinen herumzuwälzen, wobei er von den SS-Leuten und anderen Teilnehmern wahllos mit Stiefeln getreten wurde“, schreibt Schulte-Althoff. Daraufhin wurde er kurzzeitig inhaftiert. Augenzeugen berichteten damals, dass er durch die Schläge ein Auge verlor.

„Durch die Schläge mit ledernen Schulterriemen und einem Buchenscheit trug Leo Marcus schwere Verletzungen am Auge davon: ‚Risswunde am Unterlid des rechten Auges. Das Unterlid ist durchgerissen […] Die Risswunde am Auge wurde hier genäht.‘ So steht es im ärztlichen Bericht aus dem Christophorus-Krankenhaus vom 10.11.38. Trotz der Behandlung waren die Verletzungen des Auges so stark, dass es später entfernt werden musste“, heißt es auf der Internetseite Verwischte Spuren.

Gespräch auf offener Straße

„Über all diese Ereignisse war ich tief betroffen, mein Mann konnte dieses Vergehen ebenso wenig ertragen, doch aus Sorge bat er mich schließlich, das Fenster zu verlassen“, heißt es in dem Augenzeugenbericht. Das Leben war für die Juden in Werne danach nicht mehr dasselbe. In einem Bericht schilderte ein Augenzeuge, wie sich „Frau Amtsgerichtsrat Heitmeyer“ und Amalie Marcus etwa ein Jahr später auf der Straße begegneten. Weil Gespräche zwischen Juden und „Ariern“ aber auf Strafe untersagt waren, versuchte Amalie Marcus „mit gesenktem Kopf an ihr vorbeizugehen“.

Entsetzt rief Frau Heitmeyer: „Frau Markus, Sie bleiben stehen, ich will mit Ihnen sprechen.“ Obwohl Frau Marcus ihre Angst vor dem Gespräch erläuterte, unterhielten sich beide auf offener Straße. „Trotz der vielen Zeugen in der belebten Innenstadt hatte das Gespräch keine weiteren Folgen“, schilderte der Augenzeuge in dem Buch Werne 1933 bis 1945.

In einem Bericht im Westfälischen Anzeiger (WA) vom 10. November 2015 heißt es, dass Leo Marcus nach den Gräueltaten gegen seine Familie über die Niederlande nach England flüchtete, um dort eine Existenz aufzubauen und Mutter und Witwe Amalie Viktoria, Frau Anni und Sohn Hans Gustav später nachzuholen. Doch dazu kam es nicht mehr.

Nach der Pogromnacht versuchten Leo Marcus und seine Frau Anni laut Kröger, das Wohnhaus seiner Mutter Amalie an der Lünener Straße 14 zu verkaufen. Ebenso wie Hausrat und Möbel. Von massiven Steuerabgaben und gedrückten Immobilienverkaufspreisen geplagt, hielt sich die Familie laut Kröger mit Bargeld über Wasser. Am 13. August 1939 beantragte Leo Marcus die Ausreise nach England.

Rechts ist das Haus der Marcus mit dem runden Tor gut sichtbar.
Rechts ist das Haus der Marcus mit dem runden Tor gut sichtbar. © Stadtmuseum Werne

Kröger: „Wernes Bürgermeister hatte am 22. Juni 1939 die Gestapo, den Zoll und die Finanzbehörden wegen des Verdachts der Steuer- und Kapitalflucht eingeschaltet. Leo und Marianne Marcus planten die Auswanderung nach Amerika. ‚Verdachtsgründe: Ausstellung des Reisepasses‘“. Nach der Ausreise von Leo Marcus nach England zogen Anni und Sohn Hans Gustav nach Dortmund, wo die Familie zuvor bereits einmal gelebt und vergeblich versucht hatte, sich eine Existenz aufzubauen.

Von hier wurden Anni und Sohn Hans Gustav am 27. Januar 1943 „evakuiert“, schreibt Kröger. Am 2. November 1943 wurde Hans Gustav in einer sogenannten „Kinderaktion“ von seiner Mutter getrennt. Was mit ihm geschah, ist bis heute unklar. Anni Marcus erklärte nach Kriegsende, dass sie drei Jahre im Konzentrationslager in Riga inhaftiert war, bevor sie nach Polen zur Zwangsarbeit gelangte. Hier wurde sie nach eigenen Aussagen von den Russen befreit, recherchierte Kröger damals. Sie gab nie auf, nach ihrem Sohn zu suchen und kehrte dafür auch nach Werne zurück.

Anni stirbt in Psychiatrie

Gezeichnet von den harten Jahren, wurde Anni Marcus in die Psychiatrie in Dortmund-Aplerbeck eingewiesen, wo sie am 12. Februar 1949 starb. Aus Akten des Landesarchivs Münster geht hervor, dass sie an einem „Verwirrtheitszustand mit Hirnlähmung bei manisch depressivem Irresein“ gelitten habe. Den Recherchen von Bernd Kröger zufolge wurde Mutter Amalie Marcus Anfang 1942 in eine Wohnung an der Synagoge eingewiesen, bevor sie am 21. Januar von der Lüdinghauser Polizei festgenommen wurde. Am Folgetag wurde sie nach Minsk deportiert. Vom Ghettogericht Theresienstadt wurde sie zum 30. März 1943 als verstorben registriert. Im Gedenkbuch des Bundesarchivs steht der 17. März als Todestag.

Leo Marcus stellte Entschädigungsanträge, erlangte zeitweise unter anderem sein Elternhaus in der Bonenstraße 19 zurück. Laut Kröger hatte Leo Marcus mehrere Anträge zur finanziellen Entschädigung der erlittenen Gräueltaten gestellt, deren Ausgang er jedoch nicht mehr erlebte. Seine Witwe Gerta wollte diese juristischen Prozesse jedoch nicht fortführen, und zog nach seinem Tod „als Alleinerbin die Anträge zurück“.

„Drei Monate vor seinem Tod erlebte Leo Marcus aber noch, wie die Bundesrepublik posthum die Wiedergutmachung an Anni Marcus mit Bescheid vom 31. Mai 1958 bemessen hat. Wegen ‚Schaden an der Freiheit‘ durch die KZ-Haft: 6450 DMark für ein Martyrium, das sie in den Wahnsinn trieb“, schrieb Kröger damals.