Der Werner Marktplatz verwandelte sich schon beim Kreistreffen der NSDAP im Mai 1938 in eine Nazi-Arena. © Christel Evelt (A)

Pogromnacht in Werne

Diese Werner Täter wurden verurteilt für ihre Taten in der Pogromnacht

Es war eine Nacht voller Grauen: die Reichspogromnacht vor 81 Jahren. Viele Werner waren an den Taten beteiligt, neun von ihnen wurden letztlich verurteilt - und das sind ihre Geschichten.

Werne

, 10.11.2022 / Lesedauer: 6 min

Es ist ein Anblick, wie ihn sich niemand vorstellen mag. Der Jude Louis Gumpert liegt mit schweren Verletzungen in einer Gasse an der Bonenstraße. Hilflos, regungslos. Wenige Sekunden vorher ist er vom Dach gefallen - wahrscheinlich auf der verzweifelten Flucht vor Nazis, die in der Pogromnacht auf der Jagd nach ihm waren. Seine Angst ist nun Verzweiflung gewichen.

Der Mann liegt regungslos auf dem Boden und kämpft um sein Leben - doch den damals 42-jährigen Polizei-Hauptkommissar Johannes Kretschmar hält das nicht ab, mit seiner Tyrannei fortzusetzen. „Lasst den Juden verrecken. Werft auch mal so ein Judenweib herunter“, ruft er seinen Kameraden nach oben, die gerade die Wohnung des Juden gestürmt hatten, bevor er sich wieder dem Verletzten widmet.

Häme gegen schwer verletzten Juden

„Wer sind Sie? Wie kommen Sie hierher? Wenn Sie nicht sagen, wer Sie sind, kann ich Ihnen auch nicht helfen“ wirft Kretschmar Gumpert hämisch entgegen, der noch immer regungslos am Boden liegt. Kurz zuvor hatte der „Rudelführer“, wie er später im Gerichtsurteil umschrieben wird, die knapp 100-köpfige wütende Meute an der Bonenstraße angestachelt.

„Nimm die Hände aus der Tasche und greif dir einen Stein“, fordert Kretschmar einen Werner auf. Er zählt an und die wütende Meute schmeißt auf sein Kommando Steine auf Gumperts Haus - wieder und wieder. Es klirrt überall, das zerbrochene Glas der Fenster liegt auf der Straße verstreut und die skrupellose Meute tobt.

Gemeinsam mit Victor Veltmann, Gustav Wienke und Felix Johann Wilhelm Knallmann stürmt Kretschmar anschließend die Wohnung des Juden. Es klirrt wieder, lärmt und mehrere Gegenstände fliegen aus dem Fenster.

Von Schuld oder schlechtem Gewissen ist keine Spur, die Gruppe hat nur ein Ziel vor Augen: Zerstörung. Daran ändert auch nichts, dass Gumpert kurz danach vom Dach auf das Kopfsteinpflaster stürzt. Wieso, das ist hingegen nicht klar.

Doch in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 interessiert das die wenigsten - und manche von ihnen bekommen das auch gar nicht richtig mit. So wie Kneilmann.

Er kann beim späteren Verhör gar nicht sagen, ob er dabei war oder nicht. Er ist betrunken, hat zu dieser Zeit Alkoholprobleme und kann sich deshalb gar nicht an die Tatnacht erinnern. Doch vor einer Strafe soll ihn das später nicht schützen.

Die Polizei hat in der Pogromnacht nichts unternommen

Doch in der Pogromnacht selbst können die Täter tun, was sie wollen. Die Polizei greift nicht ein. Woran das liegt? Das Vorgehen in der Werner Pogromnacht ist von vorne bis hinten durchgeplant. Los geht alles bei einer SS-Veranstaltung in Ahlen am 9. November 1938. In Bussen kamen die Mitglieder an, um die Vereidigung der neuen Mitglieder mitzuerleben.

Den ganzen Tag verbrachten die SS-Mitglieder dort - unter ihnen auch Victor Feldmann, den wir bereits kennen. Aber auch die Werner Wilhelm Freisfeld, Heinrich Kreiten, Hermann Möllers, Wilhelm Luig und K.* (dessen Namen wir nicht nennen dürfen, da er zum jetzigen Zeitpunkt noch jünger als 100 Jahre ist und daher gesetzlich geschützt wird).

Die Planungen für die Aktionen starteten im Bus

Den ganzen Tag haben die Werner dort mit anderen SS-Männern verbracht, ehe sie um 23 Uhr wieder in ihrer Werner Heimat ankamen. Doch schon auf der Busfahrt zurück wurden sie darüber aufgeklärt, dass ihr Tag noch lange nicht endet. Sie erfahren, dass eine Aktion gegen Juden stattfinden soll - und sie sich beteiligen sollen.

Doch bevor es losgeht, machen es sich die Männer noch in der Gastwirtschaft von Gustav Wienke gemütlich - dem Mann, der später in der Nacht ständiger Begleiter von Johannes Kretschmar werden sollte.

SS-Ausbilder nutzt seine Kontakte zur Polizei

Während sich die Männer auf die Nacht einstimmen, regelt Heinrich Paul alles, was es in Werne zu regeln gibt, damit die Aktion gegen Juden nach Plan abläuft. Der SS-Ausbilder ist Polizeibeamter und hat damit auch gute Verbindungen zu anderen Polizisten. So führt ihn sein Weg zur Polizeistation, um den Dienst führenden Beamten vorzuwarnen, was passiert - und einen Freifahrtschein für jegliche Taten zu besorgen.

Die Polizei greift in dieser Nacht nicht gegen die Nazis ein - nur gegen Juden, für die sie Zellen bereitstellt. Alle haftfähigen Juden, so will es Paul, sollen verhaftet werden. Und genau das passiert im Laufe der Nacht auch. Doch Pauls Pläne für die Nacht sind damit noch nicht abgeschlossen. Er teilt die Werner in Gruppen ein, die unterschiedliche jüdische Geschäfte und Wohnungen in dieser Nacht aufsuchen sollen.

So sah die ehemalige Salomon-Fleischerei an der Burgstraße in den 30er-Jahren aus. Auch sie wurde in der Pogromnacht zerstört. © Förderverein Stadtmuseum Werne

Der Weg von Wilhelm Freisfeld, Heinrich Kreiten und Hermann Möller führt in dieser Nacht zur Wohnung des Juden Leo Marcus an der Lünerstraße. Dabei wollte Möllers lange Zeit gar nicht in die Partei eintreten. Der Vater zweier Kinder war seit 1930 arbeitslos und bekam keinen Job, weil er den Parteieintritt verweigerte.

Die Verzweiflung trieb ihn deshalb vier Jahre später in die Partei - und das, obwohl er laut eigener Aussage kein Problem mit Juden hatte. Er habe sogar privat Zeit mit dem Juden Salomon verbracht, der mit ihm in einem Kegelverein war. Doch von schrecklichen Taten sollte ihn das in der Pogromnacht nicht abhalten.

Gruppenführer Freisfeld war bei Juden berüchtigt

Die Führung der Gruppe übernimmt an diesem Abend Freisfeld, der von den Werner Juden von 1933 bis 1939 besonders gefürchtet war, sagt Marcus bei einer späteren Zeugenaussage. „Aufgrund seiner Einstellung mir und meinen anderen Glaubensgenossen gegenüber“ sei er Marcus als besonders aggressiv aufgefallen.

Handgreiflich wurde Freisfeld bis zur Pogromnacht nicht - doch dann steht er plötzlich mit Kreiten und Möllers mit einer Axt vor Marcus‘ Schlafzimmer. Vorher hatten sie bereits die Fenster eingeschlagen und sind ins Haus eingedrungen, „Da ist er“, ruft die Gruppe, als sie Marcus und seine Frau im Bett liegend finden.

Schläge gegen wehrlosen Juden mit Gummiknüppeln und Stöckern

Der damals 39-jährige Jude kann seinen Augen nicht trauen, ist in einer Schockstarre und steht den Eindringlingen nicht schnell genug auf. Skrupellos schlagen sie mit Gummiknüppeln, Stöcken und anderen Gegenständen auf den hilflosen Mann ein. Barfuß muss Marcus durch das zerschlagene Fenster auf die Straße springen und durch die Glasscherben laufen.

Dabei treiben ihn seine Peiniger durch die Stadt. „Ich bin ein Lump, ich bin ein Betrüger. Ich habe das deutsche Volk betrogen, ich bin ein Rassenschänder“, soll er rufen, doch er schweigt und wird in die Synagoge getrieben, die von den Nazis an diesem Tag ebenfalls zerstört wird.

Brutale Gewalt verändert das Leben des Juden Marcus

Doch damit nicht genug, die Nazis drängen Marcus von dort wieder zurück auf den Marktplatz. Er soll sich die Hose ausziehen und sich auf dem Boden herumwälzen. Um sein Leben zu retten tut Marcus alles, was ihm seine Peiniger sagen. Doch die haben noch lange nicht genug. Während sich Marcus über den Marktplatz wälzt, schlagen die Nazis wieder auf ihn ein. So sehr und so skrupellos, dass er in dieser Nacht ein Auge verliert.

Gegen Mitternacht ebbt die Aktion der Nazis in Werne ab. Die Juden, die es noch konnten, haben sich in ihren Häusern verschanzt und zittern, dass ihre Peiniger nicht noch weitere Pläne haben. Doch die Lust der Nazis auf Gewalt ist noch immer nicht gestillt.

Nazis zogen weiter nach Drensteinfurt und Herbern

Einige von ihnen machen sich auf den Weg in die Nachbarstädte Drensteinfurt und Herbern. Einer von ihnen ist der damals 25-jährige Ewald Werkmeister. Er hielt sich an der Werner Polizeiwache bereit, um SS-Männer von Werne in die anderen Städte zu fahren. Doch wo immer er ankam, waren die Ausschreitungen dort schon vorbei.

Zittern mussten die Juden trotzdem noch, denn auch am Morgen nach der Pogromnacht machten die Nazis keinen Halt und stürmten weitere Geschäfte und zerstörten sie - genau wie das Leben der vielen Werner Juden.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist erstmals im November 2018 auf unserem Online-Portal erschienen.

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