„Die Jugendlichen sind immer häufiger überfordert“ So aggressiv ist der Nachwuchs in Werne

„Jugendliche sind immer häufiger überfordert und reagieren aggressiv“
Lesezeit

Inzwischen ist es gut drei Monate her, dass der Fall der getöteten Luise aus Freudenberg bundesweit für Aufsehen und Entsetzen sorgte. Zwei gleichaltrige Mädchen sollen die Zwölfjährige brutal niedergestochen haben. Nicht nur eine Debatte um das Alter der Strafmündigkeit bei Jugendlichen entbrannte daraus. Es wurde in der Folge auch darüber diskutiert, wie die Mädchen zu einer solchen Tat fähig waren. Und ob Kinder und Jugendliche allgemein immer aggressiver und gewalttätiger werden.

Wir haben uns diese Frage für Werne gestellt und dafür verschiedene Faktoren betrachtet.

Fragt man Maik Rolefs, Leiter des Werner Jugendamtes, wie es um die Aggressivität und Gewalttätigkeit von in Werne lebenden Kindern und Jugendlichen bestellt ist, verweist er auf einen kürzlich im Fachmagazin der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen (AJS) veröffentlichten Beitrag. Unter dem Titel „Gesellschaftlich problematisch oder medial-öffentlich dramatisiert?“ beschreibt Thomas A. Fischer, Professor für Soziale Arbeit an der Internationalen Hochschule Dortmund, dass man, wenn man wirklich aussagekräftige Zahlen zu Jugendkriminalität haben wolle, die sogenannte Tatverdächtigenbelastungszahl (TVBZ) betrachten müsse. Sie beschreibt den Anteil der Tatverdächtigen einer Altersgruppe auf 100.000 Einwohner. Seit dem Jahr 2008 sei hier ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. „Das ist auch in Werne so“, sagt Jugendamtsleiter Maik Rolefs. „Wir haben eigentlich keine besonderen Probleme mit gewaltbereiten oder aggressiven Kindern und Jugendlichen.“ Auf die Frage, woran das liege, weist er darauf hin, dass den Heranwachsenden Räume geschaffen werden, an denen sie sich aufhalten und ausleben können. So wie der Bikepark, für den es vor einigen Tagen den Spatenstich gab, einer werden wird. „Man muss sie an Kultur heranführen und sie beteiligen“, sagt er. Als Beispiel dafür nennt er den Kinder- und Jugendförderplan an dessen Erarbeitung Anfang kommenden Jahres die Stadt Werne Kinder und Jugendliche „umfassend beteiligen“ möchte. So könne es gelingen Kinder zu beschäftigen und von Gewalttaten und Aggressionen fernzuhalten.

Auch die Zahlen aus der Kriminalitätsstatistik des Kreises Unna für Werne sprechen für ein eher friedliches Bild: Während die Zahl der Straftaten bei Kindern zwischen acht und 14 Jahren leicht zugenommen hat, ist sie bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren leicht rückläufig. 2022 wurden 22 Straftaten bei Kindern unter 14 Jahren registriert. 2019 waren es noch 19. Davon fiel eine in den Bereich der Körperverletzung (2019: 5) und fünf in den Bereich der Straßenkriminalität (2019: 1). Bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren wurden 2022 insgesamt 72 Straftaten registriert; im Vergleich zu 2019 drei weniger. Davon fielen elf in den Bereich der Körperverletzungen (2019: 18). Die Zahl der registrierten Fälle von Straßenkriminalität ist mit 15 gleich geblieben.

Maik Rolefs ist Leiter des Jugendamts der Stadt Werne.
Maik Rolefs ist Leiter des Jugendamts der Stadt Werne. © Jörg Heckenkamp

Ob sich das Verhalten der Kinder und Jugendlichen im Zusammenhang mit der Pandemie verändert hat, könne nicht festgestellt werden, sagt Bernd Pentrop, Sprecher der Polizei im Kreis Unna: „Rückschlüsse auf die Pandemie können wir aus diesen Zahlen nicht ableiten.“ Außerdem sagt er: „Jedes Gewaltdelikt ist natürlich eines zu viel. Aber wir bewegen uns in Werne auf einem sehr niedrigen Niveau.“

Die Tatverdächtigenbelastungszahl (s.o.) gibt die öffentlich verfügbare Kriminalitätsstatistik nicht her. Ebenso wenig wie jüngere Zahlen für das laufende Nach-Pandemiejahr 2023. Oft befinden sich die von der Polizei aufgenommenen Fälle in noch laufenden Verfahren.

Thomas Kißmann, Geschäftsführer der Jugendhilfe Werne und pädagogischer Leiter, findet hingegen deutliche Worte. Zum April dieses Jahres hatte der Jugendhilfeträger den Vertrag mit den Jugendämtern im Kreis Unna für ihre Schutzstelle für 13- bis 18-Jährige gekündigt. Mehr als ein Vierteljahrhundert hat die Jugendhilfe Werne gefährdete Kinder und Jugendliche, die frisch in Obhut genommen worden waren, in dieser Einrichtung aufgenommen. Einer der Gründe für die Kündigung: höchst aggressive Jugendliche. „Wir konnten diese Situationen nicht weiterlaufen lassen“, hatte Katharina Böckenholt von der Jugendhilfe in diesem Zusammenhang gesagt. Thomas Kißmann meint: „Dass die Jugendlichen vermehrt aggressiv geworden sind, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ein weiterer Grund für die Kündigung war, dass die Problematiken der Kinder und Jugendlichen immer komplexer werden, und so das bisherige Konzept für unsere Schutzstelle nicht mehr griff.“ Zurzeit gibt es eine Übergangslösung und voraussichtlich ab Juli auch wieder eine offizielle Schutzstelle – allerdings unabhängig von den Jugendämtern.

In Werne entsteht ein Bikepark.
In Werne entsteht ein Bikepark. © Johanna Wiening

Was die Gewaltbereitbereitschaft angeht, so reagieren Heranwachsende in Kißmanns Augen dann aggressiv, wenn sie überfordert sind. „Die Komplexität der Fälle, die wir betreuen, ist massiv angestiegen und so passiert das immer häufiger. Außerdem zeigen die Jugendlichen immer häufiger psychische Auffälligkeiten.“

Der uneingeschränkte Zugang vieler Kinder und Jugendlicher ins Internet und in Soziale Medien tue ihr Übriges. „Die freie Zugänglichkeit zu gewalttätigen oder sexuellen Inhalten, sorgt dafür, dass ihnen jede Orientierung dafür genommen wird, was ein adäquates Verhalten anderen gegenüber ist.“

Und auch die Pandemie habe deutliche Spuren hinterlassen: „Vor allen Dingen hatte sie intraphysische Auswirkungen“, sagt Kißmann. „Sich miteinander auseinanderzusetzen, sich anzupassen, Wege im Umgang miteinander zu finden, ist so wichtig. Wer alleine vor dem Bildschirm sitzt, verpasst das.“